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FORSCHUNG/036: René Girards Ringen um eine Opfertheorie (Bibel und Kirche)


Bibel und Kirche 3/2009 - Organ der Katholischen Bibelwerke
in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Ende oder Transformation des Opfers?
René Girards Ringen um eine Opfertheorie

Von Wolfgang Palaver


Unsere moderne Welt ist von einer kritischen Distanz gegenüber dem aktiven Opfer geprägt. Der Gedanke, sich für die eigene Nation zu opfern, ist uns zu Recht fremd geworden. An Stelle des aktiven Opfers ist dagegen vermehrt die Sorge um die passiven Opfer von Gewalt getreten.


Die entsprechende Einstellung drückt sich in John Lennons Song "Imagine" von 1971 aus. Diese Hymne der Friedensbewegung distanziert sich ausdrücklich von jener nationalistischen Welt erzwungener Opfer, die für die jeweiligen Vaterländer dargebracht werden. Lennons Traum vom Frieden kennt weder solche erzwungenen Opfer noch auch einen Zwang zum Martyrium. "Nothing to kill or die for" heißt die entsprechende Zeile im Lied. Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt diese Opferkritik im Gegenüber zu einem reaktionären Katholizismus darstellen, der gerade die Notwendigkeit des Opfers betonte. Ein zweiter Schritt rekonstruiert vor diesem Hintergrund die frühe Opfertheorie Girards, die im Blick auf die grundlegenden Unterschiede zwischen den archaischen Mythen und der biblischen Offenbarung die wesentlichen Elemente der aufklärerischen Opferkritik bestätigt. Ein dritter Schritt geht Girards späterer Weiterentwicklung seiner Opfertheorie nach, die gerade auch jene Gefahren deutlich macht, die ein bloß oberflächlicher und oft nur moralistischer Bruch mit der Welt des archaischen Opfers mit sich bringen kann. Girards heutige Position zeigt, dass nicht schon der Bruch mit dem traditionellen Opferdenken die Sackgassen der Gewalt überwindet, sondern nur die Transformation dieser uralten Institution.


Das Opferdenken des politischen Katholizismus und die moderne Abschaffung des Opfers

Die Frage des Opfers gehört zu den schwierigsten Fragen jeder Religionstheorie. Die deutsche Sprache erschwert das Problem noch zusätzlich, weil das deutsche Wort "Opfer" sowohl die aktive Opferhandlung (lat. sacrificium) als auch das passive Objekt, das geopfert wird (lat. victima), umfasst. Systematisch zeigt sich die Problematik des Opfers aber vor allem darin, dass es dabei zwei Gräben zu vermeiden gilt: Einerseits natürlich die unkritische Glorifizierung der Opferung von Menschen und andererseits aber auch jene illusionäre Haltung, die glaubt, Opferungen könnten ohne Preis und jedes Risiko überwunden werden.

Zuerst setzen wir uns hier mit dem ersten dieser beiden Gräben auseinander. In bestimmten Traditionen des Katholizismus war es üblich, ohne große Unterscheidung zwischen heidnischen Opferkulten und christlichem Opfer einfach die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit von Opfern herauszustreichen und gleich auch entsprechende politische Folgerungen daraus abzuleiten. Ein Beispiel dafür ist die Tradition, die sich von den katholischen Gegenrevolutionären Joseph de Maistre und Juan Donoso Cortés bis hin zu Carl Schmitt ziehen lässt. Ihr Denken erweist sich als sakrifiziell - d. h. als opferkultisch - und kann auf jenen mörderischen Ursprung zurückgeführt werden, den René Girard als Sündenbockmechanismus bezeichnet. Die politische Logik dieses Opferdenkens drückt sich konzentriert in jenen biblischen Worten des Kajaphas aus, wonach es besser sei "wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht" (Joh 11,50). Gerade der Krieg ist für de Maistre und Donoso Cortés aufs engste mit dem Opfergedanken verbunden. Er diene vor allem der Läuterung und Sühne für die Laster der Völker. Wer den Krieg und damit die dadurch gewährleistete Aussühnung aber abschaffen wolle, riskiere das Ende der Welt. Ähnliches gilt bezüglich der Todesstrafe. Wie der Krieg sei sie notwendig, helfe die interne Gewalt zu vermindern und dürfe nicht abgeschafft werden, wenn man verhindern wolle, dass die Erde sich in eine Hölle verwandle, in der "selbst aus den harten Felsen Blut sprudeln wird".(1) Zugespitzt zeigt sich das auch in de Maistres Verherrlichung des Henkers, der für ihn zur zentralen politischen Figur wird: "Alle Größe ... beruht auf dem Scharfrichter: er ist der Schrecken und das Band der menschlichen Gesellschaft. Nehmen Sie der Welt dieses unbegreifliche Mittel; in dem nämlichen Augenblicke weicht die Ordnung dem Chaos; die Throne sinken, und die Gesellschaft verschwindet."(2) Jene Stellen der Bibel - wie etwa Hebr 9,22 ("Ohne dass Blut vergossen wird, gibt es keine Vergebung") -, die durch ihre Ambivalenz und dadurch, dass sie aus ihrem Kontext gerissen sind, den Unterschied zwischen archaischer Religiosität und biblischer Perspektive zu verwischen drohen, nehmen in den Schriften von de Maistre und Donoso Cortés daher auch einen wichtigen Platz ein. Wiederum dürfen wir aber bei aller Abscheu gegenüber solchen Aussagen nicht vergessen, dass de Maistre und Donoso Cortés ähnlich wie die archaischen Religionen durch den kontrollierten und gezielten Gewalteinsatz vor allem den Frieden erhalten wollten.

Carl Schmitt schließt mit seiner politischen Theologie an die katholischen Gegenrevolutionäre de Maistre und Donoso Cortés an und verteidigt so wie diese das Opfer, das der Krieg verlangt. Seine Kritik richtet sich dabei gegen jenen pazifistischen Liberalismus, der die Fähigkeit zum Opfer verliere, weil er keine politische Feindschaft mehr kenne, "auf Grund dessen von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte und Menschen ermächtigt werden, Blut zu vergießen und andere Menschen zu töten".(3)

Gerade gegen die hier skizzierten Formen des katholischen Opferdenkens ist aus Reformation und Aufklärung jene moderne Ablehnung des Opfers hervorgegangen, die unsere heutige Welt bestimmt. Vor allem die Tradition des Liberalismus ist wesentlich von der Distanz zum archaischen Opferdenken gekennzeichnet. Es lässt sich hier eine Linie von Thomas Hobbes am Beginn der Neuzeit bis hin zu Jürgen Habermas in unserer Gegenwart ziehen. Nach Hobbes ist es moralisch nicht erlaubt, das eigene Leben zu riskieren. Die Selbsterhaltung ist das oberste Gebot dieses frühen Liberalismus. Jürgen Habermas hat in unserer Zeit in mehreren seiner Schriften darauf hingewiesen, dass die moderne "Vernunftmoral" die "Abschaffung des Opfers" besiegle.(4) Am Beispiel der Themen Todesstrafe, allgemeine Wehrpflicht, Steuerpflicht und Schulpflicht bemerkt er, dass der "normative Kern" einer "Aufklärungskultur" darin bestehe, "die Moral des öffentlich zugemuteten sacrificium abzuschaffen".(5)


Die biblische Aufdeckung des archaischen Opfermechanismus

Die Anthropologie des französisch-amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaftlers René Girard ist besonders dazu geeignet, sowohl das eben zusammengefasste Opferverständnis des politischen Katholizismus zu kritisieren als auch die biblischen Wurzeln der aufklärerischen Opferkritik zu entdecken.(6) Girards Theorie geht von der These aus, dass archaische Religion und Kultur aus einem Gründungsmord - dem Sündenbockmechanismus - hervorgegangen sind.(7) Zahlreiche Mythen aus verschiedensten Kulturen lassen erkennen, wie aus einer anfänglichen Krise eines Kampfes aller gegen alle dadurch Frieden und Ordnung entstanden, dass ein Mitglied aus der Gruppe als Unruhestifter ausgeschlossen oder getötet wurde. Der vertriebene oder getötete Sündenbock wurde dabei von der Gruppe rückblickend als ein göttliches Wesen verstanden, weil es nicht nur die anfänglichen Krise verursacht zu haben schien, sondern auch den das gewalttätige Geschehen abschließenden Frieden. Kultur und Religion entspringen gleichzeitig aus diesem Gründungsmord. Der Sündenbockmechanismus, den Girard auch direkt als "Opfermechanismus" (frz. mécanisme victimaire) bezeichnet, ist der Ursprung des heidnischen oder archaischen Opfers.(8) Rituelle Opferungen stellen nach Girard eine Wiederholung dieses kulturgründenden Ursprungsereignisses dar. Um den durch den Sündenbockmechanismus gewonnenen Frieden zu sichern und zu stärken, greifen die einzelnen Gruppen auf die ursprünglich gemachten Erfahrungen zurück, um diese dann bewusst und kontrolliert zu wiederholen. Opferriten lassen sich nach Girard als bewusste Wiederholungen des Gründungsmordes verstehen. Wo immer zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Friedens einzelne Menschen vom Kollektiv geopfert werden, liegen Formen sakrifizieller Ordnung vor, die sich auf den Sündenbockmechanismus zurückführen lassen. Aus christlicher Sicht müssen solche Ordnungskonzeptionen als inakzeptabel zurückgewiesen werden. Zu Recht spricht Girard daher im Blick auf Joseph de Maistre und Carl Schmitt von reaktionären christlichen Denkern, die durch ihre Vergöttlichung der gesellschaftlichen Ordnung die christliche Botschaft verfälschten.

Im Gegensatz zu diesen Denkern besteht für Girard ein fundamentaler Unterschied zwischen den archaischen Religionen, die im Sündenbockmechanismus wurzeln, und den Religionen, die aus der biblischen Offenbarung hervorgegangen sind. Während die heidnischen Religionen auf der Seite des verfolgenden Kollektivs die Opferung des Sündenbocks für gerechtfertigt halten, ist die biblische Tradition von der Rehabilitation der verfolgten Opfer gekennzeichnet. Die Götter mythischer Religionen sind vergöttlichte Sündenböcke, die die Gewalt ihres Ursprungs verkörpern und immer neue Blutopfer zur Stabilisierung des von ihnen garantierten Friedens verlangen. Im Unterschied dazu zeigt sich der biblische Gott als ein gewaltfreier "Gott der Opfer" (frz. Dieu des victimes), der sich mit allen Sündenböcken der Menschen solidarisiert.(9) Neben den Klagepsalmen und dem Buch Ijob sind diesbezüglich im Alten Testament vor allem die Lieder des leidenden Gottesknechtes bei Deuterojesaja hervorzuheben. Die Gottesknechtlieder beschreiben das Schicksal eines Leidenden, der von den Menschen verachtet, geschlagen und ausgestoßen wurde. Sein Schicksal gleicht ganz dem eines Sündenbocks (Jes 53,2f.8f). Die entscheidenden Passagen des Textes sind aber jene, die die Unschuld des Knechtes hervorheben und seine Partei einnehmen. Nach Jes 53,9 wurde er verfolgt und gemieden, "obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war". Die Verantwortung für sein Schicksal wird eindeutig den Verfolgern zugesprochen, die schließlich ihre eigene Schuld einbekennen: "Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt." (Jes. 53,4f). Im Neuen Testament zeigt die Passionsgeschichte Jesu in den Evangelien am deutlichsten, inwiefern sich die biblische Perspektive von der mythischen Sicht unterscheidet. Wie in vielen Mythen wird die kollektive Gewalt gegen ein Opfer beschrieben. Aber im Unterschied zu den Mythen identifizieren sich die Evangelien radikal mit dem Sündenbock Jesus, dessen Unschuld hervorgehoben wird: "Ohne Grund haben sie mich gehasst." (Joh 15,25) Die Evangelien erkennen in Jesus einen zu Unrecht verfolgten Sündenbock. Er ist das "Lamm Gottes" (Joh 1,29) und steht damit in einer Linie mit dem geschlagenen Knecht des Deuterojesaja. Auch das im Neuen Testament auf Jesus bezogene Psalmwort vom Stein, "den die Bauleute verworfen haben" und der "zum Eckstein" wurde (Mk 12,10; Mt 21,42; Lk 20,17; Apg 4,11; 1 Petr 2,6f; vgl. Ps 118,22), zeigt einerseits Jesus als ausgeschlossenes Opfer und drückt aber andererseits auch schon die neue Sicht dieses Geschehens aus. Im Gott Jesu Christi offenbart sich jener biblische "Gott der Opfer", der sich mit allen Sündenböcken solidarisiert und die menschliche Verantwortung für die Gewalt ans Licht bringt. In ihm gründet die moderne Sorge um die Opfer, wie sie z. B. für die Tradition der Menschenrechte charakteristisch ist.

Dieser zentrale Unterschied zwischen heidnischem Opferdenken und Christentum war für Girard so wichtig, dass er anfänglich den Begriff "Opfer" für die Hingabe Christi am Kreuz entschieden ablehnte. Er berief sich dabei vor allem auf Mt 9,13 ("Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer") und auf Mt 5,23f, wonach die Versöhnung mit dem Bruder Vorrang vor dem rituellen Opfer habe, um im Blick auf Interpretationen des Kreuzes Christi als Opfer von einer "Lesart der Passion" zu sprechen, die als "paradoxestes und kolossalstes Missverständnis der gesamten Geschichte" gesehen werden müsse.(10) Um sich klar von der neuzeitlichen Gleichsetzung von Mythos und Bibel abzusetzen, wollte er nicht für die archaische Opferlogik und für die christliche Hingabe denselben Begriff verwenden. Wo die christliche Tradition auf die Opferterminologie zurückgriff, glaubte Girard damals einen Rückfall hinter die Position der Evangelien erkennen zu können. Eine solche Fehlinterpretation sah er bereits auf der Ebene des Neuen Testaments am Werk, wenn im Hebräerbrief der Tod Jesu von den Opfern des Alten Testamentes her gedeutet werde.(11) Girard wies besonders auf Hebr 9,22-26 und Hebr 10,11-14 hin.


Die paradoxale Einheit alles Religiösen: Girards Wende zum christlichen Opfer

Nach einigen Jahren hat Girard seine frühere Zurückweisung des Opferbegriffs für Jesu Hingabe am Kreuz zurückgenommen. So wie er in seiner Kritik der katholischen Reaktionäre gleichzeitig auch vor einer letztlich bloß umgekehrten Verherrlichung von Anarchie und Revolution warnte, wurde ihm vor allem durch seine Zusammenarbeit mit dem Innsbrucker Dogmatiker Raymund Schwager im Laufe der Zeit immer klarer, dass die bloße Betonung des Unterschieds zwischen archaischem Opfer und christlicher Hingabe noch nicht verhindert, umgekehrt einer "humanistischen oder 'progressistischen' Illusion" im Blick auf das Opfer zu verfallen.(12) Erste Zeichen einer veränderten Position zeigten sich schon in seinem 1982 erschienenen Buch Der Sündenbock, in dem er eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Hebräerbrief erkennen lässt.(13) Ausführlich hat Girard dann seine neue Position in einem Festschriftbeitrag zu Schwagers 60. Geburtstag im Jahre 1995 dargelegt. Seither ist er immer wieder auf seine veränderte Position zu sprechen gekommen. In der 2007 vorgenommenen leichten Überarbeitung seines Buches Das Ende der Gewalt distanziert er sich in einer langen Fußnote ausdrücklich von seiner früheren Position und streicht auch eine für ihn inzwischen untragbar gewordene Passage der früheren Ausgabe:


Die von mir vorgelegte nichtsakrifizielle Deutung sucht die Stellen, die uns den Tod Jesu als absolute Hingabe an die Jünger und an die gesamte Menschheit darstellen, keineswegs aus den Evangelien zu tilgen. 'Es gibt keinen größeren Liebesbeweis, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt' (Joh 15,13). Bemerken wir ein weiteres Mal, daß dieser Beweis in den Evangelien nie als Opfer bezeichnet wird. Bei Paulus herrschen Ausdrücke wie 'Werk der Liebe', 'Werk der Gnade' vor. Die seltenen Beispiele von sakrifizieller Sprache, die sich bei ihm finden, lassen sich als metaphorisch ansehen, da keine eigentlich sakrifizielle Theorie entsprechend der des Hebräerbriefes oder der darauf folgenden Theorien vorliegt.
(14)


Wie lässt sich Girards neue Position zusammenfassen? Er hält erstens fest, dass zwischen dem "Opfer Christi" und den "archaischen Opfern" ein "so großer Unterschied besteht, dass er kaum noch größer gedacht werden" könne.(15) Damit bekräftigt er seine schon das frühe Werk bestimmende Betonung des Unterschieds zwischen Mythos und Bibel. Doch diese Unterscheidung darf zweitens nicht als eine radikale Trennung verstanden werden, die jeden Zusammenhang zwischen den archaischen Religionen und der jüdisch-christlichen Offenbarung negiert. Girard spricht daher ausdrücklich von einer "paradoxalen Einheit alles Religiösen", die auf jene in der Schöpfung grundgelegte Ontologie des Friedens verweist, die letztlich auch in den archaischen Religionen wirksam ist.(16) Damit spricht Girard den am Beginn dieses Beitrags erwähnten zweiten Graben der Opferproblematik an, den illusionären Glauben, der Auszug aus der Welt der archaischen Opfer sei problemlos und ohne jeden Preis möglich. Wer nach Girard jeden Zusammenhang mit den archaischen Religionen zurückweist - wir modernen Menschen neigen gerade zu dieser Versuchung -, fällt bereits wieder in das Muster der Sündenbockjagd zurück, weil er von einer scheinbaren Position der Unschuld aus nur anklagend auf die archaischen Versuche, Frieden zu ermöglichen, zeigen kann. Diese Haltung führt sehr leicht zu jenen gut gemeinten Massakern, die gerade unsere moderne Welt kennzeichnen. Beispielhaft kann hier auf die Kritik von Bartolomé de Las Casas verwiesen werden, die sich gegen jene Massaker der christlichen Eroberer Lateinamerikas richtete, die in ihrem Kampf gegen die Menschenopfer die Opfergewalt der Indios bei weitem übertrafen.(17) Beeinflusst von Schwager konnte Girard solchen Gefahren entgehen und das Erlösungsgeschehen so beschreiben, dass es sowohl den Zusammenhang als auch den unaufgebbaren Unterschied zum archaischen Opfer benennt. Nach Girard lässt sich Jesu stellvertretendes Opfer als eine "göttliche Indienstnahme des Sündenbockmechanismus" verstehen: "Gott selber wendet das Schema des Sündenbocks wieder an, diesmal allerdings auf seine eigenen Kosten, um es umzustürzen."(18) Es ist also gerade das Kreuzesopfer Jesu, das das archaische Opfer aus den Angeln hebt.

Girards Betonung der paradoxalen Einheit alles Religiösen öffnet dessen Theorie für den interreligiösen Dialog, weil es keinen unüberwindlichen Graben mehr zwischen dem Christentum und allen anderen Religionen gibt. Systematisch genauso wichtig ist aber Girards Einsicht, dass sich die Gewalt, die letztlich hinter allen Opfern steht und in den mimetischen Rivalitäten der Menschen wurzelt, nicht einfach wegerklären lässt. Sie muss - solange sie vorhanden ist - entweder auf jemand anderen abgewälzt (Sündenbockmechanismus) oder als Leiden ertragen und dadurch überwunden werden (christliche Hingabe). Immer wieder hat Girard zur Erklärung dieses Unterschieds auf die biblische Erzählung vom salomonischen Urteil zurückgegriffen (1 Kön 3,16-28). Diese biblische Erzählung klärt am besten, in welchem Sinne zwischen der Opferung anderer und dem freiwilligen Selbstopfer unterschieden werden muss:

Man kann diesem Text die Minimierung des Abstandes zwischen den zwei Arten des Opfers nicht vorwerfen ... Wir selber sagen, daß die zweite Frau die Rivalität für ihr eigenes Kind opfert, während die erste die Opferung des Kindes zugunsten der Rivalität akzeptiert. Der Text hat uns zu sagen, daß man unmöglich auf das Opfer im ersten Sinne des Wortes, welches eine Opferung der anderen und die Gewalt gegen den anderen beinhaltet, verzichten kann, ohne ein Risiko auf sich zu nehmen. Es ist das Risiko des Opfers im zweiten Sinne des Wortes, welches das Opfer Christi, der für seine Freunde stirbt, meint. Der Rückgriff auf das gleiche Wort macht schlagartig den Illusionen des neutralen - der Gewalt völlig fremden - Bodens ein Ende. Ein solcher nicht-sakrifizieller Beobachtungsposten, den die Weisen und die Gelehrten für sich permanent in Anspruch nehmen könnten, um sich die Wahrheit mit geringeren Nebenkosten zu verschaffen... bleibt eine Illusion."
(19)


Der Auszug aus der Welt des archaischen Opfers muss nach Girard also als dessen Transformation und nicht als moralistische und anklagende Abhebung erfolgen. Das vorhandene Gewaltpotential muss - möglicherweise unter Einsatz des eigenen Lebens - verwandelt werden. John Lennons Parole "nothing to kill or die for" verkörpert dagegen jene von Girard kritisierte illusionäre Neutralität, die uns vormachen will, dass der Ausstieg aus der Gewalt risikofrei zu haben sei. Allzu leicht erfordert das Scheitern solcher Träume dann neue Sündenböcke, denen die Verantwortung für den Unfrieden in die Schuhe geschoben werden muss. Girards Hinwendung zum Gedanken der Transformation berührt sich einmal mehr mit der von Raymund Schwager begründeten dramatischen Theologie, die ähnlich wie Girard die Notwendigkeit der Transformation des Opfers betont.(20)

Zusammenfassung

Über Jahre rang René Girard um eine adäquate Opfertheorie. Stand anfänglich der Unterschied zwischen archaischen Opfern und der biblischen Aufdeckung des Sündenbockmechanismus im Vordergrund, der Girard davon abhielt, für die Hingabe Jesu am Kreuz auch den Begriff des Opfers zu verwenden, so betont er heute neben diesem Unterschied auch einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Formen von Religion. Im christlichen Opfer erkennt er nun die Transformation der archaischen Institution und weist damit Vorstellungen von einem risikofreien Ausstieg aus dem Opfer als illusionär zurück.


Prof. Dr. Wolfgang Palaver lehrt Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkt ist der Zusammenhang von Religion, Politik und Gewalt. (E-Mail: wolfgang.palaver@uibk.ac.at


Anmerkungen:

(1) Juan Donoso Cortés, Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus und andere Schriften aus den Jahren 1851 bis 1853, Wien 32007, 196.

(2) Joseph de Maistre, Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche über das zeitliche Walten der Vorsehung, Wien 2008, 78.

(3) Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1987, 36.

(4) Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, 136.

(5) Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main 1998, 152; Jürgen Habermas, Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt ans Main 2001, 192f.

(6) Vgl. Wolfgang Palaver, René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, Münster 32008; Jacob Nordhofen, Durch das Opfer erlöst? Die Bedeutung der Rede vom Opfer Jesu Christi in der Bibel und bei René Girard, Wien 2008.

(7) René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987; René Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, München 2002, 109-124.

(8) René Girard, Das Ende der Gewalt. Analysen des
Menschheitsverhängnisses, Freiburg 2009, 125.

(9) René Girard, Hiob - ein Weg aus der Gewalt, Zürich 1990, 195-211.

(10) Girard, Ende der Gewalt, 233.

(11) Ebd. 253-286.

(12) Ebd. 301.

(13) René Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988, 283.

(14) René Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg 1983, 253; vgl. Girard, Ende der Gewalt, 301.

(15) René Girard, Mimetische Theorie und Theologie, in: Józef Niewiadomski/Wolfgang Palaver (Hg.), Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. FS Schwager, Thaur 1995, 15-29, 25.

(16) Ebd. 27.

(17) Richard Schenk, Opfer und Opferkritik aus der Sicht römisch-katholischer Theologie, in: Richard Schenk (Hg.), Zur Theorie des Opfers. Ein interdisziplinäres Gespräch, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 193-250, 198f.

(18) Girard, Theorie, 28.

(19) Ebd. 27f.

(20) Raymund Schwager, Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre, Innsbruck 1990.


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Quelle:
Bibel und Kirche - Organ der Katholischen Bibelwerke in Deutschland,
Österreich und der Schweiz, 64. Jahrgang, 3. Quartal 2009, 3/2009, Seite 173-178
Herausgeber: Dr. Franz-Josef Ortkemper, Dipl.-Theol. Dieter Bauer,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2009