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BERICHT/233: Papst-Buch - Aufklärung über Jesus (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 6/2007

Aufklärung über Jesus
Das Jesus-Buch des Papstes und das Programm seines Pontifikates

Von Thomas Söding


Mit dem Buch "Jesus von Nazareth" hat Benedikt XVI. eine Summe seines theologischen Denkens vorgelegt. Es hat auch entsprechende Beachtung gefunden. Mit seinem Anspruch, einen Zugang zum wirklichen Jesus als dem Sohn Gottes freizulegen, wirft das Werk des Papstes grundsätzliche Fragen auf, die weit über die Bibelwissenschaft hinausreichen.


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Als Kirchenreformer wird er schwerlich in die Geschichte eingehen. Aber als Mann des Wortes schon. Nicht alle hätten es ihm zugetraut: Aber Benedikt XVI. erweist sich, auf seine ganz eigene Art, als großer Kommunikator des christlichen Glaubens. Ob man ihm gerecht wird, wenn man ihn den führenden Intellektuellen der Gegenwart nennt, steht dahin. Er nutzt sein Amt, um den Glauben ins Gespräch zu bringen, und er stärkt die Autorität des Amtes durch seine Theologie. Mit drei großen Texten ist der Papst bislang hervorgetreten.

Alle drei zeigen unverkennbar die persönliche Handschrift des gelehrten Theologen, des intellektuellen Dogmatikers, des spirituellen Aufklärers. Alle drei prägen den Stil seiner Amtsführung. Der erste Text, datiert auf das Weihnachtsfest 2005, ist die Enzyklika "Deus caritas est" (DCE); der zweite Text ist die Regensburger Vorlesung, gehalten am 12. September 2006, über das Thema "Glaube und Vernunft"; der dritte Text ist das am 16. April 2007, seinem 80. Geburtstag, erschienene Buch über Jesus von Nazareth.

Das Echo aller drei Texte ist stark, aber unterschiedlich. Die Enzyklika stieß auf nahezu einhellige Zustimmung. Wer immer noch den "Panzerkardinal" im Kopf hatte, musste umdenken. "Love, love, love" titelte Alexander Smoltczyk im Spiegel und gab damit die Tonlage der Kommentatoren vor: "Ratzinger ist ein Radikaler. Er geht an die Wurzeln. Er hätte über die Heuschreckenschwärme der Globalisierung schreiben können, über Gentechnik, den Darwinismus und eben die 'Diktatur des Relativismus'. Doch dieser Papst ist ein Verkünder, kein Verkäufer. Er ist mehr an der Bestimmung der Wahrheit interessiert als daran, die Lehre mit Spektakel zu verbreiten. Benedikt XVI. schreibt über die Liebe."

Anders der erste Eindruck der Regensburger Vorlesung. Das ominöse Zitat des Manuel Palaiologos, Mohammed habe an Neuem "nur Schlechtes und Inhumanes" gebracht, ist im Westen als diplomatischer Fauxpas, in islamischen Kreisen als böswilliger Angriff auf den Propheten gelesen worden. Tatsächlich diente das Zitat aber der Problemstellung, nicht der Problemlösung. Darin liegt die Provokation: Darf der Papst seinen Zuhörern die Aufmerksamkeit abverlangen, einen längeren Argumentationsbogen zu verfolgen, bevor sie ein Urteil abgeben? Und dient eine Problematisierung dem besseren Verstehen heiligster Überlieferungen, oder ist Kritik per se ein Sakrileg?


Der Papst geht zu seinen Wurzeln zurück

Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Islamische Theologen melden sich zu Wort, dass in der Tat jeder Anschein einer religiösen Rechtfertigung von Gewalt vermieden werden muss; Alice Schwarzer freut das indirekte Plädoyer für Frauenrechte; Walter Jens hat die Vorlesung zur Rede des Jahres gekürt. Die Regensburger Universität hat den Ball aufgenommen, den ihr ehemaliger Kollege ins Feld der Wissenschaften gespielt hat, und eine breite wissenschaftliche Diskussion der Papstthesen in allen Fakultäten geführt (Christoph Dohmen [Hg.], Die "Regensburger Vorlesung" Papst Benedikts XVI. im Dialog der Wissenschaften, Regensburg 2007).

Das Jesus-Buch des Papstes gehört in diese Linie. Der Papst geht zu seinen eigenen Wurzeln zurück: zur prägenden Lektüre seiner Jugend, den Jesusbüchern von Karl Adam und Romano Guardini. Er folgt seiner theologischen Leidenschaft, das Buch zu schreiben, das er seit langem schreiben wollte. Er markiert das Zentrum seines Denkens. Nach der "Einführung ins Christentum" und der "Eschatologie" ist es wieder einmal ein "großes" Buch, das er geschrieben hat - jenes, zu dem er "innerlich lange unterwegs gewesen" ist, wie er im Vorwort schreibt.

Joseph Ratzinger fährt die Ernte zahlreicher Studien zur Methodik und Hermeneutik der Exegese ein, die er seit seiner Beratungstätigkeit für das Konzil als Professor und Präfekt konsequent getrieben hat. Und wie es scheint, erreicht dieses Buch eine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wie kein Jesus-Buch zuvor. Die Exegetenzunft hält sich zwar vorerst mit Kommentaren zurück. Aber das Medienecho ist enorm, die Verkaufszahlen sind weltweit gigantisch; bei den ersten Kommentaren muss man mit der Lupe suchen, um Kritik zu finden. Nur Gerd Lüdemann, getrieben von antipäpstlichen Ressentiments, tanzt einmal mehr aus der Reihe und unterstellt seinen Kollegen, aus Angst vor Repressionen Selbstzensur zu üben.

Innerkirchlich stößt die intellektuelle Offensive Benedikts nicht auf ungeteilte Zustimmung. Bekommt es der Theologie, wenn Joseph Ratzinger sich als ihr Papst profiliert? Bekommt es dem Amt, wenn in einer so freien Weise wie im Jesus-Buch zur Kritik eingeladen wird? Benedikt ist nicht zuletzt seiner Theologie wegen zum Papst gewählt worden. Als Papst bleibt er Theologe. Seine Theologie hat sich in großer Konstanz entwickelt (Frank Meier-Hamidi und Ferdinand Schumacher [Hg.], Der Theologe Joseph Ratzinger, Freiburg 2007); verändert haben sich die Sprecherrollen als Professor, Präfekt und Papst.

Diese Rollen zu unterscheiden, fällt nicht allen leicht. Es stellt der Theologie kein gutes Zeugnis aus, wenn Fußnoten aus Ratzinger-Aufsätzen quasi in den Rang dogmatischer Autoritäten erhoben werden. Es wäre ein hermeneutischer und juristischer GAU, sollte in Zukunft ein katholischer Neutestamentler Probleme mit dem "nihil obstat" bekommen, weil er eine andere Hermeneutik und Methodik als der Papst verfolgt und in der Auslegung der Evangelien den Papst kritisiert.


Es wird ein neuer Stil des Papsttums sichtbar

All dies läge weit unter dem Niveau des Autors. Seine Enzyklika zeichnet sich nicht nur durch die Wahl eines großen Themas aus, sondern auch durch gedankliche Offenheit in der Argumentation, in den Zitaten, im Umgang mit Kritikern, im Einräumen von Fehlern in der Geschichte der Theologie und Kirche. Die Regensburger Vorlesung konkretisiert das - 2004 im Gespräch mit Jürgen Habermas profilierte - Thema einer wechselseitigen Selbstbegrenzung und -erhellung von Glaube und Vernunft, ohne die es zur Pathologie der Religion und der Rationalität komme. Das Jesus-Buch verzichtet auf jeden kirchenrechtlichen Schutz; es lädt zu einer kritischen Lektüre ein. Es stellt sich auf den Boden der historischen Forschung, will aber die Grenzen der historischen Vernunft überschreiten und gerade dadurch einen Blick für das historische Ereignis Jesu gewinnen.

Jenseits aller Einzelkritik muss allein dieses Faktum Beachtung finden. Einerseits wird ein neuer Stil des Papsttums sichtbar: ein bewusstes Sprechen in verschiedenen Gattungen, deren Form und Gewicht genau zu unterscheiden sind und nicht verwechselt werden dürften. Die Theologen und Kirchenrechtler müssen ganze Arbeit leisten, um die notwendige Klarheit zu schaffen.

Andererseits wird durch die päpstlichen Veröffentlichungen die Theologie aufgewertet. Nicht, dass es ihr an Selbstbewusstsein gebräche und sie einer päpstlichen Ermunterung bedürfte. Es geht um viel mehr. Dass Benedikt das Risiko sachlicher Kritik eingeht, zeigt das Zutrauen des Papstes in die konstruktive Bedeutung der Theologie für den Glauben. Durch eine Kritik, die sich der Selbstkritik nicht verschließt, durch einen Vernunftgebrauch, der die Grenzen des menschlichen Verstandes nicht missachtet, kann der Glaube nur gewinnen. Es wird abzuwarten sein, ob dieser neue Stil des Papstes auch auf die kurialen Behörden abfärbt. Die Konsequenz ist ja, nicht so sehr das Szenario auszumalen, eine Krise der Theologie werde durch lehramtliche Interventionen gelöst, als vielmehr die Klärung strittiger Fragen in erster Linie von der fachlichen Diskussion der Theologie zu erwarten.

Die Enzyklika "Deus caritas est" treibt radikale, an die Wurzeln gehende Theologie. Sie bringt die Gottesfrage ins Spiel - und zeigt, dass sie nur im Geist der Liebe zu beantworten ist. Sie bringt die Sehnsucht nach Liebe ins Spiel - und zeigt, wie sie nur im Lichte Gottes gestillt werden kann. Die Enzyklika beginnt mit einem Schriftzitat, dem Spitzensatz biblischer Theologie (1 Joh 4,8.16), und legt ihn so aus, dass er als Kurzformel der Geschichte Jesu einleuchtet und seinen jeweils aktuellen Sinn im Ganzen der Heiligen Schrift erschließt.

In einem Durchgang von der Schöpfungsgeschichte über das Hohelied bis zur Gerichts- und Heilsbotschaft der Propheten erhellt der Papst als Grundbotschaft des Alten Testaments (DCE 9-11): Gott liebt. Im Rückgriff auf die Evangelien und die Apostelschriften des Neuen Testaments erhellt der Papst als Grundbotschaft der ganzen Bibel: Gott ist Liebe (DCE 15). Dass diese Einsicht nicht ohne Trinitätstheologie zu haben ist, mehr noch: dass die Trinitätstheologie um des Geheimnisses der Liebe willen notwendig ist - darunter macht es die Enzyklika nicht: Die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn im Heiligen Geist ist Quelle und Ziel allen Lebens und Liebens.

Die Regensburger Vorlesung zeigt, dass es ohne die Symbiose von Glaube und Vernunft kaum gelingen wird, die unbändige Kraft der Religiosität zu zähmen und das aggressive Potenzial wilder Heiligkeit zu kultivieren. Diese Symbiose aber ist kein reines Postulat der Theologie, sondern eine notwendige Folgerung aus der trinitarischen Identität Gottes, ohne die Joh 1,1 nicht zu verstehen ist: "Im Anfang war der Logos". Umgekehrt zeigt der Papst, weshalb es providenziell war, dass Paulus dem Ruf des Makedoniers gefolgt ist, nach Griechenland zu kommen (Apg 16): Erst die Verbindung des jüdischen Glaubens mit dem griechischen Geist hat zur Entdeckung, gedanklichen Durchdringung und sprachlichen Gestaltung des trinitarischen Geheimnisses geführt.


Theologischer Mittelpunkt ist die Auslegung der Bergpredigt

Das Jesus-Buch setzt diese Klarstellungen voraus. So sehr es im Wesentlichen eine Nacherzählung der Evangelien selbst ist - das sprachliche und gedankliche Niveau ist durch die neutestamentliche und altkirchliche Christologie, die ökumenischen Konzilien, die großen Zeugnisse der Tradition bestimmt. Wie in der Enzyklika - und in den früheren Arbeiten Ratzingers - werden immer wieder Cyprian und Augustinus, Ignatius und Irenäus, Gregor von Nyssa und Johannes Chrysostomus zitiert, um den Blick für das Geheimnis des Lebens Jesu zu öffnen und den Tiefgang der Evangelien auszuloten.

Das hat Karl-Heinz Ohlig, den Dogmatiker aus Saarbrücken, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7. Mai 2007) zum Vorwurf der Harmonisierung geführt: Der Papst denke nicht geschichtlich; er setze das Dogma mit dem Selbstverständnis Jesu gleich. Doch ist Ohlig viel dogmatischer als Ratzinger. Der Saarbrücker weiß genau, dass Jesus gegen das Dogma steht; Ratzinger schließt mit dem Satz, "im Bekenntnis von Nizäa" wiederhole die Kirche immer nur das Bekenntnis des Petrus: "Du bist der Christus". Ohlig weiß auch genau, was Jesus gedacht, mehr noch: was er nicht gedacht hat, nämlich "Sohn Gottes" zu sein. Ratzinger hingegen stellt gleich am Anfang seines Buches, bei der Auslegung der Taufe, klar, dass es niemandem, auch ihm nicht, gelingen wird, Jesus ins Herz zu schauen und sein "Bewusstsein" zu analysieren. Was er für möglich erachtet, ist vielmehr, Jesus im Spiegel der Evangelien zu betrachten und darin Reflexe des Lichtes aufzufangen, das Jesus selbst ausgestrahlt hat.

Der Jesus, den Benedikt XVI. zeichnet, ist ein frommer Jude, ein großer Beter, ein prophetischer Anwalt der Armen. Der theologische Mittelpunkt des Buches ist die Auslegung der Bergpredigt, besonders des Vaterunser. Jesus hat die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe nicht nur gelehrt, sonder gelebt. Dieser Leitgedanke dürfte auf wenig Widerspruch stoßen. Aufmerksamkeit aber sollte erregen, in welche Tiefen Ratzinger diese Einheit verfolgt und wie er dabei vorgeht.

Erstens: Joseph Ratzinger arbeitet mit der Einheit von Aussage und Sprecher, traditionell: von Botschaft und Bote. Dass die Gottesherrschaft nahegekommen sei (Mk 1, 15), ist ein Wort, das man Jesus glauben muss; dann aber kommt Jesus selbst ins Spiel. Er tritt für sein Wort ein. Die Wahrheit seiner Worte ist an die Wahrheit seiner Person gebunden. Die Nähe der Gottesherrschaft verweist auf die Präsenz Jesu. Weshalb sollen die Gleichnisse wirklich etwas über die Gottesherrschaft besagen? Weshalb die Seligpreisungen keine Vertröstungen sein? Weshalb die Bitten des Vaterunser nicht ins Leere verhallen? Ohne dass er die Sprachwissenschaft bemüht, setzt Ratzinger auf die Textpragmatik, die Sprechakttheorie und erschließt dadurch christologische Sinndimensionen von Texten, in denen sich kein einziger Hoheitstitel findet.

Zweitens: Joseph Ratzinger würdigt das Judesein Jesu als ein nicht nur kulturelles, geschichtliches, sondern theologisches Faktum, dessen Gewicht gerade durch die Inkarnationstheologie bestimmt wird. Der methodische Ansatz, dass die Evangelien und Jesus nur im Kontext der einen und ganzen Bibel Israels verstanden werden können, führt weit über traditionsgeschichtliche und motivgeschichtliche Analysen hinaus. Die Herrschaft Gottes gibt es nicht ohne das Volk Gottes. Jesus kann nur im Rahmen Israels und des Judentums verstanden werden; aber dass es die Kirche aus Juden und Heiden gibt, ist kein Missverständnis, sondern liegt in der Konsequenz des Wirkens Jesu.

Drittens: Joseph Ratzinger sieht den Schlüssel zum Verstehen Jesu im Hauptgebot: Gott ist einer und einzig; er soll mit ganzem Herzen geliebt werden. Was der Autor zeigen will, ist, dass dies für Jesus nicht nur ein wichtiges Thema gewesen ist, sondern dass er das Hauptgebot gelebt hat: Er verkörpert den liebenden und geliebten Gott. Er ist "eins" mit dem Vater. Das, so Ratzinger, soll später mit dem homoousios auf den Begriff gebracht werden. Bei Jesus ist es lebendige Realität. Er ist der "Sohn", der eins ist mit dem "Vater". Alle Hoheitstitel versuchen nur, dieser geheimnisvollen Realität nahezukommen, die aber nicht mystifiziert werden darf, sondern aufgeklärt sein will.


Die gelebte Christologie Jesu

Benedikt sieht durchaus eine Christologie Jesu. Mehr noch: Er plädiert dafür, dass die Christologie der Gottessohnschaft um Jesu willen notwendig ist. Aber er begeht nicht den Fehler, möglichst viele Begriffe, Formulierungen, Gedanken der Christusdogmatik (die ja schon ganz früh im Neuen Testament in ungeahnte Höhen führt) im Kopf Jesu verankern zu wollen. Er hält aber auch nichts von dem Ehrgeiz der historisch-kritischen Exegese früherer Jahrzehnte, aus dem breiten Strom der neutestamentlichen (und apokryphen) Jesusüberlieferung einige wenige "ipsissima verba" herauszupräparieren.

Sein Verfahren lässt sich vielleicht am besten verstehen, wenn man eine dreifache Unterscheidung vornimmt: Es gibt die gelebte Christologie Jesu, die sich im Anspruch und Zuspruch seiner Worte, in der Zeichenhaftigkeit seiner Taten widerspiegelt und ihre Quelle in den Gebetsnächten Jesu, aber auch in seiner Nähe zu den Menschen in Israel hat; es gibt die erzählte Christologie der Evangelien, die bereits die österliche Perspektive des Glaubens voraussetzt und unter dem Eindruck frühester Glaubenskenntnisse steht; und es gibt die reflektierte Christologie der katechetischen Formeln, des Credos, des Dogmas. Was Joseph Ratzinger zeigen will, ist, dass in den Erzählungen der Evangelisten, weil sie an die Auferstehung und an das Kommen der Gottesherrschaft glauben, die Konturen Jesu nicht verschwimmen, sondern sich deutlich abzeichnen. Darüber wird zu reden sein.

Im Vorwort beteuert Benedikt, sein Buch nicht gegen die historische Jesusforschung geschrieben zu haben. Tatsächlich stützt er sich auf die Forschungen von Joachim Gnilka und Rudolf Schnackenburg, Peter Stuhlmacher und Martin Hengel, Pierre Grelot und John R Meier. Dennoch ist ein kritischer Unterton nicht zu überhören. Die Absicht des Dogmatikers, nicht nur Jesus-Bücher zu lesen, um sie in eine Christologie einzubauen, sondern selbst ein Jesusbuch zu schreiben, erklärt sich ja wohl auch nur, weil er den exegetischen Werken kritisch gegenübersteht und der Meinung ist, es besser machen zu können.

Seine Kritik zielt darauf, dass die historische Kritik Jesus aus wesentlichen Zusammenhängen gelöst habe, in denen er stehe: aus seiner Einheit mit dem Vater und aus seiner Zugehörigkeit zum Gottesvolk. Tatsächlich zeigt sich im Rückblick, dass die "liberale" Jesusforschung des 19. Jahrhunderts - Adolf von Harnack ist der eigentliche Gegner Ratzingers - in Jesus eher das Originalgenie als den "Nazoräer" gesehen hat. Noch Ernst Käsemanns "neue" Frage nach Jesus nannte als erstes Kriterium, authentisch Jesuanisches von Sekundärem zu unterscheiden, das der "Differenz".

Weniger deutlich wird in dem Jesus-Buch, dass es seit gut zwei Jahrzehnten eine neue Phase der Forschung gibt, in der Jesu Judesein methodisch untersucht und stark gewichtet wird. Allerdings führt dies tendenziell zu einer Relativierung Jesu, weil es zu nahezu jedem Wort zahlreiche Parallelen im Judentum gäbe, während es bei Ratzinger zu einer Profilierung Jesu führt, weil er vom Monotheismus her die Christologie Jesu entwickelt. Das scheint wegweisend.


Kein Platz für Gattungskritik

Die Gegnerschaft zur liberalen Exegese schärft aber nicht nur Ratzingers Sinn für die theologische und historische Substanz der Evangelien, sondern hindert ihn zuweilen auch, noch stärker in die Tiefe zu gehen. Die tiefschürfende Auslegung der Tauferzählung mündet in eine Polemik gegen die im 19. Jahrhundert beliebte Vorstellung eines enthusiastischen Berufungserlebnisses Jesu.

Zu kurz kommt bei dieser Kritik aber, dass nach den Synoptikern die Himmelsstimme über dem Jordan nicht nur den zweiten Psalm zitiert "Du bist mein geliebter Sohn" und damit die "starke" Christologie des königlichen Davidssohnes aufruft, sondern auch Jesaja 42,1: "an dir habe ich Gefallen gefunden" und damit die "schwache" Christologie des prophetischen Gottesknechtes, der zu seiner Sendung berufen wird, zu verkünden und noch durch sein Leiden die heilsame Gerechtigkeit Gottes zu verwirklichen.

Dass in der Deutung der Versuchungsgeschichte "Barabbas" zu einer Art Antichrist hochstilisiert wird, passt zwar ins Bild, weil Benedikt die Politisierung und Militarisierung der Basileiabotschaft scharf attackiert, hat aber eine dünne Textbasis.

Bei einer stärkeren Berücksichtigung der Gattungskritik würde fraglich, ob die Versuchungs- und Verklärungsgeschichte mehr oder weniger auf derselben Ebene wie die Gleichnisse und die (gewiss auch durchkomponierte) Bergpredigt als Wiedergaben eines historischen Geschehens gedeutet werden können; die Evangelien selbst markieren mit ihren Zeitangaben - vierzig Tage, nach sechs Tagen - Unterschiede, die fraglich werden lassen, ob diese Geschichten sich nicht ohne weiteres in ein Kalendarium Jesu eintragen ließen.

Der Papst hat ein Auge für die Unterschiede zwischen den Evangelien und ihre Prägung durch die Umstände ihrer Entstehung; aber beim Vergleich interessiert ihn nicht, das Ältere vom Jüngeren zu unterscheiden, wie es aber die schulmäßige Arbeit des Historikers ist, sondern eher, die verschiedenen Facetten der überlieferten Gestalt Jesu sichtbar zu machen; ob der allgemeine Hinweis auf die Inspiration reicht, dieses methodische Verfahren zu rechtfertigen, darf bezweifelt werden, auch wenn die Forschungen zur Überlieferung in mündlich geprägten Kulturen die häufig anzutreffende Schematisierung des synoptischen Vergleichs fraglich werden lässt.

Nicht selten wird kritisiert werden, dass neben die Synoptiker auch Johannes als Quelle tritt, indem einige seiner großen Bilder - Wasser, Wein, Brot, Hirte - erklärt werden. Aber hier hat der Papst erkannt, dass es eine neue, wenngleich offene Diskussion gibt (Thomas Söding [Hg.], Johannes - Mitte oder Rand des Kanon, Freiburg 2003). Der Papst beginnt - wie der Kanon - bei den Synoptikern, aber dass er Johannes nicht verschmäht, nimmt methodisch ernst, wie stark gerade der Vierte Evangelist die Erinnerung an Jesus beschwört und dass er mit der Gestalt des Lieblingsjüngers nicht völlig unplausibel auf einen eigenen Zeugen Jesu verweist.


Ein ökumenisches Potenzial

Die Enzyklika, die Regensburger Vorlesung und das Jesusbuch sind herausragende Texte ökumenischer Theologie. Die Enzyklika und die Vorlesung haben das vielleicht ein wenig verdeckt, weil das Thema "Liebe" typisch katholisch scheint und die Vorlesung den Neoprotestantismus mit dem Vorwurf einer unaufgeklärten Enthellenisierung konfrontierte. Aber spätestens das Jesus-Buch zeigt das große ökumenische Potential der päpstlichen Theologie, und zwar nicht nur für den Osten, sondern auch für den Westen.

Der Papst als Bibelleser - deutlicher lässt sich kaum demonstrieren, dass die kirchliche Lehre nicht über, sondern unter dem Wort Gottes steht und an der Heiligen Schrift ihr Maß nimmt. "Das Studium der Heiligen Schrift ist die Seele der ganzen Theologie", hatte das Zweite Vatikanische Konzil erklärt; niemand hat das ernster genommen als der Papst. Ob die Exegeten, mit denen er das Gespräch sucht, evangelisch oder katholisch sind, ist ihm kaum eine Silbe wert. Auch in der Kritik nimmt er keine konfessionalistischen Rücksichten.

Alle drei Texte sind auch herausragende Zeugnisse des interreligiösen Dialoges. Die Vorlesung wendet sich explizit gegen den Wahn, Religiosität begründe Hass und Gewalt. Sie wendet sich auch gegen die "postmoderne" These, der Monotheismus sei, weil er dogmatisch ist, aggressiv. Demgegenüber klärt die Konzentration auf die Mitte des Glaubens: Gottesliebe zeigt sich als Nächstenliebe oder sie wird zur Diktatur der Orthodoxie. "Heiße" Religiosität vernichtet das Menschliche nicht, sondern bejaht es (vgl. DCE 15). Humanität folgt aus dem Glauben, oder sie wird zur Diktatur der Tugend. Ein anderer Mensch ist nur als Ebenbild Gottes scharf gesehen (vgl. DCE 28a, 3).


Der Umgang mit der Heiligen Schrift im Jesus-Buch ist ein Musterbeispiel christlicher Theologie

Die Enzyklika wendet sich gegen jeden politisch-religiösen Utopismus, der hinter die Unterscheidung von Staat und Kirche zurückfällt (DCE 26). Sie wendet sich auch gegen die Isolation der Ökonomie von der Gesellschaft und widersetzt sich damit dem Triumph der Systemtheorie. Demgegenüber klärt die Konzentration auf die Grundbotschaft des Christentums zweierlei: Politik organisiert Machtfragen um größerer Gerechtigkeit willen (DCE 28a, 1); diese Option verbindet die Theologie mit der aristotelischen Philosophie. Und die Kirche politisiert nicht, sondern wirkt auf eine gerechte Politik hin - und engagiert sich karitativ, wo es nottut (DCE 28b); das gehört zum Auftrag Jesu.

Der Umgang mit der Heiligen Schrift im Jesus-Buch ist ein Musterbeispiel christlicher Theologie, an dem Muslime erkennen können, dass Aufklärung den Glauben nicht zerstört, sondern vertieft. Das Jesus-Buch führt an einer entscheidenden Stelle, bei der Auslegung der Bergpredigt, einen jüdisch-christlichen Dialog, der auf höchstem Niveau ein echtes Problem sichtbar macht. Jacob Neusner hat 1993 ein Buch mit dem Titel "Ein Rabbi spricht mit Jesus" veröffentlicht (Ein jüdisch-christlicher Dialog, München 1997). Der Papst spricht nun - auf Augenhöhe - mit diesem Rabbi über Jesus. Neusner habe den skandalösen Anspruch der Worte Jesu, die man nur im Namen Gottes sprechen dürfe, erkannt, und distanziere sich deshalb von ihnen, zumal man mit ihnen keinen Staat machen könne, während Joseph Ratzinger den Anspruch Jesu bejaht und seine Worte als konstitutiv für die Kirche betrachtet. Ohne jede Rechthaberei wird hier deutlich, weshalb ein Dialog lohnt und weshalb er mit Argumenten ausgetragen wird.

Besseres kann man auch dem Buch nicht wünschen: eine kritische Leserschaft, die in eine konstruktive Diskussion über Jesus und die Christologie eintritt.


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Thomas Söding (geb. 1956), seit 1993 Professor für Biblische Theologie in Wuppertal, gehört der Internationalen Theologenkommission an, ist Berater der Glaubenskommission der DBK, Mitglied des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses und der Lutherisch/ Römisch-Katholischen Kommission für die Einheit. Neueste Veröffentlichungen: "Der Gottessohn aus Nazareth. Das Menschsein Jesu im Neuen Testament", Freiburg 2006, "Jesus und die Kirche. Was sagt das Neue Testament?", Freiburg 2007.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 6, Juni 2007, S. 281-285
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2007