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PRESSE/982: Wie entsteht GEMEINSCHAFT in alltäglichen LEBEN? (Buddhismus aktuell)


Buddhismus aktuell, Ausgabe 4/2013
Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union

Wie entsteht GEMEINSCHAFT in alltäglichen LEBEN?

von Gabi Bott



Es ist Ende November. Ungefähr 70 Menschen stehen im Kreis, halten sich an den Händen und singen: "One by one, everyone comes to remember, we are healing the world, one heart at the time." Die Stimmung ist gut, und ich unterstelle mal, dass ALLE in diesem Moment ein Gemeinschaftsgefühl haben. Wir sind im Ökodorf Sieben Linden. Gerade haben wir in unserer Gemeinschaft eine Woche miteinander erlebt, in der wir uns, von externer Supervision begleitet, dem emotionalen Raum gewidmet haben. Es ist die längste gemeinsam verbrachte Zeit im Jahr und dient der Klärung von inneren Themen und Konflikten in unserer aus 140 Menschen bestehenden Gemeinschaft. Alle, die können, nehmen daran teil.


Die Sehnsucht nach Gemeinschaft

Nach einer solchen Intensivzeit ist Gemeinschaft wieder spürbar. Was ist das für ein Gefühl? Warum verflüchtigt es sich immer wieder? Was ist überhaupt Gemeinschaft? Viele Menschen suchen sie, sehnen sich nach ihr. In gewissem Sinne ist Gemeinschaft etwas Archaisches, etwas Uraltes, in Stammeskulturen war sie überlebensnotwendig. Vereinzelung, wie sie sich in unserer Gesellschaft immer häufiger zeigt, ist in der Evolutionsgeschichte ein relativ neues Phänomen. In unserer Zeit ist es nicht mehr überlebensnotwendig, in Stämmen oder Gemeinschaften zusammenzuleben. Oder doch? Denn die Sehnsucht nach Gemeinschaft existiert weiter. Es ist eine Sehnsucht, gesehen zu werden, mit all meinen Stärken, meinen Schwächen, meinen Gefühlen und Sehnsüchten, und einfach so akzeptiert und angenommen zu werden, wie ich bin. Es ist auch eine Sehnsucht, gebraucht zu werden, mit den Fähigkeiten, die ich in diesem Leben mitbekommen habe. Es ist eine Sehnsucht, die Lebendigkeit und Intensität des Lebens auszukosten und den eigenen Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Dabei geht es in erster Linie um diesen Selbstausdruck, damit jede Person auch gehört und gesehen werden kann, weniger darum, ob die geäußerten Bedürfnisse auch befriedigt werden. Gemeinschaft entsteht nicht von selbst, sondern wenn Menschen sich mit Offenheit begegnen, sich Vertrauen entgegenbringen, wenn Andersartigkeit wertgeschätzt wird und eine innere Verbundenheit spürbar ist.


Wertschätzung von Verschiedenheit

Eine solche Gemeinschaft der "Einheit in der Vielfalt" geht über das "Verliebtsein" hinaus, mit der alle Beziehungen, aber auch alle Gemeinschaften anfangen. Fast immer folgt einer Phase der Euphorie die Ernüchterung, das Erkennen, dass das gemeinschaftliche Leben doch nicht so ist, wie ich es mir vorgestellt und gewünscht habe. Die meisten von uns meinen dann, die anderen seien "schuld" daran, dass der Traum geplatzt ist. Vorwürfe und Konflikte sind oft Ausdruck nicht erfüllter Visionen. Die Erkenntnis, dass ich es bin, der oder die die eigene Haltung verändern kann und muss, ist der erste Schritt, um zu einer Achtung und Wertschätzung unserer Verschiedenheit zu gelangen. Wenn ich es schaffe, meine Vorstellungen auszudrücken, aber nicht der Erwartung verhaftet bin, dass sie auch so akzeptiert und umgesetzt werden, kann ich an dem, was mir begegnet, wachsen (einer der Leitsätze unserer Gemeinschaft). Dieses Wachsen lässt mich freier werden, freier von der Anhaftung an Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, lässt mich mehr bei dem sein, wie es im Moment ist. Etwas so zu akzeptieren, wie es ist, braucht einen wachen Geist. Ich muss immer wieder die Entscheidung treffen, wie ich mich wo einbringe oder eben auch nicht, und genügend Vertrauen aufbringen, wenn andere entscheiden.

Und ich brauche einen langen Atem, ein Dranbleiben, auch dann, wenn es wieder mal Chaos gibt, Auseinandersetzungen, gegenseitige Verletzungen und Ratlosigkeit. Wenn sich Ergebnisse und Entscheidungen für uns als Gemeinschaft im Fluss des Lebens offenbaren, dann entwickeln wir uns von einer Pseudogemeinschaft zu einer erwachsenen Gemeinschaft, die in Verbundenheit und Wertschätzung zusammenlebt. Das heißt aber auch, dass wir immer wieder in Chaosphasen geraten, doch die Verknotungen können sich auf dem Boden wechselseitigen Vertrauens, das im Zusammen-leben einer erwachsenen Gemeinschaft wächst, schneller lösen.

Die Grundlage, um in Gemeinschaft zu leben, bildet die eigene Wahrnehmung, die Selbsterkundung. Je besser ich mich selbst kenne, um meine Stärken und Schwächen weiß, um meine Empfindlichkeiten und Verletzungen, je mehr Mut und Vertrauen ich habe, desto mehr werde ich mich in meiner Gemeinschaft zeigen können. Die gegenseitige Transparenz schafft wiederum Vertrauen und ein Gefühl von Verbundenheit. Für ein gemeinschaftliches Leben ist es essenziell, dass sich die Einzelnen öffnen und Möglichkeiten finden, ihre Gefühle und Emotionen sichtbar und fühlbar werden zu lassen. Nur dann können wir Argumente wirklich verstehen, weil wir sie empathisch nachempfinden können. Dieses Sich-einander-Zeigen braucht Pflege und Räume; als Gemeinschaft müssen wir uns Zeit für diese Prozesse nehmen.


Gemeinschaftlich leben ist an keinen Ort gebunden

Neben den Gemeinschaften, die zusammen an einem Ort leben, gibt es auch Gemeinschaften die für eine gewisse Zeit zusammenkommen, wie zum Beispiel bei der Konferenz im Juni mit meiner Lehrerin Joanna Macy (siehe auch S. 12 [der Printausgabe]). Menschen treffen sich für ein paar Tage mit einer bestimmten Absicht. In diesem Fall ging es darum, die Tiefenökologie näher kennenzulernen und sich darin zu üben. Das Gemeinschaftsgefühl entstand dort durch das Teilen von Themen wie Dankbarkeit, die ausgesprochen wird, Schmerz, der gezeigt wird, und Standortwechsel, der sich vollzieht. Dadurch kann sich der Horizont erweitern und Energie frei werden, die dann für ein Handeln im eigenen Alltag zur Verfügung steht. So entsteht über die eigene Familie oder Gemeinschaft hinaus ein Gefühl, WeggefährtInnen zu treffen, nicht allein zu sein, sich verstanden zu fühlen und ähnliche Gefühle bei anderen wahrzunehmen. Gemeinschaften auf Zeit können für das eigene Leben sehr unterstützend sein.

Gemeinschaftlich leben ist an keinen Ort gebunden, es ist eine innere Haltung, eine Haltung der Offenheit für meine Mitmenschen, Mitkreaturen und überhaupt für alles, was lebt. Alles ist mit allem verbunden und das Netz des Lebens schließt alles mit ein. Gemeinschaftsleben lässt sich nicht auf die organisierten Gemeinschaftsprojekte beschränken, es ist das Bindemittel allen gesellschaftlichen Lebens. Die Ausweitung des Gemeinschaftsgedankens auf die gesamte Gesellschaft und auf die Kooperation mit der Erde als Lebewesen ist die Vision eines friedlichen Miteinanders.

Als die ersten Astronauten bei ihrem Flug zum Mond Fotos zur Erde schickten, auf denen die Erde als blau-weißer Planet in der Weite des Alls zu sehen war, vermittelte dies der Menschheit ein gänzlich neues Bild der Erde: Für viele Menschen, nicht nur für die Astronauten änderte sich dadurch ihr Verhältnis zur Erde grundlegend. Der US-amerikanische Astronaut Edgar Mitchell sagte: "Dir wird klar, auf jenem kleinen, blau-weißen Ding befindet sich all das, was dir etwas bedeutet: alles, was es gibt an Geschichte und Musik, Dichtung und Kunst, Tod, Geburt und Liebe, Tränen, Freuden, Spielen - alles auf der winzigen Kugel dort in der Ferne ... Du erkennst, dass du ein Stück von diesem Gesamtleben bist, dass du dazugehörst ... Und bist du wieder zurück, siehst du die Welt ganz anders. Ein solches Erlebnis verändert dein Verhältnis zur Erde und zu all den Formen von Leben auf ihr ... Jeder kommt mit dem Gefühl zurück, nicht mehr Bürger eines bestimmten Landes zu sein - sondern Erden-Bürger."

Wir sprechen heute von einer globalen Gemeinschaft, doch in der Praxis sind wir noch weit von einem globalen Miteinander entfernt, bei dem Transparenz und Offenheit gelebt werden und Herz und Verstand zusammenarbeiten, sodass ein Handeln aus dem Herzen entsteht.

Je mehr die Wachstumsgesellschaft den Konsumdruck erhöht, desto mehr wächst auch der Wunsch nach Alternativen. In den letzten Jahren stieg die Zahl der Gemeinschaftsgründungen stark an, von Projekten für z. B. generationenübergreifendes Wohnen bis hin zu solchen mit spiritueller, ökologischer oder politischer Ausrichtung. Dabei sind wir stets vor die Aufgabe gestellt, uns in Achtsamkeit, Toleranz und Mitgefühl zu üben, für uns selbst und andere Verantwortung zu übernehmen und nicht auf Kosten von anderen Gemeinschaftsmitgliedern zu leben. Das gilt für lokale, temporäre wie auch für unsere globale Gemeinschaft.

Zu erkennen gilt, "dass für alle genug da ist, nur nicht genug für unsere Gier" (Gandhi). Wenn die Geistesgifte Gier, Hass und Ignoranz vorherrschen, hat der Geist der Gemeinschaft keine Chance. Zum Glück gibt es für uns zu dieser Erkenntnis vielfältige Zugänge; wir müssen dafür nicht erst zum Mond fliegen. Diese Zugänge sind so vielfältig und individuell wie die Menschen: Sie eröffnen sich für uns: alleine während einer Meditation oder bei einer Wanderung, in einer Gruppe von Menschen, während einer Feier, einer Demonstration oder Diskussion und so weiter. Wichtig ist, die Verbundenheit wirklich zu spüren, zu sich selbst, zu anderen Lebewesen und zu unserer Erde und gleichzeitig zu verstehen - mit Kopf und Herz -, dass ich Teil eines größeren Ganzen bin und in dieser Weltgemeinschaft alles, was ich tue (und alles, was ich nicht tue), Einfluss auf das Gesamtsystem hat. In diesem Sinne kommt es auf jede Zelle an - was sie gibt und was sie nimmt, wie mutig sie sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzt, wie viel Mitgefühl und Liebe von ihr ausgeht und wie nachhaltig sie handelt (für nachkommende Generationen).


Der kommende Buddha ist eine Gemeinschaft

Viele von uns kennen die unterstützende Kraft einer Sangha, einer Gemeinschaft, möglicherweise einer temporären, in der sich die WeggefährtInnen mit der Absicht auf den Weg gemacht haben, aufzuwachen und Achtsamkeit dem Leben gegenüber im Alltag zu praktizieren.

Der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh spricht davon, dass der kommende Buddha, also Maitreya, kein einzelner Buddha, sondern ein kollektiver sein könnte. "Es ist möglich, dass der nächste Buddha keine individuelle Form annimmt. Vielleicht hat er die Form einer Sangha, einer Gemeinschaft, die Verstehen und liebevolle Zuwendung übt, einer Sangha, welche die Kunst des achtsamen Lebens praktiziert." Um diesen Gedanken weiterzudenken, könnten wir auch sagen, der kommende Buddha ist nicht eine, sondern er ist viele Gemeinschaften, ist ein kollektives, weltumspannendes Gemeinschaftsbewusstsein. Dafür braucht es sowohl alltäglich gelebte und lokale Gemeinschaften als auch eine spirituelle und politische Öffnung zur Welt. Beides ergänzt sich: Die globale Verbundenheit braucht Übungsräume im realen Leben, die praktischen Gemeinschaften brauchen eine innere Ausrichtung.

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Quelle:
Buddhismus aktuell, Ausgabe 4/2013, S. 22-25
Herausgeberin: Deutsche Buddhistische Union (DBU)
Buddhistische Religionsgemeinschaft e.V.
www.dharma.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2014