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BERICHT/313: Jugend, Religion und Religiosität (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2011

Jugend, Religion und Religiosität

Von René Brugger


Jugendstudien konstatieren eine wachsende Entfremdung zwischen Jugendlichen und der Kirche. Viele verstehen sich nicht (mehr) als explizit christlich gläubig, beschreiben sich jedoch als mehr oder weniger religiös. Wissenschaftliche Perspektiven auf ein komplexes Phänomen.


Zum internationalen und interdisziplinären Forschungssymposium "Jugend - Religion - Religiosität" trafen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen im vergangenen Oktober an der KU. Die Organisatoren der Tagung, Prof. Dr. Ulrich Kropac, Akademischer Oberrat Klaus König (Theologische Fakultät) sowie Prof. Dr. Uto Meier (Fakultät für Religionspädagogik/ Kirchliche Bildungsarbeit) haben damit bewusst einen Schritt über die eigenen Fachgrenzen getan: So referierten Spezialisten aus den Bereichen Psychologie, Religionssoziologie, Religionswissenschaft, Pastoraltheologie, Fundamentaltheologie und Philosophie zum Fragenkomplex "Was heißt Religiosität bei jungen Menschen?", "Welche begrifflichen Grundlagen, wissenschaftstheoretischen Horizonte und empirischen Settings sind für ihre Erforschung notwendig?" und "In welchem Verhältnis stehen Religion und Religiosität bei Jugendlichen?". Matthias Sellmann, Pastoraltheologe aus Bochum, beschrieb jugendliche Religiosität als "Präsentations- und Distinktionsstrategie" im sozialen Raum. Mit Religiosität bezeichnet er einen Modus der Aneignung von Religion und Kultur, wobei die Frage nach der Wahrheit hierbei eher keine Rolle spiele, sondern Synkretismus als durchgehender Charakterzug jugendlicher Religiosität betrachtet werden könne. Religiosität stelle bei Jugendlichen strategisch eine Form von Kulturaneignung im Sinne von identitätsbezogener Abgrenzung dar: "Religion wird eigenaktiv von jungen Leuten eingesetzt, um sich von anderen zu unterscheiden und um sich mental zu sichern. Durch das Sicherungsmotiv bekommt jugendliche Religiosität faktisch etwas Defensives, etwas Kompensatives."

Im Hinblick auf die Messung jugendlicher Religiosität referierte der Bochumer Religionspsychologe Stefan Huber. Er ist der Überzeugung, dass Religiosität von Jugendlichen durchaus messbar sei: "Allerdings gehört zu einer wissenschaftlich begründeten Messung der Religiosität auch eine selbstkritische Diskussion der Reichweite und Grenzen religionsbezogener Messinstrumente." Aufgrund der wachsenden Vielfalt der Anbieter religiöser Semantik und der damit verbundenen zunehmenden Freiheit bei der Konstruktion der individuellen inhaltlichen Gestalt jugendlicher Religiosität sei für eine vertiefte empirische Untersuchung der Religiosität Jugendlicher ein Instrumentarium notwendig, das in der Lage sei, unterschiedliche inhaltliche Gestalten des religiösen Lebens abzubilden, so Huber. Mit seinem transdisziplinären Modell der Religiosität, welches mittels soziologischer, theologischer und psychologischer Zugänge einen operationalen Zugriff auf das Phänomen Religiosität bietet, stellte er ein Instrumentarium vor, das auch den Untersuchungen des Bertelsmann-Religionsmonitors zugrunde lag. Dabei verwies er auch auf Schwächen empirischer Settings im Bereich der Erforschung jugendlicher Religiosität.

Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack schlug vor, funktionale und substantielle Ansätze in der Frage nach der Bestimmung eines zugrunde gelegten Religionsbegriffs zu verbinden, wobei er in der Kontingenz- und Sinnfrage das funktionale Bezugsproblem erkennt. "Es ist aber unmöglich, mithilfe einer einzigen Definition des Religionsbegriffs die Fülle religiöser Phänomene einzufangen", so Pollack. Grundsätzlich gehe er aber nicht davon aus, dass alle Menschen Fragen nach Transzendentem stellen und will Religiosität daher nicht als anthropologische Konstante gelten lassen.

Auf eine meist übersehene, gleichwohl markante Differenz zwischen den Begriffen Religion und Religiosität verwies der Salzburger Fundamentaltheologe Gregor Maria Hoff. Im Bereich der Theologie und der Religionswissenschaft sei diese Unterscheidung relativ jung. Hoff betonte, dass die Lebensräume individueller Religiosität für die Kirche von Bedeutung seien, jugendliche Religiosität demnach ein eigener "locus theologicus" sei: "Lebensräume individueller Religiosität sind für die Kirche von Bedeutung. Es ist notwendig, solche Orte wahrzunehmen." Es handle sich hierbei um einen "Andersort", von dem Kirche sich beeindrucken lassen sollte, so Hoff.

Von der sensiblen Wahrnehmung der Kinder (und Jugendlichen) im Kontext der Christentumsgeschichte handelte der Vortrag des Essener Kirchenhistorikers Hubertus Lutterbach zum Thema "Inkulturationsformen des Christentums am Beispiel der Wertschätzung der Kinder". Lutterbach argumentierte, dass die heutzutage scheinbar selbstverständliche Wertschätzung von Kindern und Jugendlichen bereits in der Antike durch die Christen mit initiiert worden sei, während sie ansonsten in der Antike kaum eine Basis hatte.

Aus religionswissenschaftlicher Perspektive argumentierte der Bonner Ethnologe Christoph Antweiler. In seinem Vortrag "Weltdeutungen begegnen einander - Religiosität in kulturvergleichender Perspektive" bezog er sich auf die Ergebnisse seines Forschungsprojektes in Indonesien. Als zentrales Element religiösen Lebens aller Gesellschaften erkennt er religiöse Rituale. Diese seien für Individuen oft bedeutender und sozial relevanter als die Details der Glaubensinhalte.

Auf die konkrete Erfahrbarkeit der Transzendenz rekurrierte die Innsbrucker Persönlichkeitspsychologin Tatjana Schnell. Sie konstatierte, dass unter Jugendlichen heute keine atheologische oder gar atheistische Haltung, sondern vielmehr eine abstrakte Sehnsucht nach Transzendenz und eine konkrete Sehnsucht nach Sinn auszumachen sei. Jugendliche suchten aber gerade experimentelle Validität im Erleben von Religiosität. Unter der Voraussetzung, dass die lebensweltliche Gültigkeit von Ritualen erlebbar sein müsse, fänden viele Jugendliche keine Anknüpfungspunkte in kirchlichen Ritualen, wenn diese mangelnde Vitalität ausstrahlten.

In der abschließenden Podiumsdiskussion wurde gefragt, ob theologische Diskurse heute nicht oft an Rituellem vorbeigehen, obwohl gerade religiöse Rituale für heutige Jugendliche eine hohe Plausibilität haben. Stefan Huber betonte, dass man künftig stärker zwischen Hochreligiösen, Religiösen und Nichtreligiösen unterscheiden und kirchlicherseits dementsprechend darauf reagieren müsse. Ferner sieht er einen Unterschied zwischen Sinnfragen, welche sich alle Menschen stellten, und explizit religiösen Fragen, welche sich nicht alle stellten. Religiöse Fragen seien eine Möglichkeit, mit Sinnfragen umzugehen. Dabei stellte sich auch die Frage nach der Bedeutung von "Erlösung". Ulrich Kropac fragte, ob die Phänomene jugendlicher Religiosität möglicherweise als Ersatzphänomene für die verschwundenen kirchlichen Milieus zu interpretieren seien. In Religion erkenne er einen spezifischen Modus der Weltwahrnehmung. Religion stelle dabei eine spezifische Rationalität für den Umgang mit den sog. großen Fragen zur Verfügung und liefere damit Deutungsangebote. Theologie müsse daher ihr Beobachtungspotential schärfen. Bevor Antworten gegeben würden, müsse das religiöse Feld vorher genau erforscht werden, so Kropac. Andreas Verhülsdonk, Referent für Religionspädagogik bei der Deutschen Bischofskonferenz, verwies auf die Differenz von Volks- und Elitenreligiosität: Gerade im Katholizismus seien volksreligiöse Praktiken immer gepflegt worden. Diese Volksreligiösität sei in den westlichen Industrienationen weitgehend zusammengebrochen. An ihre Stelle sei ein Elitenideal eines religionsmündigen Christen getreten, der Auskunft über sich geben müsse.

Festgestellt wurde auch, dass kirchliche Glaubensantworten oft deshalb kaum mehr vermittelbar seien, weil sie mit heutigen Sprachspielen nicht mehr ausreichend übereinstimmten. Für Theologie und Glauben sei es bereichernd, die nichtkonventionellen Artikulationsformen jugendlicher Religiosität in der theologischen Reflexion zu berücksichtigen: Was lernen wir für unsere Religion aus den Phänomenen, die uns ganz fremd erscheinen? Einig waren sich alle darin, dass die wissenschaftliche empirische Wahrnehmung individueller Religiosität Jugendlicher daher von großer Bedeutung für zukünftige Theologie und Religionspädagogik sei.


René Brugger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Didaktik der Religionslehre, für Katechetik und Religionspädagogik der KU.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2011, Seite 26-27
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2011