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FORSCHUNG/029: Parademissionar Paulus (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 9/2008

Parademissionar Paulus
Perspektiven der gegenwärtigen exegetischen Diskussion

Von Martin Ebner


Die Theologie des Paulus ist zentrales Thema neutestamentlicher Exegese. In jüngerer Zeit haben sich eine Reihe neuer Perspektiven auf das Wirken und die Überzeugungen des Völkerapostels ergeben. Neben einer sozialgeschichtlichen Erdung seiner Theologie wird insbesondere sein Verhältnis zum Judentum diskutiert - mit Konsequenzen für das ökumenische Gespräch.


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Als ich mich in den späten achtziger Jahren in die Paulusforschung einzuarbeiten versuchte, erschienen mir die alten Texte in völlig neuem Licht: Was wir während des Studiums in den siebziger Jahren als theologische Abhandlungen gelesen hatten, war auf einmal "geerdet", hatte mit Menschen zu tun, die einer bestimmten Schicht angehörten, mit bestimmten Konventionen vertraut waren - und durch die Bindung an die christliche Gemeinde in Handlungskonflikte gebracht wurden.


Weitreichende Konsequenzen für das Verständnis diverser Konflikte

Es war Gerd Theißen, der mit Hilfe soziologischer Kriterien beispielsweise die innere soziale Schichtung der korinthischen Gemeinde herausgearbeitet hat (Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1983). Gemäß 1 Kor 1,26-29 gehörte das Gros der korinthischen Gemeinde zu denen, die - gesellschaftlich gesehen - nichts zählten. Aber es gab doch auch Gemeindemitglieder mit Bildung ("Weise"), politischem Einfluss ("Mächtige") und aristokratischer Familientradition ("Edelgeborene"), alles Signaturen für einen gehobenen Sozialstatus. Neun von sechzehn in der Korintherkorrespondenz beziehungsweise Apg 18 mit Namen genannte Personen ordnet Theißen aufgrund der oft nebenbei mit ihnen verbundenen Angaben über Ämter, Hausbesitz und Reisen dieser Gruppe zu.

Damit ergeben sich weitreichende Konsequenzen für das Verständnis diverser Konflikte, die Paulus in seinen Briefen zu bearbeiten versucht. Er reagiert zum Teil auf Probleme, deren Genese mit schichtspezifischem Verhalten zu tun hat, etwa beim Streit um das "Götzenopferfleisch". Das Fleisch zu verzehren, das im Zusammenhang mit einer Opferhandlung am Tempel steht, ist gemäß 1 Kor 8,1-10 für die einen in Korinth überhaupt kein Problem, den anderen dagegen bereitet es schwerste Gewissensbisse.

Schaut man sich den konkreten Speiseplan der Menschen an, so wird schnell klar, dass es auf der einen Seite die "Beispeisenesser" gibt. Ihre Menükarte besteht aus Gemüse, billigem Fisch und viel Brot. Fleisch ist für sie im wahrsten Sinne des Wortes eine "Götterspeise". Fleischgenuss in üppigen Mengen ist für sie nur an den großen Götterfesten der Stadt denkbar, wenn Opferfleisch an alle kostenlos ausgeteilt wird, die daran teilnehmen. Für sie haftet dem Fleisch immer der Geruch einer Kulthandlung an.

Ganz anders die Oberschicht. Sie kann sich Fleisch leisten - alle Tage. Man kauft es im Delikatesszentrum der Stadt ("Makellum"; vgl. 1 Kor 10,25). Opferfleisch dagegen ist etwas Besonderes. Aber auch davon müssen sie - selbst nach dem Eintritt in die christliche Gemeinde - keinen Abstand halten. Denn sie haben sich eine lupenreine monotheistische Argumentation zurechtgelegt, die sie Paulus auch schriftlich mitteilen. Folgen wir den kompositions- und literarkritischen Analysen, dann zitiert Paulus daraus in 1 Kor 8: "Alle haben wir Erkenntnis: Nichts ist ein Götzenopferbild in der Welt. Keiner ist Gott - außer dem einen" (vgl. V. 1.4). Will sagen: Der kultische Rahmen in den paganen Tempeln ist reiner Firlefanz. Man braucht nur die richtige Theologie, um sich auch in diesem Raum frei bewegen zu können. Dass irgendjemand in innere Schwierigkeiten kommen könnte, wenn er - nach der in der Taufe vollzogenen Bindung an Christus - Opferfleisch isst, können sie nicht verstehen.

Gerade für diese andere Seite macht Paulus sich stark: "Nicht alle haben Erkenntnis" (V. 7). Und für Paulus hängt das mit der kulturellen Sozialisation, mit der Schichtzugehörigkeit, zusammen: Die Beispeisenesser nehmen Tempelfleisch (nach wie vor) "wie Götzenopferfleisch" zu sich. Dass sie, trotz ihres Eintritts in die christliche Gemeinde, weiterhin an den Fleischverteilungen bei den Opferfesten profitieren möchten, ist verständlich. Und wenn sie "die Wissenden" nach wie vor im Tempel beim Speisen liegen sehen, werden sie zur Imitation verführt (V. 10). Aber dann schlägt ihr Gewissen. Sie meinen, von Christus abgefallen zu sein.


Archäologische Befunde haben unsere Vorstellungen präzisiert

Im kulturell-religiösen Kontext einer antiken Stadt betrachtet, fällt völlig neues Licht auf die Argumentation des Paulus: Er nimmt die soziale Realität des paganen Kultes ernst. Man braucht nur die Stadtbeschreibung von Pausanias, dem antiken Baedeker, zu lesen, um einen kleinen Eindruck von der gewaltigen sozialen Präsenz der paganen Religiosität in Korinth zu bekommen (hervorragendes Textbuch von Jerome Murphy-O'Connor, St. Paul's Corinth, 3. Aufl., Collegeville [MN] 2002). Im Sinn bester Lokalkoloritforschung hat John Fotopoulos aufgrund literarischer, epigraphischer und vor allem archäologischer Befunde die Speisemöglichkeiten in den Tempeln von Korinth ausgelotet (Food Offered to Idols in Roman Corinth. A Social Rhetorical Reconsideration of 1 Corinthians 8,1-11,1, Tübingen 2003). Abgesehen von der prinzipiellen Möglichkeit, im Areal eines Tempels Zelte aufzustellen, in denen sich die Opfergesellschaften, nachdem bei der eigentlichen Opferzeremonie die Götteranteile auf dem Altar verbrannt worden waren, die besten Stücke des Opfertiers servieren lassen, kommt als besonders geeignetes Illustrationsmodell der Asklepiostempel am nördlichen Stadtrand von Korinth in Frage. Bis heute ist hier ein steinernes Tempelrestaurant zu besichtigen: drei Räume mit je elf Steinliegen, auf die Polster gelegt wurden; in der Mitte eine Vorrichtung für das Grillen der Steaks. Die von außen zugängliche Anlage mit einem Springbrunnen im Innenhof ist über Treppen mit dem höher gelegenen Tempelareal unmittelbar verbunden.

Hier speist man - nach hellenistischer Mahlvorstellung - in Koinonia mit dem Gott, der seinerseits am Altar ein Stockwerk höher vom gleichen Tier gegessen und vom gleichen Wein (bei der Trankspende) getrunken hat. Er ist dann auch bei der Mahlgemeinschaft der im Tempelrestaurant Speisenden real-präsent gedacht. Von Paulus wird das als "Teilhabe am Tisch der Dämonen" beziehungsweise als Trinken vom "Becher der Dämonen" (1 Kor 10,21) gebrandmarkt. Die Tischgemeinschaft-Koinonia mit Christus (vgl. 1 Kor 10,16f.) schließt die mit den Dämonen aus; sie stellt einen Exklusivanspruch (vgl. Volker Gäckle, Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom. Zur Herkunft und Funktion der Antithese in 1 Kor 8,1-11,1 und Röm 14,1-15,13, Tübingen 2005).

Archäologische Befunde haben auch unsere Vorstellungen von der Größe der korinthischen Gemeinde präzisiert. Grundlage dafür ist die Logistik der Häuser, in denen das christliche Herrenmahl - manchmal für die Gesamtgemeinde: vgl. Röm 16,23 - stattgefunden hat. Das Triklinium (Speisezimmer) eines vornehmen Hauses im Villenviertel von Korinth, das etwa den antiken Durchschnittsgrößen entspricht, ist 41 Quadratmeter groß. Hier speist man auf Liegen, die gewöhnlich für neun Männer ausgerichtet sind, eventuell können einige Hocker bereitgestellt werden. Ausweichmöglichkeit bietet allenfalls das Atrium, in dem man ebenfalls auf Hockern oder gar auf dem Boden sitzen musste. In unserem Fall ist es 30 Quadratmeter groß. Mit gut 50 Personen ist dieses Haus randvoll gefüllt! Auf etwa die gleiche Zahl von Gemeindemitgliedern kommt man, wenn man die in der Korintherkorrespondenz genannten Namen und deren familiäre Verhältnisse berücksichtigt (vgl. Murphy-O'Connor, 178-185).

Hat man die Standardarchitektur eines antiken Hauses im Blick, fällt schließlich neues Licht auf die "Spaltungen", die Paulus in 1 Kor 11,17-22 schärfstens moniert. Löst man das berühmte prolambanein in V. 21 zeitlich im Sinn von "die eigene Mahlzeit vorwegnehmen" auf, so ist ein Teil der Gemeinde, der früher gekommen ist und sich entsprechend im Triklinium zu Tisch gelegt hat, schon gesättigt und betrunken, bevor die anderen eintreffen, die dann mit dem Atrium vorlieb nehmen müssen und allenfalls bei der anamnetischen Kulthandlung ein Stück des "einen Brotlaibs" (1 Kor 10,17) und einen Schluck aus dem Becher bekommen. Oder alle essen zwar gleichzeitig, aber unterschiedlich: In jeder Gruppe isst man die Speisen, die man mitgebracht hat, für sich! Und dabei liegen die einen vornehm zu Tisch, während die anderen auf dem Boden sitzen - draußen!

Wer wer ist und wer welche Speisen gegessen haben mag, braucht nach dem zum Götzenopferfleisch Gesagten nicht mehr ausgeführt zu werden. Und dabei bestand doch die eigentliche Attraktivität des christlichen "Vereins" gegenüber anderen Vereinen, die sich höchstens alle sechs Wochen zum gemeinsamen Mahl samt Vereinsversammlung trafen, gerade darin, dass es hier jede Woche einmal ein Festmahl gab oder geben sollte - auch für die notorischen Beilagenesser (vgl. Eva Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden. Die Gemeinde von Korinth im Spiegel griechisch-römischer Vereine, Tübingen 2004).

Dass sich die Korinther eigentlich ganz "normal", eben gemäß ihrer kulturellen oder schichtspezifischen Sozialisation verhalten und dass Konflikte dadurch entstehen, dass die mit der Taufe verbundene Neuorientierung bestimmte, unter anderem egalitäre Erwartungen weckt, und insofern gerade in diesen Konfliktzonen "das Christliche" sich erst allmählich herausbildet, hat Bruce W. Winter an verschiedenen Themenfeldern aufgezeigt (After Paul Left Corinth. The Influence of Secular Ethics and Social Change, Grand Rapids [MI], 2001).


Paulus wagt sich weit auf das Feld der Politik und der politischen Propaganda vor

Paulus gilt als der Parademissionar schlechthin, der das Evangelium in die Welt getragen hat. Diese Pauschalvorstellung bedarf doppelter Präzisierung: Paulus ist zwar einzigartig, aber eigentlich atypisch für die Ausbreitung der christlichen Botschaft: "Von mindestens ebenso großer, wenn nicht größerer, allzu oft unterschätzter Bedeutung (...) war die individuelle Propaganda der einzelnen, kaum je mit Namen bekannten Schwester und des einzelnen, meist anonymen Bruders, der vielen kleinen Gemeinden, die in Folge ihrer alltäglichen privaten und beruflichen Kontakte die Gemeinschaft der Heiligen langsam, aber stetig wachsen ließen" (Wolfgang Reinhold, Propaganda und Mission im ältesten Christentum. Eine Untersuchung zu den Modalitäten der Ausbreitung der frühen Kirche, Göttingen 2000, 343).

Paulus geht auf der anderen Seite strategisch vor: Er gründet seine Gemeinden in den Veteranen- und Provinzhauptstädten des Römischen Reiches. Er startet sozusagen eine Gegen-Eroberung. Er will die Welt der Macht des Evangeliums unterstellen. Wird gemäß römischer Tradition jede große Eroberung durch einen Triumphzug demonstriert, so vergleicht Paulus seine Missionsanstrengungen in 2 Kor 2,14 ebenfalls mit einem großen Triumphzug, in dem aber nicht er, sondern Christus der Triumphator ist. Paulus übernimmt die Rolle des Weihrauch tragenden Sklaven, der den Duft der Glaubenserkenntnis verbreitet.

Dieser Gegen-Eroberung durch das Wort der Verkündigung entspricht eine zum Römerreich konträre Verfassung: Die Keimzellen des Königreiches Christi (vgl. 1 Kor 15,25) nennt Paulus ekklesia. Im griechisch-römischen Kulturraum ist damit die Vollversammlung der freien Bürger einer Stadt gemeint, die als autonomes Entscheidungsorgan fungiert. Unter der römischen Herrschaft im ersten Jahrhundert n. Chr. sind diese Vollversammlungen längst entmachtet. Die Provinzen werden zentralistisch verwaltet mit einem Statthalter an der Spitze und römischen Magistraten in den einzelnen Städten. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als symptomatisch, dass Paulus seine Anti-Keimzellen nicht nur ekklesia nennt, sondern sie auch so agieren lässt.

Von regelmäßigen Versammlungen, Abstimmungen und Mehrheitsbeschlüssen ist die Rede (1 Kor 11,18; 2 Kor 2,5-11; 8,19). Allerdings haben zu dieser ekklesia Gottes (vgl. 1 Kor 1,2) auf der Grundlage der Taufe nicht nur freie Männer Zugang, sondern auch Frauen, auch Sklaven (vgl. Gal 3,28).

Insbesondere im Römerbrief wagt sich Paulus weit auf das Feld der Politik und der politischen Propaganda vor. Es beginnt mit dem christologischen Basissatz in 1,3f.: Paulus verkündet das Evangelium von Jesus, "der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten". Dieses formelhafte Bekenntnis mit seiner Zwei-Stufen-Christologie, die von der christologischen Reflexion auch damals schon längst überholt war, hat Paulus wohl bewusst gewählt: In Rom musste sich die Erinnerung an ein aktuelles Ereignis einstellen, das als bonum nuntium ("gute Nachricht") verbreitet worden war: die Apotheose des Kaisers Claudius.

Im Jahr 54 n. Chr., also kurz vor dem Eintreffen des Briefes, war Kaiser Claudius, ebenfalls aus hocharistokratischer Familie stammend, nämlich dem julisch-claudischen Kaiserhaus, nach seinem Tod unter die Götter erhoben worden. Während sich aber unter römischen Intellektuellen Skepsis und Spott breitmacht, bestens dokumentiert in Senecas "Apokolokyntosis" ("Verkürbissung") des Claudius, schreibt Paulus bezüglich der Erhebung des Davididen Jesus zum Gottessohn im Grundton christlicher Überzeugung: en dynamei ("in Macht"/"in Wirklichkeit").

Wenn die Ermahnungen zum totalen Gehorsam gegenüber dem Staat und seinen Funktionären in Röm 13,1-7 auf den ersten Blick beschämend angepasst klingen, ist das vielleicht sogar Absicht. Konkreter Anlass dürften die stadtrömischen Proteste gegen indirekte ("Zoll") und direkte Steuern in den fünfziger Jahren gewesen sein. Davon berichtet Tacitus (Ann XIII 50f.). Paulus warnt davor, den nach der Ausweisung judenchristlicher Missionare im Jahr 49 n. Chr. ohnehin prekären Status der christlichen Gemeinde ein zweites Mal durch eine eventuelle Teilnahme an solchen Protesten zu gefährden.

Aber man sollte das "hidden transcript", also die Sprache des subversiven Widerstandes, die natürlich nur von Insidern wahrgenommen werden soll, in diesem Text nicht überlesen: Gott ist die letzte Instanz auch der Machthaber (V. 1). Sind auch Zoll und Steuern an den Kaiser abzuführen, so gebühren Furcht und Ehre natürlich Gott allein (V. 7)!

Auch im Philipperhymnus wurde in den vergangenen Jahren subversive Propaganda entdeckt. Das notorisch schwierig zu erklärende isa theo ("Gott gleich", Phil 2,6) verweist im griechisch-römischen Kulturraum auf "gottgleiche Ehren", wie sie vor allem dem Kaiser im Kaiserkult von denjenigen bezeugt werden, die unter seinen Fittichen selbst nach oben steigen wollen. Im Kontrast dazu präsentiert der christliche Hymnus Jesus als einen, der danach seine Hände nicht ausstreckt ("hielt es nicht für ein gefundenes Fressen"), sondern den umgekehrten Weg der Selbsterniedrigung wählt.

Und dafür wird er von Gott mit den allerhöchsten Ehren beschenkt, wie sie einem wirklichen Pantokrator zustehen: "damit im Namen Jesu jedes Knie sich beuge im Himmel, auf der Erde und unter der Erde". Joseph H. Hellermann hat versucht, die Jesuskarriere nach unten, wie sie der Hymnus beschreibt, auf dem Hintergrund des römischen cursus honorum, der vorbildhaften Karriereleiter eines römischen Aristokraten, die in den Städten und sogar Vereinen in Miniaturausgabe imitiert wurde, als cursus pudorum zu profilieren (Reconstructing Honor in Roman Philippi, Cambridge 2005).

Einen Aufschrei in der Forschungslandschaft gab es, als der amerikanische Autor Mark D. Nanos die These aufstellte: Die "Beeinflusser", die den galatischen Gemeinden einreden wollen, sich beschneiden zu lassen, sind nicht - wie der Forschungskonsens annimmt - christliche Gegner-Missionare, sondern Agenten der jüdischen Synagogalgemeinden in Galatien selbst (The Irony of Galatians, Minneapolis [MN] 2002). Ihr Hauptargument hätte darin bestanden, den ehemaligen Heiden, die sich haben taufen lassen, klarzumachen, dass sie nur als Beschnittene den verfassungsrechtlichen Schutz (religio licita) und die Privilegien (unter anderem Versammlungsrecht) genießen könnten, wie sie die jüdischen Synagogalgemeinden mit dem römischen Staat ausgehandelt hatten. Die Grundthese hat sich nicht plausibilisieren lassen. Aber die Debatte darüber hat klarer als je zuvor bewusst gemacht, dass die Beschneidung nicht nur ein religiöses Ehrenzeichen Israels darstellt, sondern zugleich auch die Eintrittskarte in eine staatsrechtlich verankerte Schutzzone.


Eine alternative Lesart der Rechtfertigungstheologie

Eine weitere neuere Perspektive, die hier vorgestellt werden soll, bildet inzwischen eine eigene Forschungsrichtung, die sich selbst diesen Namen gegeben hat: "The New Perspective on Paul". Genau genommen geht es um eine alternative Lesart der Rechtfertigungstheologie - jedenfalls im Blick auf die klassische Interpretation, wie sie sich unter dem Einfluss der Lutherrenaissance seit den zwanziger Jahren auf evangelischer Seite in Deutschland durchgesetzt hat, katholischerseits inzwischen längst rezipiert und schließlich exegetische Basis für die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" von 1999 geworden ist.

Entwickelt wurde "The New Perspective" im angelsächsischen Raum. Einer ihrer Vordenker, der sich mit seinen Einsichten zunächst leider kaum Gehör verschaffen konnte, war der schwedische Exeget und spätere lutherische Bischof von Stockholm, Krister Stendahl (1921-2008). Einer ihrer momentanen Hauptvertreter, Edward P. Sanders, formuliert in einem lesenswerten Reclam-Bändchen nicht ohne polemischen Unterton: "Luther suchte und fand Entlastung von Schuld. Doch seine Probleme waren nicht die paulinischen, und wir interpretieren Paulus falsch, wenn wir ihn mit Luthers Augen sehen" (Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995, 64).

Worum geht es? Anstelle der individuell-anthropologischen Lesart der Rechtfertigungstheologie tritt eine ethnisch-soziologische Auslegung. Martin Luther hatte die spätmittelalterliche Papstkirche vor Augen, die im Messstipendien- und Ablasswesen mit der Heilsangst der Menschen Geschäfte machte. Auf seine Frage "Wie finde ich einen gnädigen Gott?" fand er - in gut augustinischer Tradition - bei Paulus als rettende Antwort: Nicht durch Werke des Gesetzes, sondern durch Glauben wird der Mensch gerechtfertigt. "Werke des Gesetzes" gemäß dieser Lesart sind religiöse Leistungen des Menschen vor Gott, durch die er sich sein Heil zu verdienen hofft.

Anhänger der "New Perspective" lesen die Rechtfertigungstheologie im soziokulturellen Kontext des Urchristentums, präzise im Rahmen der Probleme, die sich im Zusammenhang mit der beschneidungsfreien Heidenmission ergaben, wie sie in verschiedenen Städten des Ostens, etwa in Damaskus und Antiochia, schon kurz nach dem Tod Jesu praktiziert wurde. Paulus hat sie zunächst erbittert bekämpft. Später wurde er ihr bekanntester Pionier. Wenn Paulus formuliert: "Nicht durch Werke des Gesetzes, sondern durch Glaube wird der Mensch gerechtfertigt", dann rechtfertigt er jenen zufolge seine Missionspraxis: die Aufnahme von Heiden ins Gottesvolk auf Grund des Glaubens an Christus, aber ohne sich beschneiden lassen zu müssen oder auf die Einhaltung der Speisegebote verpflichtet zu werden, was zu entsprechenden Auseinandersetzungen gerade innerhalb der christlichen Gruppen geführt hat, etwa auf dem Jerusalemer Treffen (Gal 2,1-1O) und beim Antiochenischen Zwischenfall (vgl. Gal 2,11-14).

Und genau in diesem Kontext hat Paulus zum ersten Mal die Antithese von "Glaube" und "Werke des Gesetzes" formuliert (vgl. Gal 2,16). "Werke des Gesetzes" bezeichnen in diesem Horizont also präzise diejenigen Gesetzesvorschriften, durch die sich Juden von der griechisch-römischen Gesellschaft, d. h. gegenüber der paganen, durchaus nicht unreligiösen Mainstreamkultur ihrer Zeit, bewusst abgrenzen.

Als Paradebeispiel für die Demonstration der unterschiedlichen Blickwinkel hält James D. G. Dunn Röm 3,28-30 vor Augen: "Wir halten dafür: Gerechtfertigt wird ein Mensch durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes" (V. 28) - liest man diesen Vers isoliert für sich, stellt er sozusagen die Kurzformel der klassischen lutherischen Paulusinterpretation dar. Liest man jedoch weiter, eröffnet sich - sozusagen als paulinische Anwendung dieses Basissatzes - die soziologische Perspektive, wie sie von Anhängern der "New Perspective" vehement eingebracht wird: "Oder ist Gott allein (der Gott) der Juden? Nicht auch der Heiden? Ja, auch der Heiden. Wenn denn gilt: Ein einziger ist Gott, der rechtfertigen wird die Beschnittenen auf Grund des Glaubens und die Unbeschnittenen durch Glauben" (V. 29 Dunn, The New Perspective on Paul. Collected Essays, Tübingen 2005, 9).

Entscheidende Brückenpfeiler für die Sichtweise der neuen Paulusperspektive waren drei Erkenntnisse: "Gerechtigkeit" im biblischen Horizont ist erstens kein juristischer Sachverhalt, sondern ein relationales Konzept. Damit wird die gegenseitige Verpflichtung zum Ausdruck gebracht, die zwei Partner in einem "Bund" eingehen.

Sanders hat zweitens in einer wegweisenden Studie von 1977 gezeigt, dass dem antiken Judentum "Werkgerechtigkeit", also das Label, mit dem die lutherische Paulusinterpretation an der spätmittelalterlichen Kirche Kritik geübt, damit aber zugleich das Judentum belastet hat, völlig fremd ist. Der Bund Gottes wird dem Volk voraussetzungslos geschenkt. Die Funktion des Gesetzes besteht darin, das von Gott geschenkte Bundesverhältnis zu gestalten.

Drittens hat Dunn die historische Perspektive dahingehend zugespitzt, dass er auf einen Trend im Judentum hinweist, der ab der Esrareform festzustellen und insbesondere in der Krise unter Antiochus IV. (Makkabäeraufstand) massiv verstärkt worden ist: Um die eigene Identität zu profilieren, werden in einer Politik nationaler und kultureller Abgrenzung diejenigen Gesetzesvorschriften in den Vordergrund gerückt, die Juden von Nicht-Juden im Alltag deutlich abheben, also die Beschneidung, die Speisegebote, der Sabbat, die Ehegesetze. Mit anderen Worten: Das Gesetz, eigentlich zur Gestaltung des Gottesbundes als "identity marker" gegeben, wird durch Betonung bestimmter, die Kulturen unterscheidender Bräuche - von bestimmten Gruppen - als "boundary marker" funktionalisiert.


Aktualität im Rahmen der "Ökumene der Profile"

Im Rückblick bezeichnet Paulus diese Haltung, die seine vorchristliche Zeit geprägt hat, als "Judaismus" - und meint damit den religiösen "Eifer" (Gal 1,14), gerade für die strenge Einhaltung der "boundary markers" zu kämpfen und gegen Abweichler hart vorzugehen: "Ihr habt gehört von meinem früheren Wandel im Judaismus: dass ich im Übermaß die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten versuchte" (Gal 1,13).

Insofern wird Paulus im Damaskuserlebnis nicht "bekehrt". Er ist ja praktizierender Jude, sogar ein besonders profilsüchtiger. Angesichts der von Jesusanhängern in großen Städten des Ostens praktizierten beschneidungsfreien Heidenmission wird er vielmehr zu einer anderen Sichtweise seiner eigenen Mutterreligion herausgefordert, eben zu jener niedrigschwelligen Version ("Christentum"), für die er dann genauso vorbehaltlos kämpft wie zuvor für die abgrenzungssüchtige Version ("Judaismus").

Es geht also letztlich um Gesetzeshermeneutik, um die Interpretation der eigenen Tradition: Stehen diejenigen Vorschriften im Vordergrund, die von anderen abgrenzen und die eigene Besonderheit betonen, oder stehen diejenigen Vorschriften im Vordergrund, die auch kulturell anders sozialisierte Menschen integrieren und damit Grenzen überwinden können. Der "christliche" Paulus bringt sein - innerhalb der facettenreichen jüdischen Tradition durchaus nicht neues - Ranking innerhalb der Gesetzesvorschriften durch die Maxime zum Ausdruck, dass die "Erfüllung des Gesetzes" in der Nächstenliebe besteht (Gal 5,14; vgl. Lev 19,18; Röm 13,9).

Es hat lange gedauert, bis diese neue Paulusinterpretation in Deutschland überhaupt wahrgenommen worden und endlich auch Gegenstand der Auseinandersetzung geworden ist (vgl. Michael Bachmann [Hg.], Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, Tübingen 2005). Die Forschungsrichtung selbst ist - innerhalb der Kirchen der Reformation - augenblicklich um Schadensbegrenzung bemüht: Es gehe überhaupt nicht darum, die klassische lutherische Paulusinterpretation aus den Angeln zu heben; einziges Ziel sei ein tieferes, authentisches Verständnis des Paulus selbst - und eine angemessene Darstellung des antiken Judentums. Dass Luther angesichts der spätmittelalterlichen Papstkirche durch seine Lesart der paulinischen Rechtfertigungstheologie den entscheidenden, biblisch fundierten Kritikpunkt eingebracht und damit eine notwendige Kirchenreform eingeleitet hat, dürfte im Abstand der Zeit unbestritten sein. Unübersehbar aber ist auch die Aktualität der neuen Paulusperspektive im Rahmen der "Ökumene der Profile". Sie wird auch ausdrücklich formuliert: "Die Rechtfertigung aus Glauben allein widersetzt sich allen Versuchen, dem Evangelium auch nur irgendetwas Zusätzliches hinzufügen zu wollen, das für die Rettung essentiell wäre." Genannt werden unter anderem partikuläre Definitionen apostolischer Sukzession, eucharistische Exklusivität und Frauenordination. "Sogar das Beharren auf einer partikulären Formel von der Lehre der 'Rechtfertigung aus Glauben allein' kann eines der 'Werke' werden, durch die eine selbstbezogene Orthodoxie die Wahrheit des Evangeliums verdunkelt" (Dunn, 87).


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Martin Ebner (geb. 1956) ist seit 1998 Professor für Exegese des Neuen Testaments an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Promotion 1991, Habilitation 1997. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die historische Jesusforschung, das soziale, politische und "ideologische" Umfeld der frühen christlichen Gemeinden sowie die Methodenreflexion und -erprobung.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 9, September 2008, S. 465-470
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2008