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BERICHT/281: Die Wurzeln der Lefebvrebewegung liegen vor dem Konzil (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 4/2009

Verspäteter Antimodernismus
Die Wurzeln der Lefebvrebewegung liegen vor dem Konzil

Von Klaus Nientiedt


Die Aufhebung der Exkommunikation der vier vor 20 Jahren illegitim von Erzbischof Marcel Lefebvre geweihten Bischöfe sowie die Leugnung des Holocaust durch einen von den vieren, den Engländer Richard Williamson, haben das Interesse der Öffentlichkeit erneut auf diese Traditionalistenbewegung gelenkt. Ihre Wurzeln liegen im gegenrevolutionären Frankreich.


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Die traditionalistische "Priesterbruderschaft St. Pius X." ist in den letzten Monaten in einem Ausmaß ins Blickfeld der weltweiten Medienöffentlichkeit geraten, wie es bisher selten der Fall war. Von der Piusbruderschaft und deren Gründer, dem französischen Erzbischof Marcel Lefebvre, wurde zwar seit 1970, dem Jahr ihrer kirchenamtlichen Zulassung, zu bestimmten markanten Zeitpunkten Notiz genommen - dazwischen über längere Zeiträume aber auch sehr wenig. Was ist diese Bewegung? Wer sind ihre wichtigsten Protagonisten? Welche Entwicklung hat sie genommen?

Zentrale Figur dieser Oppositionsbewegung gegen das Zweite Vatikanische Konzil innerhalb der katholischen Kirche war der aus Nordfrankreich stammende Ordensmann und kurzzeitige Bischof der mittelfranzösischen Diözese Tulle, Marcel Lefebvre (1905-1991). Die Wurzeln des Traditionalismus, wie ihn Marcel Lefebvre vertrat, liegen in den Auseinandersetzungen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Frankreich, auf deren Höhepunkt es 1905 in Frankreich zur strikten Trennung von Staat und Kirche kam. Im so genannten Modernismusstreit geriet die katholische Kirche in eine defensive Position gegenüber einer Entwicklung, die von ihr pauschal als "modernistisch" bezeichnet wurde.

Als Student begegnete Lefebvre ab 1923 am Séminaire français in Rom dessen geistlichem Rektor, Pater Henri le Floch, dem eine Nähe zur rechtskatholischen "Action française" nachgesagt wurde. Nach der Verurteilung dieser Bewegung um Charles Maurras 1926 durch Pius XI. legte Floch sein Amt nieder. In der "Action française" sammelten sich monarchistische, nationalistische, antisemitische und integralistische Kräfte, die sich der Entwicklung zu Demokratie und Parlamentarismus entgegenstellten. Aus kirchlicher Sicht handelte sich um einen religiös verbrämten antiaufklärerischen und antidemokratischen Fundamentalismus. Charles Maurras bezeichnete sich selbst als Atheisten.

Nach Doktoraten in Philosophie und Theologie empfing Marcel Lefebvre 1929 vom späteren "roten Kardinal", Bischof Achille Liénart, als Priester seines Heimatbistums Lille die Priesterweihe. Bereits zwei Jahre danach trat er der Kongregation der Väter vom Heiligen Geist (Spiritaner) bei, einem Missionsorden. Von 1932 an wirkte er daraufhin im französischsprachigen Afrika: zunächst als Missionar in Gabun und Lehrer am Priesterseminar in Libreville. 1947 empfing er die Bischofsweihe und wurde Apostolischer Vikar von Dakar und Apostolischer Delegat für den Senegal, 1955 dann (erster) Erzbischof von Dakar. 1948 hatte ihn Pius XII. zum Apostolischen Delegaten für alle französischsprachigen Gebiete Afrikas ernannt. Lefebvre galt damals als ein zupackender Organisator.

1962 machte Lefebvre für einen einheimischen Nachfolger Platz, den langjährigen Erzbischof und späteren Kardinal Hyacinthe Thiandoum. Für sieben Monate war er daraufhin Bischof von Tulle, bevor er zum Generaloberen der Spiritaner gewählt wurde. In die Zeit seines Wirkens in Afrika fielen die Neuausrichtung der sich aus den kolonialen Strukturen nach und nach befreienden Missionsgebiete und erste Ansätze zu einer Afrikanisierung der Kirche, mit denen Lefebvre - angesichts seines rechtskatholischen Hintergrunds nicht verwunderlich - sich freilich nicht anfreunden konnte.

Als Generaloberer der Kongregation der Väter vom Heiligen Geist nahm Lefebvre am Zweiten Vatikanischen Konzil teil. Schon während des Konzils war er einer der führenden Vertreter einer konservativen Gruppierung von Konzilsteilnehmern an, dem "Coetus Internationalis Patrum", die mehrfach versuchten, auf das Konzilsgeschehen korrigierend einzuwirken. Johannes XXIII. forderte ihn bereits 1962, noch in der Vorbereitungsphase des Konzils, auf, sich nicht als Konservativer zu profilieren.

1968, nicht zuletzt unter dem Druck von nachkonziliaren Veränderungen innerhalb seiner eigenen Kongregation, legte Lefebvre sein Amt als Generaloberer nieder. 1969 ging er nach Fribourg i. Ue. (Schweiz), um dort eine - wie er es sah - betont traditionsverbundene Priesterausbildung aufzubauen. Den damaligen Bischof von Lausanne-Genf-Freiburg, Henri Charrière, kannte er aus seiner Zeit in Afrika. Zum 1. November 1970 anerkannte Charrière die "Priesterbruderschaft St. Pius X." als geistliche Vereinigung ("pia unio") diözesanen Rechts für einen Zeitraum von sechs Jahren "ad experimentum". Nur wenige Zeit danach erwarb die Gemeinschaft ein Haus in Riddes bei Ecône unweit von Martigny (Bistum Sitten, Unterwallis), um dort ein Noviziat einzurichten. Als Lefebvre glaubte, die Theologiestudenten seines Konviktes nicht länger der an der Universität Freiburg i. Ue. gelehrten Theologie aussetzen zu können, konzentrierte er seine Aktivitäten in Ecône.

Schon im Juni 1971 begannen die Jahr für Jahr stattfindenden Priesterweihen, ohne dass hierfür die nötigen kirchenrechtlichen Bedingungen gegeben waren. Bereits bald nach der Gründung der Priesterbruderschaft wurden theologische Bedenken gegenüber ihrem Ausbildungskonzept laut. Mit der verpflichtenden Einführung der "neuen" Messe Pauls VI. wurde der Sonderweg Lefebvres noch zusätzlich deutlich. Entsprechende Beratungen zwischen dem Apostolischen Stuhl und der Diözese Lausanne-Genf-Freiburg führten 1974 zur Ernennung einer Kardinalskommission, in deren Auftrag am 11. November 1974 eine Visitation in Ecône vorgenommen wurde.

Wenige Tage danach, am 21. November 1974, schloss Erzbischof Lefebvre eine Erklärung ab, die durch Indiskretion schneller als geplant öffentlich wurde. Dieser Text machte die Dimensionen der Unterschiede zwischen "Ecône" - wie man damals sagte - und der katholischen Kirche deutlich, die dabei war, die Konzilsbeschlüsse nach und nach anzuwenden. Lefebvre beteuerte einerseits seine Verbundenheit mit dem "katholischen" und dem "Ewigen Rom".

Zugleich aber betonte er: "Wir lehnen es (...) ab und haben es immer abgelehnt, dem Rom der neomodernistischen und neoprotestantischen Tendenzen zu folgen, die auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil und nach dem Konzil in allen Reformen, die daraus hervorgingen, klar zum Ausdruck kamen. Tatsächlich trugen und tragen alle diese Reformen bei zur Zerstörung der Kirche, zum Ruin des Priestertums, zur Vernichtung des heiligen Messopfers und der Sakramente, zum Schwinden des religiösen Lebens". Jedem "wachen und treuen Katholiken" sei es unmöglich, die nachkonziliaren Reformen anzunehmen.


Die Argumentationsmuster sind gleich geblieben

Die Auseinandersetzung mit und um die Traditionalistenbewegung von Marcel Lefebvre bewegte sich von Anfang an in einem Geflecht verschiedener Ansätze. In einem nach Tonbandmitschnitt erstellten Abschrift eines Gespräches im Vatikan am 13. Februar 1975 zwischen Kardinal Gabriel Garrone als damaligem Präfekten der Bildungskongregation und Erzbischof Lefebvre (dokumentiert in: Roland Gaucher, Monseigneur Lefebvre. Combat pour l'Eglise, Paris 1976) zeigen sich bei Lefebvre im Wesentlichen drei Argumentationsmuster, die bis heute die Diskussion bestimmen. Zum einen sieht Lefebvre die katholische Kirche von Strömungen unterwandert, die lange in die Zeit vor dem Konzil zurückreichen: "Der Liberalismus ist ein von den Päpsten seit anderthalb Jahrhunderten verurteilter Irrtum." Dieser Liberalismus habe sich in die Kirche eingeschlichen und ruiniere sie. Die Folgen dieses Liberalismus seien ein Desaster inmitten der Kirche.

Das zweite Argumentationsmuster stützte sich auf die krisenartige Lage der nachkonziliaren Kirche, wie er sie sah. Lefebvre suchte nach den "Ursachen", wie er im Gespräch mit Garrone in einem beschwörenden Gestus zum Ausdruck brachte: "Was mich angeht, suche ich die Ursachen der gegenwärtigen Krise. Wenn wir uns die aktuelle Krise erklären wollen, kommen wir nicht umhin, die Ursachen dafür zu suchen. Es wäre absurd zu meinen, die unglaubliche Krise, die wir seit rund 20 Jahren durchmachen, keine Ursachen habe. Aber sobald wir konkrete Ursachen ausmachen, werden wir angeklagt, wir seien gegen den Papst und gegen das Konzil und man sieht uns außerhalb der Kirche."

Dieses Argumentationsmuster klang zuletzt auch in einem Gesprächsangebot von Pater Franz Schmidberger an den Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch als Vorsitzendem der deutschen Bischofskonferenz an, das dieser jedoch mit dem Hinweis ausschlug, die entscheidenden und im Gespräch mit Rom zu klärenden Fragen beträfen nicht die pastorale Lage, sondern die von der Priesterbruderschaft eingenommene Haltung zum Zweiten Vatikanischen Konzil.

Was seine Haltung zum Konzil - das dritte Muster - angeht, formulierte Lefebvre in dem Gespräch von 1975 etwas weniger frontal als in der genannten Erklärung vom November 1974. Seine vatikanischen Gesprächspartner hielten ihm vor, er impfe seinen Studenten einen "grundlegenden Zweifel" am kirchlichen Lehramt ein. Lefebvre selbst zog sich auf eine von ihm mehrfach herausgestellte "Ambiguität" des Konzils zurück. Die Deutung, er bestreite die Rechtgläubigkeit des Papstes, wies er von sich.

Auffällig ist, welchen Stellenwert er in seiner Argumentation dem gab, was er "Missbräuche" nannte, die er allenthalben festzustellen glaubte, sowie aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen einzelner Kirchenvertreter und Theologen. Die als "mehrdeutig" bezeichneten Aussagen des Konzils ermöglichten es solchen Personen, "sich Strömungen zu öffnen, die mit der Lehre der Kirche nicht konform sind".

Seine Kritik an Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils formulierte Lefebvre immer in enger Verbindung zu dem geistig-weltanschaulichen Kontext, aus dem er persönlich kam. Er lehnte nicht nur die aus dem Reformwerk Pauls VI. hervorgegangene Liturgie ab - und hielt dafür an der vorkonziliaren Liturgie als der "ewigen Messe" fest -, sondern auch andere wichtige Beschlüsse des Konzils. Im Konzil sah Lefebvre die von ihm kritisierten zentralen Ideen der Französischen Revolution (Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit) sowie der Reformation zum Durchbruch gekommen: Das Revolutionsthema Freiheit sah er in der Frage der Religions- und Gewissensfreiheit berührt, beim gemeinsamen Priestertum aller Glaubenden und der Kollegialität der Bischöfe die "Gleichheit" und die "Brüderlichkeit" in den Beschlüssen zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt, zu Ökumene, Judentum sowie zum interreligiösen Dialog. Zu den weiteren zwischen Rom und Ecône umstrittenen Themen gehört das Kirchen- und Offenbarungsverständnis.

Damit ist bereits eine zentrale Denkstruktur dieses Mannes bezeichnet: Marcel Lefebvre sah sich unentwegt mit Feinden der Kirche konfrontiert. Er ist ein klassischer Vertreter jener Katholiken, die die eigene Kirche wie eine von außen von modernistischen Feinden belagerte Festung begreifen - in einem Brief von 1985 an Johannes Paul II. nennt er in dem Zusammenhang unumwunden "Kommunisten, Juden und Freimaurer" -, von innen durch Häretiker, die er des Liberalismus und Modernismus zieh. Das Konzil ließ bei ihm eine Prägung offenbar werden, deren Ursachen weiter zurück liegen.


Ein Netz von Institutionen und Personen

Zu seinen größten Schwierigkeiten gehörte dabei immer wieder die Frage, in welchem Verhältnis die Lefebvrebewegung zu Rom beziehungsweise zum Papst stand. Zu jenen Traditionalisten, die den Papstthron seit Pius XII. unbesetzt sehen ("Sedisvakantisten") hat er nie gehört. Konkreten Fragen zu diesem Thema wich er durch den Verweis auf ein überzeitliches ("ewiges") Papsttum aus.

Mit dem Scheitern des Gesprächsversuchs 1975 war die weitere Entwicklung um die Traditionalistenbruderschaft weithin vorgezeichnet. Am 6. Mai 1975 entzog der Bischof von Lausanne-Genf-Freiburg, Pierre Mamie, der Nachfolger von Henri Charrière, der Priesterbruderschaft St. Pius X. die kirchliche Anerkennung. Als Lefebvre am 29. Juni 1976 auf der Wiese vor dem Seminargebäude in Ecône erneut Priester weihte, verhängte Rom gegen ihn am 22. Juli 1976 die "suspensio a divinis", eine ohne zeitliche Befristung verhängte Beugestrafe, das Verbot, Akte der Weihegewalt zu vollziehen, was den Vorsitz bei der Eucharistiefeier ebenso einschließt wie die Spendung anderer Sakramente.

Trotz kirchenamtlicher Auflösung und Suspendierung: Die Priesterbruderschaft setzte davon weithin ungerührt ihren Weg fort. Die aus Kapellen, Messzentren, Seminaren und Distrikten bestehende Bruderschaft festigte sich. Und jedes Jahr - in Ecône vor allem am Fest Peter und Paul - wurden weitere Diakone und Priester geweiht. Das Gewicht, das Marcel Lefebvre und seine Priesterbruderschaft im Laufe der Zeit erlangten, verdanken sie vor allem diesem Netz aus Institutionen und Personen. Es ist insofern kein Zufall, wenn Benedikt XVI. bei der Verteidigung des Zugehens auf die Priesterbruderschaft in seinem jüngsten Brief an die Bischöfe mit genauen Zahlenangaben die Bedeutung der Lefebvrebewegung zu belegen sucht: "491 Priester, 215 Seminaristen, sechs Seminare, 88 Schulen, zwei Universitäts-Institute, 117 Brüder und 164 Schwestern (?) Sollen wir sie wirklich beruhigt von der Kirche wegtreiben lassen?".

Die Niederlassungen der Priesterbruderschaft sind klar nach Zuständigkeiten aufgeteilt. Das Generalhaus befand sich zunächst bis 1995 im schweizerischen Rickenbach bei Olten (Kanton Aargau) und seither in Menzingen (Kanton Zug).

In Ecône befindet sich bis heute das wichtigste Seminar der Priesterbruderschaft. Weitere Seminare bestehen in Zaitzkofen (Bistum Regensburg), Winona (USA), La Reja (Argentinien), Golburne (Australien) und Flavigny (Frankreich). Nationale und kontinentale Distrikte (mit ihren Kapellen und Prioraten) bilden die nächste Ebene der Priesterbruderschaft, hinzu kommen autonome Niederlassungen.

Der derzeitige Distriktobere für Deutschland, Pater Franz Schmidberger (Jahrgang 1946), folgte 1982 Erzbischof Lefebvre als Generaloberer der Priesterbruderschaft nach, eine Funktion, die er bis 1994 innehatte. Als einer der vier 1988 geweihten Bischöfe, der Walliser Bernard Fellay (Jahrgang 1958), zum Generaloberen aufstieg, wurde Schmidberger dessen erster Assistent. Bis zu seiner Bestellung zum Generaloberen war Bernard Fellay Generalökonom der Priesterbruderschaft. Der gleichfalls 1988 zum Bischof geweihte Spanier Alfonso der Galarreta (Jahrgang 1957) ist zweiter Assistent des Generaloberen. Bischof Bernard Tissier de Mallerais (Jahrgang 1945), ein Franzose, residiert in Ecône, ohne Leiter des Priesterseminars zu sein. Der englische Bischof Richard Williamson (Jahrgang 1940), der mit seiner Leugnung des Holocaust weltweit für Empörung sorgte, leitete bis vor wenigen Wochen das argentinische Seminar und hält sich zur Zeit in Großbritannien auf.

Nach eigenen Angaben (Stand: 1. November 2008) umfasst die Priesterbruderschaft 14 Distrikte und drei autonome Niederlassungen, insgesamt 159 Priorate und 725 Messzentren. Neben den bereits erwähnten Hochschulinstituten und Schulen gehören sieben Altenheime dazu. Jugendgruppen und Ordensgemeinschaften vervollständigen das Bild dieses traditionalistischen Submilieus. Zusammengenommen unterhält die Priesterbruderschaft in 31 Ländern Niederlassungen und "versorgt" 32 weitere Länder, ist also in insgesamt 63 Ländern vertreten.

Auf Grund der aktuellen Auseinandersetzungen um den Holocaust-Leugner Williamson könnte es dazu kommen, dass die staatliche Anerkennung der vier Schulen der Priesterbruderschaft in Deutschland (ein Gymnasium, eine Realschule, zwei Grundschulen) einer Überprüfung unterzogen wird. Inwieweit die in den Medien vielfach zu lesende Zahl von angeblich weltweit 500000 bis 600000 Anhängern verlässlich ist, muss offen bleiben.

Aus der Priesterbruderschaft St. Pius X. und gerade ihrem französischen Umfeld wurde im Laufe der ersten zehn Jahre weit mehr als ein Verein zur Pflege der tridentinischen Messe. In ihr und um sie herum sammelten sich Kreise, die - ganz in der Tradition der früheren "Action française" eines Charles Maurras - ein antidemokratisches und antimodernistisches Gedankengut pflegen. Enge Beziehungen bestehen zu rechtsnationalistischen Parteien (etwa dem Front National und Jean-Marie Le Pen) und Milieus, von denen die französischen Bischöfe gerne des Verrats am katholischen Glauben und am Christentum angeklagt werden.


Vatikanische Bemühungen um Versöhnung

Anfang der achtziger Jahre ging die Verantwortung der Kontakte und Gespräche des Vatikans mit der Lefebvrebewegung auf Kardinal Joseph Ratzinger über. Ein Blick in das erste Interviewbuch von Kardinal Ratzinger mit Vittorio Messori (München 1985) zeigt, wie wenig sich seit dem Amtsantritt des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation in der Argumentation um die kirchliche Haltung zur Priesterbruderschaft verändert hat: "Es ist klar, dass man alles tun muss, damit diese Bewegung nicht in ein eigentliches Schisma hineingerät, das dann gegeben wäre, wenn Msgr. Lefebvre sich zu einer Bischofsweihe entschließen würde (?) Wenn wir heute in der Ökumene beklagen, dass man in früheren Zeiten nicht mehr getan hat, um aufsteigende Spaltungen durch ein Höchstmaß an Versöhnungsbereitschaft und ein Verstehen für die betroffenen Gruppen zu verhindern, so muss das natürlich auch eine Handlungsmaxime für uns in der Gegenwart sein. Wir müssen uns um Versöhnung bemühen, solange und soweit es irgend geht, und alle Chancen dafür nutzen."

Ein erster Versuch, in diese Richtung zu wirken, war aus vatikanischer Sicht die - wenn auch begrenzte - Wiederzulassung der tridentinischen Messe 1984. Johannes Paul II. erlaubte darin den Bischöfen, Priester unter bestimmten Bedingungen mit der Feier des römischen Ritus in der Form von 1962 zu beauftragen. In seinen Auswirkungen betraf dieses Indult jedoch weniger die Priesterbruderschaft St. Pius X., als vielmehr die Sympathisanten der tridentinischen Messe überhaupt, egal ob sie zu den Anhängern der Priesterbruderschaft im engeren Sinne gehören oder nicht. Den Ruf nach einer vollen Wiederzulassung des tridentinischen Ritus vermochte dieser Schritt allerdings nicht zum Verstummen zu bringen.

Eine neue Stufe der Auseinandersetzungen um die Priesterbruderschaft wurden von dem Moment an erreicht, als Erzbischof Lefebvre die Absicht ankündigte, Bischöfe weihen zu wollen. Nach einem Gespräch mit Kardinal Ratzinger ernannte dieser am 17. Oktober 1987 den kanadischen Kurienkardinal Edouard Gagnon zum "Apostolischen Visitator" und beauftragte ihn mit einer Untersuchung über die Priesterbruderschaft. Ein halbes Jahr danach kam es nach Gesprächen zwischen Ecône und Rom am 5. Mai 1988 zur Unterzeichnung eines "vorläufigen Vertragsprotokolls" durch Erzbischof Lefebvre und Kardinal Ratzinger über eine Einigung, die die rechtlichen Verhältnisse zwischen Ecône und Rom ordnen sollte. Am Tag danach zog Erzbischof Lefebvre jedoch seine Unterschrift bereits wieder zurück.

Trotz weiterer Kontakte gewissermaßen in letzter Minute - einschließlich eines vatikanischen Angebotes der Weihe eines Bischofs am 15. August 1989 - kam es zu keiner Einigung, und Erzbischof Lefebvre weihte zusammen mit dem emeritierten deutsch-brasilianischen Bischof von Campos (Brasilien), Antonio de Castro Mayer (1904-1991), am 30. Juni 1988 ohne den zur Erlaubtheit erforderlichen päpstlichen Auftrag vier Priester der Priesterbruderschaft St. Pius X. zu Bischöfen. Tags darauf erklärte die vatikanische Bischofskongregation unter Kardinal Bernardin Gantin, dass sich Erzbischof Lefebvre und die vier geweihten Bischöfe wegen der ohne päpstlichen Auftrag vorgenommenen Bischofsweihe und wegen Schismas sich die Tatstrafe der Exkommunikation zugezogen hätten, de Castro Mayer nur wegen Schismas. Einen Monat später, am 2. Juli 1988, reagierte Johannes Paul II. mit dem Apostolischen Schreiben "Ecclesia Dei". Er kündigte darin die Bildung einer eigens für die Traditionalisten zuständigen vatikanischen Kommission mit dem Namen "Ecclesia Dei" an. Sie sollte vor allem auch jenen ehemaligen Lefebvrianern als Ansprechpartner dienen, die Lefebvre nicht ins Schisma folgten. Außerdem forderte er die Bischöfe erneut auf, von den Möglichkeiten des Indult von 1984 zur Verwendung der Tridentinischen Messe auf großzügige Weise Gebrauch zu machen. "Ecclesia Dei" errichtete daraufhin am 18. Oktober 1988 die "Priesterbruderschaft St. Petrus" als "klerikale Gesellschaft des Apostolischen Lebens päpstlichen Rechts". In Wigratzbad (Bistum Augsburg) verfügt diese Bruderschaft über ein Priesterseminar. Die Einigung mit Rom erfolgte auf der Basis der gleichen fünf Punkte umfassenden Erklärung, die im Mai 1988 beinahe zu einer Einigung mit Erzbischof Lefebvre geführt hatte. Die Anerkennung weiterer Gemeinschaften auf derselben Basis folgte in den Jahren danach.


Unter dem Schirm von "Ecclesia Dei"

Zentrum der Lefebvre-Bewegung in Paris ist die ehemalige Pfarrkirche Saint-Nicolas-du-Chardonnet im 5. Arrondissement, die seit 1977 von Lefebvre-Anhängern besetzt gehalten wird. Nach Meinungsverschiedenheiten mit dem Generaloberen wurde deren medial versierter Leiter Philippe Laguérie aus der Priesterbruderschaft ausgeschlossen. Er wurde daraufhin Oberer des mit römischer Billigung im Jahre 2006 in der gleichen Rechtsform gegründeten "Institut du Bon Pasteur" in der zeitweise von Traditionalisten besetzt gehaltenen Kirche Saint Eloi in Bordeaux. Zwischen Laguérie und dem rechtsextremen Parteiführer Le Pen bestehen enge persönliche Verbindungen. Laguérie nahm Le Pen mehrfach wegen antisemitischer Äußerungen in Schutz.

Eine weitere Bastion des französischen Traditionalismus war die Benediktinerabtei Sainte-Madeleine von le Barroux (Erzdiözese Avignon). 1989 kam die Gemeinschaft unter der Leitung ihres Abtes Dom Gérard zu einer einvernehmlichen Regelung der Beziehungen mit der vatikanischen Kommission "Ecclesia Dei".

Zu einer Einigung mit Rom kam es auch im Jahre 2002 im brasilianischen Campos mit der "Priesterbruderschaft Jean-Marie Vianney", der damals rund 30 Priester und ein Bischof angehörten. Nach der Exkommunikation von Erzbischof Lefebvre 1988 hatte sich in Campos eine Art kirchliche Parallelstruktur gebildet. Einige Priester und zahlreiche Gläubige waren Altbischof de Castro Mayer gefolgt. Nach dem Tod des Altbischofs übernahm der von drei der vier exkommunizierten Lefebvre-Bischöfen geweihte schismatische Bischof Liciano Rangel die Führung dieser Gruppe, während die übrige Diözese von einem rechtmäßig geweihten Bischof geleitet wurde.

Rangel wurde unterdessen als Apostolischer Administrator für die neu geschaffene Apostolische Administration "Jean Marie Vianney" eingesetzt und unmittelbar dem Heiligen Stuhl unterstellt. Im Vatikan wurde damals darauf hingewiesen, dass die Lösung in Campos keinen Präzedenzfall für den Umgang mit der "Priesterbruderschaft Pius X." darstelle, da diese im Unterschied zu der brasilianischen Gruppe international organisiert sei. Zudem vertrete die Pius-Bruderschaft zum Teil andere theologische Ansichten als die Gruppe in Brasilien. Bischof Fellay soll vergeblich versucht haben, die Versöhnung dieser brasilianischen Gruppe mit Rom zu verhindern.

In den letzten Jahren, nach dem Tod von Erzbischof Lefebvre 2001 und der Papstwahl 2005, gab es verschiedene Kontaktaufnahmen zwischen der Lefebvrebewegung und Rom beziehungsweise der Kommission "Ecclesia Dei". Viel Beachtung fand das Zusammentreffen von Benedikt XVI. wenige Monate nach seiner Wahl mit Bernard Fellay, dem Generaloberen, in Castelgandolfo, ein Besuch, der unter ähnlichen Umständen zustande kam wie der des Tübinger Theologen Hans Küng.

Die Wahl von Kardinal Ratzinger zum Papst hatte Fellay begrüßt. Es sehe darin einen "Hoffnungsschimmer", hatte er verlauten lassen. Er sei zuversichtlich, dass im neuen Pontifikat die 2000-jährige Tradition der katholischen Kirche wieder ihren Platz einnehmen könne und die lateinische Messe wieder ohne jegliche Einschränkung zugelassen werde. Vier Jahre später ist er - was die Erfüllung dieser Forderungen angeht - ein gutes Stück vorangekommen.

Ob es nach der Wiederzulassung der tridentinischen Messe als "außerordentlicher" Form des römischen Ritus und der Aufhebung der Exkommunikation von 1988 ohne die Einforderung von Reue und Einlenken in der Sache (vgl. HK, März 2009, 119ff.) zu einer Einigung in Lehrfragen kommen wird, die das Zweite Vatikanische Konzil betreffen, bleibt abzuwarten. Durch die Vorgänge in den letzten Monaten ist die Festlegung auf das Zweite Vatikanische Konzil in einer Weise öffentlich gemacht worden, dass eine Einigung für beide Seiten eher schwieriger geworden sein dürfte. Eine von der Medienöffentlichkeit weithin unbeachtete Einigung ist unter diesen Bedingungen schwer vorstellbar.

Die Bereitschaft, sich substantiell auf Lehrfragen das Konzil betreffend einzulassen, scheint jedenfalls auf der Seite der Priesterbruderschaft nicht sonderlich ausgeprägt zu sein. Das verrät schon die Beharrlichkeit, mit der diese Gruppe weiterhin davon ausgeht, Rom müsse sich zum wahren Glauben bekehren und nicht sie. Sollte es aber wider Erwarten dennoch zu einer baldigen Einigung mit der Leitung der Priesterbruderschaft kommen, ist auch eine weitere Spaltung der Priesterbruderschaft nicht ausgeschlossen. Dann würde sich das Problem einer auf das Zweite Vatikanische Konzil zurückgehenden Spaltung auf andere Weise ein weiteres Mal neu stellen.


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Klaus Nientiedt (geb. 1953) hat in Münster, Angers (Frankreich) sowie in Fribourg und Luzern Theologie und Romanistik studiert. Von 1984 bis 1998 war er Redakteur der Herder-Korrespondenz. Seit 1998 ist er Chefredakteur des "Konradsblatts", der Kirchenzeitung des Erzbistums Freiburg.

Ausgewählte Literatur:

Abbé Jean Anzévui: Das Drama von Ecône, Sitten 1976
Roland Gaucher: Monseigneur Lefebvre, Combat pour l'Eglise, Paris 1976
Yves Congar: Der Fall Lefebvre, Freiburg 1977
Reinhild Ahlers und Peter Krämer (Hg.): Das Bleibende im Wandel. Theologische Beiträge zum Schisma von Marcel Lefebvre, Paderborn 1990
Alois Schifferle:Marcel Lefebvre - Ärgernis und Besinnung. Fragen an das Traditionsverständnis der Kirche, Kevelaer 1983
Alois Schifferle: Bewahrt die Freiheit des Geistes. Zur kirchlichen Kontroverse um Tradition und Erneuerung, Freiburg 1990
Philippe Levillain: Le moment Benoît XVI., Paris 2008

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 4, April 2009, S. 174-178.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2009