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BERICHT/323: Eine Tagung zur Zukunft christlicher Sozialethik (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 12/2011

Unabgeschlossene Perspektive
Eine Tagung zur Zukunft christlicher Sozialethik

Von Sebastian Zink


Zum 60. Gründungstag des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften (ICS) der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster fand Anfang Oktober eine Jubiläumstagung statt. Unter dem Titel "Ressourcen - Lebensqualität - Sinn. Gerechtigkeit für die Zukunft denken" wurden Perspektiven und Impulse für eine zukunftsfähige Christliche Sozialethik erarbeitet. Ausgangspunkt war das Nachdenken über ein zeitgemäßes Gerechtigkeitsverständnis.


Soziale Gerechtigkeit ist Bestandteil philosophischer und theologischer Diskurse, seit Menschen über die Organisation ihres Zusammenlebens nachdenken. Gerechtigkeit erscheint dabei sowohl als anzustrebende Zielperspektive als auch als Bewertungskriterium zwischenmenschlicher und institutioneller Beziehungen in einer Gesellschaft. Immer wieder neue Postulate nicht erfüllter Hoffnungen auf Gerechtigkeit und Erzählungen von konkreten Erfahrungen subjektiv empfundener oder wahrgenommener Ungerechtigkeit in der Menschheitsgeschichte machen jedoch deutlich, dass das Ziel einer gerechten Gesellschaft so einfach nicht zu erreichen ist, mithin noch nie erreicht wurde. Der Spannungsbogen, der sich auf diese Weise aus dem Gewollten und dem was wirklich ist, ergibt, ist im historischen Rückblick sicher mit gutem Recht als eines der dynamischsten Elemente der Veränderung und Entwicklung von Gesellschaften zu bezeichnen.

Immer wieder neu befeuert wird dieses Spannungsverhältnis auch dadurch, dass diejenigen, die die Forderung nach Gerechtigkeit im Munde führen, nicht selten sehr Unterschiedliches darunter verstehen, was genau sie als "gerecht" ansehen und was als "ungerecht". Die viel benutzte Kurzformel "Jedem das Seine", unter der Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll, bietet hier keine Lösung. Denn in der Geschichte wurden sowohl die Frage, was "das Seine" sei, das jedem zukommt, auf vielfältige Art und Weise beantwortet, als auch sehr unterschiedliche Überlegungen darüber angestellt, anhand welcher Maßstäbe Gleichheit und Ungleichheit denn zu bestimmen wären.


Es lag daher nahe, dass das Institut für Christliche Sozialwissenschaften in Münster für seine Jubiläumstagung zum 60-jährigen Bestehen die Gerechtigkeitsthematik in den Blick nahm. Man steht dabei in einer großen Tradition, die sich schon in der Wahl des Tagungsortes, der Akademie "Franz-Hitze-Haus", niederschlug. Schließlich war es der Priester Franz Hitze, der im Jahr 1893 den weltweit ersten "Lehrstuhl für christliche Gesellschaftslehre" einnahm. Dennoch sollte die Jubiläumstagung bewusst keine historische Bestandsaufnahme sein. Angesichts neuer Herausforderungen einer Christlichen Sozialethik wie etwa Fragen der Weltwirtschaftsordnung, einer internationalen Sozialordnung oder Mechanismen zur Eindämmung der Folgen des Klimawandels, die samt und sonders den gewohnten Rahmen nationalstaatlichen und -gesellschaftlichen Denkens sprengen, sollte es vielmehr um eine kreative Weiterentwicklung der sozialethischen Tradition gehen.

Ausgehend von "Erfahrungen und Szenarien der Knappheit" und "Hoffnungsbildern der Fülle" wurde nach Wegen gesucht, im bisherigen Diskurs eventuell vorhandene Perspektivverengungen aufzubrechen. Es sollte um nicht mehr und nicht weniger gehen als um eine grundlegende "Ordnungsinfragestellung", um die Weitung überkommener Denkmuster und das Zusammendenken bisher wenig verbundener Aspekte, so die Institutsdirektorin Marianne Heimbach-Steins.


Ressourcen und Grenzen der Gerechtigkeit

Die Frage nach Ressourcen freilich scheint zunächst einmal in klassische Paradigmen des Gerechtigkeitsdiskurses zu führen. Ausgehend von der Knappheit notwendiger und begehrenswerter Güter - sei es aufgrund tatsächlich limitierter Verfügbarkeit, sei es durch Begrenzungen der Zugänglichkeit - stellen sich Fragen der gerechten Verteilung von beziehungsweise der gerechten Beteiligung an diesen, zusammengefasst einer Teilhabegerechtigkeit. Wenn diese Fragen allerdings anhand der Thematiken des Klimawandels, an Aspekten globaler Entwicklung und an der leiblichen Gebundenheit des Menschen diskutiert wurden, so rekurriert dies zum einen auf die in den letzten Jahren auch in der Sozialethik geschehene Weitung des Blicks auf globale Zusammenhänge und intergenerationelle Dependenzen und deutet zum anderen auf einen sehr umfassenden Ressourcenbegriff hin. Dieser beinhaltet nicht nur materielle Güter im engeren Sinn (Nahrung, Wasser, Wohnung, Geld ...), sondern ebenso persönliche (Begabungen, Behinderungen ...) und kulturelle Ressourcen (Weltsicht, Menschenbild, Rechtssystem, Kommunikationsstrategien ...).

Eine solche Offenheit birgt natürlich Probleme. Denn welche dieser Ressourcen sind nun tatsächlich gerechtigkeitsrelevant? Welche nicht? Und wenn ja, in welcher Hinsicht? Von den ungelösten Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang zeugt nicht zuletzt die Umstrittenheit der von Amartya Sen und Martha Nussbaum aufgestellten Listen von menschlichen Grundbedürfnissen, die für ein mit guten Gründen selbst gewähltes Leben notwendig sind. Andererseits aber wirkt ein derart weiter Ressourcenbegriff nicht nur vorschnellen Engführungen des Denkens entgegen, sondern schafft darüber hinaus ein Sensorium für tatsächliche oder scheinbare Grenzen der Erreichbarkeit von Gerechtigkeit.


Derartige Begrenzungen kamen bei der Tagung beispielsweise zur Sprache in der unhintergehbaren Körperlichkeit des Menschen, seiner damit verbundenen Sterblichkeit und Anfälligkeit für Krankheit und Behinderung sowie seiner Abhängigkeit von materiellen Mindestausstattungen. Gleiches gilt für die Endlichkeit der Tragfähigkeit unseres Planeten, die Begrenztheit seiner Ressourcen und die Integrität ökologischer Verhältnisse, die organisches Leben ermöglichen.

Grenzen werden aber auch gesetzt durch die Unmöglichkeit, historisches Unrecht ungeschehen zu machen, durch Bindung von Gerechtigkeitsansprüchen an die Mitgliedschaft in einem Gemeinwesen wie dem Nationalstaat (mit Konsequenzen für Migranten, Flüchtlinge und andere) und nicht zuletzt durch die soziale und historische Kontingenz der Vorstellungen des Gerechten. Manche dieser Grenzen sind tatsächlich "unverrückbar", etwa scheinbare "Ungerechtigkeiten" der Natur, wie eine angeborene Behinderung oder die Ungleichverteilung von Fähigkeiten.

Gerade deshalb jedoch sind sie nicht ohne Einfluss auf Gerechtigkeitserwägungen: Maßstäbe für eine menschenwürdige Praxis (Inklusion der Bedürftigen, Behinderten, Kranken) müssen von dieser Grenze her entwickelt werden. Das Ende der Gerechtigkeit an den Grenzen des Gemeinwesens etwa scheint dagegen durchaus "verrückbar".

Wenn festgestellt wurde, dass die Auseinandersetzungen um die Eindämmung des menschengemachten Klimawandels lediglich eine Trainingsphase für tiefer gehende globale Nachhaltigkeitsproblematiken darstellten (weil eigentlich relativ billig lösbar), so erweist sich daran die Bedeutung der Bewusstwerdung dieser Grenzen sowie ihrer Überschreitung beziehungsweise Bearbeitung für das Nachdenken über Gerechtigkeit als hoch virulent.


Im Kontext einer Ressourcengerechtigkeit ist mit dem Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit noch ein weiteres klassisches Feld gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen aufgerufen. Inwieweit ist eine gerechte Teilhabe an Ressourcen eigentlich eine gleiche Teilhabe? Und auf was sollte sich die Gleichheit beziehen? Auf die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen beziehungsweise der Menschheitsfamilie, auf die Fähigkeit zur Befriedigung menschlicher (Grund-)Bedürfnisse, auf die Ausgangsbedingungen sozialer Teilhabe oder auf die Art des Beitrags zum Gemeinwesen?

Jenseits des Postulats gleicher Rechte für alle gibt es hier kaum Einigkeit. Auch wenn die Frage der Maßstäbe von Teilhabegerechtigkeit nicht explizit Thema der Tagung war, so lässt doch gerade dies die zeitgenössische Gerechtigkeitsdebatte nicht zur Ruhe kommen. Die empirische Sozialforschung konnte zeigen, dass es letztendlich problematisch ist, sich auf ein einziges Kriterium festlegen zu wollen. Zumindest sprechen Menschen sich intuitiv in unterschiedlichen Kontexten für die Anwendung je verschiedener Gerechtigkeitskriterien aus. Das gibt denjenigen unter den Theoretikern recht, die Maßstäbe von Gerechtigkeit grundsätzlich differenzieren wollen, etwa nach "sozialen Sphären" (Michael Walzer).


Lebensqualität und gutes Leben

Waren die Anknüpfungspunkte an traditionelle und aktuelle Diskursfelder der Gerechtigkeit im Kontext einer Ressourcenorientierung noch mit Händen zu greifen, so irritiert eine Kategorie wie "Lebensqualität" schon deutlich mehr. Nun spielen bei der Frage nach der Qualität des Lebens sicher die Teilhabechancen an materiellen und kulturellen Gütern sowie die Möglichkeit, eigene personale Ressourcen zu entfalten, keine geringe Rolle. Hinzu aber tritt eine eher subjektiv gefärbte Bewertung der aktuellen Situation und der eigenen Biographie vor dem Hintergrund von Sinnzuschreibungen und Vorstellungen eines gelingenden, eines guten Lebens.

Fragen des guten Lebens aber wurden mit Beginn der Moderne deutlich von Fragen der Gerechtigkeit getrennt. Individuelle Vorstellungen eines guten Lebens erschienen als etwas Subjektives, welchem für die gerechte Organisation einer Gesellschaft, für die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Institutionen keine Relevanz zukomme. Erst innerhalb des Rahmens des Gerechten könnten subjektive Konzeptionen des Guten Legitimität erlangen.

Genau dieser Ansatz wurde von den durch den so genannten "Kommunitarismus" geprägten Autoren in ihrer Kritik an John Rawls' "Theory of Justice" (1971) - der Referenztheorie zur Auseinandersetzungen um die Gerechtigkeit in den letzten Jahrzehnten - vehement bestritten (so etwa Alasdair MacIntyre oder Charles Taylor): Zum einen gebe es kein Gerechtigkeitskonzept, dem nicht auch bestimmte Vorstellungen vom guten Leben zugrunde liegen, zum anderen bestehe das wirklich Gerechte doch wohl in der Realisierung des Guten. Sie griffen damit auf Aristoteles zurück, der das gute Leben aller Staatsbürger als obersten Staatszweck angesehen hatte.


In den Tagungsdiskussionen in Münster wurde die dem Schlagwort "Lebensqualität" inhärente Provokation aufgenommen und aus zwei unterschiedlichen Perspektiven mit den Überlegungen zum Gerechten in Verbindung gebracht: In der ersten Perspektive erscheint Lebensqualität als Ziel von Gerechtigkeitsbestrebungen. Die sich daraus ergebende sozialethische Frage richtet sich auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, auf die notwendige institutionelle Unterstützung, um ein nach je eigenem Ermessen sinnvolles, qualitätvolles und glückliches Leben zu ermöglichen. In aristotelisch-kommunitaristischer Tradition bestimmt sich das Gerechte von der Einlösung dieser Anforderung her. Im Umkehrschluss bedeutet das ein Ausgehen des Nachdenkens über Gerechtigkeit von den Vorstellungen eines guten Lebens, von den Erfahrungen und Selbstdeutungen der Menschen, vielleicht sogar von intuitiv als gerecht empfundenen konkreten Praxen - so zumindest ein Vorschlag.


Eine Vielfalt von Gerechtigkeiten

Darüber hinaus stellt sich die Frage, was genau Grundlage von Gerechtigkeitsforderungen sein sollte: Die Lebenschancen oder die tatsächlichen Resultate eines Lebens? Nur die Gestaltung der Rahmenbedingungen des Lebens oder eventuell auch der Ausgleich der je unterschiedlich ausgeprägten persönlichen Potenziale? Gerechtigkeit erscheint unter diesem Blickwinkel als Chiffre für den Versuch, ein als gelingend empfundenes Leben für alle zu ermöglichen.


Eine zweite Perspektive sieht Lebensqualität nicht als Ziel, sondern selbst als Gegenstand von Gerechtigkeitserwägungen. Als zentrale Frage erscheinen hier Überlegungen, inwiefern Ansprüche an die Qualität des Lebens und Vorstellungen von einem gelingenden Leben im Bezug auf die vorhandenen Ressourcen als angemessen zu bewerten sind. Unter Gerechtigkeitsaspekten müssen Menschen dann im Zweifel daran gehindert werden, ihre Vorstellungen vom guten Leben auszuleben, wenn dies auf Kosten anderer geht.

In letzter Konsequenz ist diese doppelte Verhältnisbestimmung vermutlich nicht aufzulösen. Vielmehr muss es darum gehen, ihren Antagonismus nicht als Hindernis und Ausschluss von Denkhorizonten wahrzunehmen, sondern als fruchtbare Herausforderung, die es ermöglicht, die emotionalen und motivationalen Befindlichkeiten der einzelnen Menschen auch im Kontext eines Gerechtigkeitsdiskurses ernst zu nehmen.


Dies gilt umso mehr, als wohl tatsächlich hinter jeder Gerechtigkeitskonzeption auch bestimmte Ideen eines guten Lebens stehen, selbst dann, wenn sie explizit mit dem Ziel antreten, von solchen zu abstrahieren. Aus dieser Erkenntnis folgt die Einsicht in die Partikularität von Gerechtigkeitsvorstellungen. Denn auch wenn Gerechtigkeitstheorien in der Regel in der Sprache einer universalistischen Ethik und mit dem Anspruch allgemeiner Geltung auftreten, werden sie immer im Kontext und aus der Perspektive bestimmter Gesellschaften und sozialer Erfahrungen entworfen. Sie sind mithin abhängig von Konzepten eines guten und gelingenden Lebens. Da diese qua definitionem nur partikulär sein können, müssen auch die unter ihrem Einfluss entwickelten Gerechtigkeitserwägungen als partikulär gelten.

Für den Frankfurter Sozialphilosophen Axel Honneth kann es daher nur kulturell bedingte Antworten auf die Frage geben, was gerecht ist, während sich die eine umfassende Antwort, nach der die Philosophen oft suchen, zunehmend als Chimäre erweist. Dies gilt in letzter Konsequenz auch für alle Entwürfe einer so genannten "Verfahrensethik", die dem Problem der vielfältigen Vorstellungen vom guten Leben durch den Versuch entgehen wollen, sich auf die gerechte Regelung von Verfahren zur Aushandlung materialer Ansprüche zu beschränken. Wirklich gerecht, so wurde auf der Tagung in provozierender Absicht eingeworfen, könnte doch eigentlich nur etwas sein, was jedem in seiner singulären Gerechtigkeit zukommt.


Muss man sich deshalb von jeglicher Gerechtigkeitsethik mit universalem Anspruch verabschieden? Sollen Errungenschaften etwa der europäischen Kultur, wie die Gleichheit vor dem Gesetz, damit einfach aufgegeben werden? Die einschlägigen Diskussionsbeiträge lassen vermuten: Nicht unbedingt. Eine solche zunächst partikuläre Errungenschaft darf aber nicht als erzwungener Export daherkommen, sondern muss freiwillig in andere Kulturen integriert werden und sich auf diesem Weg als überzeugend, anschlussfähig und universalisierbar erweisen. Dass dies geht, zeigt die (zumindest partielle) Erfolgsgeschichte der Menschenrechte.


Gibt es einen Sinn für Ungerechtigkeit?

Der dritte Abschnitt der Tagung thematisierte die Frage nach den Sinn-Ressourcen (Quellen) einer Bestimmung von Gerechtigkeit. Die diskussionsleitende These war hierbei die Annahme eines Gespürs für Ungerechtigkeiten. Das Verlangen nach Gerechtigkeit entzünde sich erst an konkreten (direkten und vermittelten) Erfahrungen und Zusammenhängen von empfundener Ungerechtigkeit. Dieser Sinn für Ungerechtigkeit eröffne überhaupt erst eine Grundlage für einen Zugang zu Fragen der Gerechtigkeit.

Inwieweit aber kann man bei diesem Sinn für Ungerechtigkeit von einem angeborenen Sinn sprechen? Verschafft er sich aus sich heraus Ausdruck? Die Antwort darauf hängt stark von der Einschätzung der Moralfähigkeit des Menschen ab. Geht man von einer Abhängigkeit moralisch richtigen Handelns von den sozialen Bedingungen aus, in denen ein Mensch steht, so bietet sich eine Differenzierung zwischen natürlicher Moralität und den Ermöglichungsbedingungen dieser Moralität an. Sozialethisches Denken im engeren Sinne richtet sich auf letztere. Nicht selten bedarf es darüber hinaus einer Art Verstärker, um dem Sinn für Ungerechtigkeit Ausdruck verleihen zu können: Wie der Ansatz der Menschenrechtsbildung zeigt, kann ein Wissen um die eigenen Rechte beziehungsweise um bestimmte Gerechtigkeitsressourcen hier durchaus sensibilisierend wirken.

Dies weist den Weg in die Debatte um das Verhältnis eines Sinns für Ungerechtigkeit zum positiven Recht, mithin zur alten Debatte um den Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit. Es liegt zunächst nahe, den Sinn für Ungerechtigkeit als vorgängig zum positiven Recht zu sehen. Aus Ansprüchen, die ausgehend von Ungerechtigkeitserfahrungen artikuliert werden, können - sollte ihre Legitimität anerkannt werden - Anrechte entstehen.

Andererseits muss das Recht selbst ebenfalls als Sinn-Ressource für Gerechtigkeitserwägungen angesehen werden. Allerdings reicht dieses alleine nicht aus, um gerechte Verhältnisse für alle herzustellen. Es bedarf vielmehr bestimmter Modalitäten, damit aus gesetztem Recht erlebte und gelebte Gerechtigkeit wird. Beispielhaft wurden an der Tagung hierfür Erinnerungspolitik sowie Widerstandsbewegungen vorgeführt. Ein Sinn für Ungerechtigkeit ist in dieser Konzeption als Kondensationskern solcher Modalitäten zu lokalisieren, ein Kernbestand allerdings, der gesellschaftlich erst errungen werden muss und dessen Übergang zur praktischen Umsetzung von Gerechtigkeit das Feld der Politik ist.


Der Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit ist auch vor diesem Hintergrund wohl nur als dialektisch, wenn auch problembehaftet zu beschreiben. So stellt sich etwa die Frage, wie diejenigen, die nicht gehört werden und deren Unrechtserfahrungen nicht als Kondensationskerne wirken, gesellschaftlich Gehör finden. Ebenso wurde an der Tagung deutlich die Warnung vor einer Überforderung der Gerechtigkeit, gar ihrem "Tod" artikuliert, sollten Ansprüche aus Erfahrungen der Ungerechtigkeit zu schnell als Anrechte formuliert werden. Denn man wird in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft immer mit einer kaum verringerbaren Vielzahl an Gerechtigkeitsvorstellungen konfrontiert sein.

Darüber hinaus ist selbst bei einer Anerkennung subjektiver Unrechtserfahrungen durch andere nicht zwingend eine Einigung darüber erreicht, welche Vorstellungen von Gerechtigkeit man einer festgestellten Ungerechtigkeit entgegensetzen kann. Und umgekehrt ist auch bei geteilten Formen von Gerechtigkeit mit Differenzen darüber zu rechnen, wann Ungerechtigkeit vorliegt, wie diese Ausdruck finden kann und auf welche Weise sie abgestellt werden sollte. Auch auf der Grundlage eines Sinns für Ungerechtigkeit scheint es daher unmöglich, die Vielzahl von Gerechtigkeiten in ein System übergreifender Gerechtigkeit zusammenzufügen.

Vielmehr gibt es wohl keine Gerechtigkeit, die nicht ihrerseits neue Erfahrungen von Ungerechtigkeit produziert. Jedes noch so gut geordnete Gemeinwesen bringt Ausschlüsse und Ungerechtigkeiten mit sich. Ein Sinn für Ungerechtigkeit kann in dieser Perspektive durchaus vor der Gefahr einer "Selbstgerechtigkeit" schützen, die das Gespür dafür verliert, dass jeder Gerechtigkeit - eben auch der eigenen - unvermeidlich Ungerechtigkeit innewohnt. Einer jeden Gerechtigkeitskonzeption ist daher aufgetragen, sich selbst immer wieder in Frage zu stellen.


Kontextualisierung des Nachdenkens über Gerechtigkeit

Einen immer wieder durchscheinenden Grundtenor der Jubiläumstagung aber stellte die Forderung nach einer Kontextualisierung der Gerechtigkeitsfrage dar. Die vielfältigen Diskussionen machten deutlich, dass eine materiale Bestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs, ja nicht einmal die Frage des "Gerechten" als solche, unabhängig von konkreten sozialen, kulturellen und politischen Kontexten zu denken ist. Genauso wenig kann Gerechtigkeit "ein-für-alle-Mal" erreicht werden, weil jede historische Situation neue, kontextspezifische Herausforderungen bereithält. Darüber hinaus lässt sich grundsätzlich nur noch schwer von Gerechtigkeit im Singular reden.

Es existieren de facto eine Vielzahl von Gerechtigkeiten, die sich aus Vorstellungen eines guten Lebens speisen. An diesen nehmen konkrete Personen Maß, um zu beurteilen, inwiefern das eigene Leben als gelingend oder qualitätvoll bewertet wird und identifizieren davon ausgehend Ungerechtigkeiten. Einer umfassenden Gerechtigkeitskonzeption wird damit zwar eine Absage erteilt, eine prinzipielle Universalisierbarkeit bestimmter Maßstäbe des Gerechten aber nicht grundsätzlich negiert. Diese müssen ihre Trag- und Anschlussfähigkeit nur immer wieder neu erweisen.


Alles in allem entwarf die Jubiläumstagung des ICS damit eine Perspektive, die sich aus der Unfertigkeit speist. Die Überlegungen zum Gerechtigkeitsverständnis wirken unscharf, ein festes Programm ist nicht absehbar. Doch liegt genau darin der Charme und die Chance: Die permanente Herausforderung, in ganz konkreten Kontexten die Gerechtigkeitsfragen zu stellen, Anfragbarkeit und Revidierbarkeit als Prinzip sowie die Offenheit, sich von Erfahrungen der Ungerechtigkeit fruchtbar irritieren zu lassen, fordern immer wieder neue Blickwinkel und lassen sensibel werden für nicht wahrgenommene Ungerechtigkeiten, für den Ruf derjenigen, die niemand hört.

Einer christlichen Sozialethik ist dies mehr als angemessen. Schließlich umfasst deren Referenzrahmen nicht nur die Gerechtigkeitstradition der griechischen Antike mit ihrer starken Orientierung an der Organisation von Macht und Herrschaft, sondern auch biblische Gerechtigkeitskonzeptionen. Diese rekurrieren prägnant auf ein Solidarethos, auf die Solidarität mit der Gemeinschaft, und denken in besonderer Weise von den Beherrschten und Unterdrückten her. Den Propheten wie Amos und Hosea wird die Frage der Gerechtigkeit für die Armen zum Prüfstein der Gottesbeziehung. Die sensible Suche nach Ungerechtigkeiten in immer neuen Kontexten sowie das anwaltschaftliche Eintreten für diejenigen, denen Gerechtigkeit vorenthalten wird, steht im Sinne einer Option für die Armen so als alte und neue Aufgabe der christlichen Sozialethik. Keine fertigen Wege, doch sicher fruchtbare Impulse wurden geliefert, um sich dieser Aufgabe einer praxisrelevanten Sozialethik mit Blick auf die Herausforderungen einer globalen und pluralen Weltgesellschaft zu stellen.


Sebastian Zink (geb. 1978) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit der Frage einer Ethik der Erinnerungen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2011, S. 622-626
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2012