Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

FRAGEN/010: Der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit im Gespräch (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 12/2010

"Um der Würde des Menschen willen"
Der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit, Heiner Bielefeldt, im Gespräch

Die Fragen stellte Alexander Foitzik


Seit August dieses Jahres ist Heiner Bielefeldt im Ehrenamt Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Vereinten Nationen. Wir sprachen mit dem Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Universität Nürnberg-Erlangen über die Leitkulturdebatte in Deutschland, rechtspopulistische Parteien in Europa und die Diskussion über Religionsfreiheit im Islam.


HK: Herr Professor Bielefeldt, mit welchen "Gefühlen" verfolgen Sie als UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit die gegenwärtig wieder frisch aufgeflammte Diskussion um eine Leitkultur in Deutschland? Gibt es in dieser Diskussion für Sie beunruhigende islamophobe Untertöne?

BIELEFELDT: Ich verfolge diese Diskussion mit Unbehagen. Natürlich lässt sich ein Stück weit nachvollziehen, dass sich die Debatte über die deutsche Integrationspolitik stark am Thema Islam festmacht. Denn der Wandel unserer Gesellschaft zeigt sich eben besonders sichtbar darin, dass seit 15 oder 20 Jahren Moscheen gebaut werden und auch Kopftücher im Straßenbild dazugehören. Auf der anderen Seite muss man aber sagen: Religion und konkret der Islam sind eigentlich nicht die Schlüsselthemen der deutschen Integrationspolitik, sondern nur ein Teilbereich derselben. Weder für die Analyse der aktuellen integrationspolitischen Probleme noch für die Entwicklung von Handlungsstrategien stellen sie den entscheidenden Faktor dar. Wenn es beispielsweise um Bildungspolitik geht, entsteht gleichwohl schnell der Eindruck, bestimmte Segregationstendenzen hätten damit zu tun, dass Muslime unter sich bleiben oder ganze Hauptschulen "übernehmen" wollen, was in solcher Schlichtheit nur Unsinn ist.

HK: Spielt also der Aspekt Religion für Integration beziehungsweise Integrationsverweigerung gar keine Rolle?

BIELEFELDT: Religion spielt natürlich eine Rolle, ist aber eben nicht der Schlüssel zum Verständnis und zur Lösung der entscheidenden Integrationsprobleme. Da wären vorrangig andere Faktoren zu bedenken. Es geht beispielsweise um die Entwicklung der Mietpreise in den Städten, überhaupt wesentlich um sozioökonomische Fragen oder konkret auch um das verständliche Interesse von bildungsorientierten Eltern, ihre Kinder in gute Schulen zu schicken. Und hier beginnt mein Unbehagen an der aktuellen Debatte, denn das Thema Islam mobilisiert jede Menge Ressentiments, das ist in den letzten Wochen einmal mehr offenkundig geworden. Da finden allerlei Projektionen und schlichte Schuldzuschreibungen statt. Die Schwierigkeiten der Integrationspolitik werden alle in einen Topf geworfen und mit dem Etikett "Islam" versehen - als handele es sich um Akte islamischer Landnahme, den gezielten Aufbau von Parallelgesellschaften oder gar den Versuch, die Scharia in Deutschland einzuführen. Das sind Zerrbilder, nicht selten leider verbunden mit demagogischer Stimmungsmache.

HK: Steht hinter solchen Ressentiments auch ein problematisches Verhältnis zur Religionsfreiheit als einem zentralen Bestandteil unserer Staats- und Gesellschaftsordnung?

BIELEFELDT: Ja, wobei manche Phänomene, aus menschenrechtlicher Perspektive gesehen, eher dem Bereich Rassismus zuzuordnen sind als der Religionsfreiheit. Natürlich kommt es zu Überschneidungen, gerade wenn Fragen von Religion und Ethnie ineinander übergehen - was übrigens auch ein Problem der Islamkonferenz ist, die gleichzeitig ein religionspolitisches und ein integrationspolitisches Projekt darstellt. Interessant ist, dass nach einer vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebenen, Ende 2007 veröffentlichten Studie über Muslime in Deutschland die meisten Muslime sagen, mit der Religionsfreiheit hätten sie wenig Probleme hierzulande. Die Mehrheit fühlt sich nicht ernsthaft eingeschränkt in der Ausübung ihrer Religion. Aber sehr viele sehen sich täglich Stigmatisierungen ausgesetzt, leiden darunter, dass man ihnen eine negative, kollektive Mentalität zuschreibt, in der die Individuen dann praktisch verschwinden oder jedenfalls nicht ernst genommen werden. Wenn man dann auch noch Vorgänge wie das absurde Minarett-Verbot in der Schweiz betrachtet, kann man sich schon sorgen, dass auch der Wert der Religionsfreiheit aus dem Blick geraten könnte - ein Wert, auf den wir stattdessen stolz sein und den wir stark machen sollten.

HK: Braucht es in Deutschland demnach wieder etwas mehr Bewusstseinsarbeit in Sachen Religionsfreiheit?

BIELEFELDT: Die braucht es immer. Der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages hat Ende Oktober eine öffentliche Anhörung zur Frage der Religionsfreiheit und der europäischen Identität durchgeführt, um wieder einmal in Erinnerung zu rufen, dass Religionsfreiheit ein zentraler Bestandteil unseres Selbstverständnisses in Europa ist. Die Religionsfreiheit hat den Stellenwert eines universalen Menschenrechts und gilt gleichermaßen für die hier traditionell ansässigen Religionsgemeinschaften und ihre Angehörigen wie für Angehörige neuer Religionen, sie bezieht sich auf große wie kleine Religionsgemeinschaften, und auch Atheisten können sich selbstredend auf die Religionsfreiheit berufen. Sie bildet die entscheidende Grundlage für die Gestaltung einer religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft.

HK: Stellen hier stark gewordene rechtspopulistische Parteien in Europa eine ernst zu nehmende Gefahr dar - für dieses hohe Gut Religionsfreiheit und damit für das friedliche Zusammenleben in den pluralistischen europäischen Gesellschaften überhaupt?

BIELEFELDT: Diese Gefahr besteht ohne Zweifel. Ob man nach Holland schaut, wo Geert Wilders mit seinen abstrusen Forderungen die Minderheitsregierung vor sich her treiben kann, oder nach Österreich auf die Erben Jörg Haiders - rechtspopulistische Parteien erleben in vielen Staaten Europas Auftrieb. Auch in Deutschland zeigen Umfragen der letzten Wochen, dass es ein rechtspopulistisches Potenzial gibt: bis zu 20 Prozent der Deutschen würden demnach eine entsprechende Partei wählen. Das ist natürlich beunruhigend. Die Politik reagiert darauf ambivalent. Einerseits gab es beispielsweise erfreuliche Klarstellungen gegenüber den islamfeindlichen Thesen von Thilo Sarrazin, aber leider dann auch manchen kurzsichtigen Opportunismus, eben weil man merkt, wie stark die Zustimmung zu Sarrazins Thesen in der Bevölkerung ausfällt.

HK: Wenn von der Verletzung oder Gefährdung der Religionsfreiheit die Rede ist, denkt man gemeinhin an den Iran oder arabische Staaten. Nehmen sich im Vergleich mit anderen Brennpunkten solche deutschen oder europäischen Probleme nicht doch ziemlich harmlos aus?

BIELEFELDT: Ein solches Ranking scheint mir nicht sinnvoll zu sein. Das klingt für die Betroffenen von Diskriminierung und Stigmatisierung nämlich wie eine Verhöhnung. Sie werden zu Opfern dritter Klasse, weil etwa noch keine physischen Bedrohungen vorliegen. Wer täglich böse Blicke erlebt, leidet genug. Gleichwohl stimmt es natürlich, dass es in Europa verglichen mit anderen Regionen dieser Welt doch relativ gut um die Religionsfreiheit steht. Wir beobachten in unseren Breiten jedenfalls keine massiven staatlichen Verfolgungsmaßnahmen. Es finden aber durchaus Diskriminierungen statt. Jedenfalls hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg immer wieder Anlass, Staaten zu verurteilen, zum Beispiel wegen diskriminierender Praktiken gegenüber den Zeugen Jehovas. Aber wenn man beispielsweise auf die massive staatliche Ausgrenzung der Ahmadiyya-Bewegung in Pakistan, auf die Verfolgung von Baha'i-Angehörigen in Iran oder der Falung Gong seitens der chinesischen Regierung schaut, wird deutlich, dass man die Proportionen im Blick behalten muss. Kurz: Kein Anlass zur Selbstzufriedenheit in Europa, aber auch die Erfolge und das Erreichte sehen und wertschätzen!

HK: Ihre Vorgängerin Asma Jahangir kam aus Pakistan, sozusagen aus einem "Brennpunkt" für das Thema Religionsfreiheit. Ihr persönlicher Erfahrungskontext ist ein recht anspruchsvolles Modell für den Umgang des Staates mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Was bedeutet dieser Hintergrund für Ihre Arbeit, wo werden Sie Schwerpunkte setzen?

BIELEFELDT: Andere werden besser als ich selbst beurteilen können, wo bei mir möglicherweise Befangenheiten vom eigenen Erfahrungshorizont her existieren. Sicher ist: Ich muss mich auf deutlich andere Verhältnisse einstellen, und manchmal verschlägt es mir bei der Einarbeitung in die Situation anderer Länder geradezu den Atem. Es ist kaum vorstellbar, welche Hassgefühle gegenüber religiösen Minderheiten in vielen Gegenden der Welt bestehen und geschürt werden. Es ist ein Hass, der sich oft speist aus der Verbindung von Angst, die bis zu Verschwörungstheorien reichen kann, und Verachtung. Wobei das an sich eine paradoxe Mischung ist, hat man doch Angst vor jemandem, der vermeintlich stärker ist, und verachtet den eher Unterlegenen. Oft wird es also in den nächsten Jahren darum gehen, sich auf ganz elementare Problemstellungen bei der Verwirklichung der Religionsfreiheit einzulassen.

HK: Inwieweit taugt das deutsche, das westliche Modell der - wie es beispielsweise in Begründungen des Bundesverfassungsgerichtes heißt - "respektvollen Nicht-Identifikation des Staates mit Religion" auch als Modell für die Welt?

BIELEFELDT: Es ist ganz sicher ein sinnvolles Modell. Die Religionsfreiheit hat den Stellenwert eines Menschenrechts, das wie alle Menschenrechte vom Staat ohne Diskriminierung gewährleistet werden muss. Dieser Anspruch der Nicht-Diskriminierung impliziert zugleich den Anspruch auf Nicht-Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung. Denn jede Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Religion birgt das nahe liegende Risiko von Ungleichbehandlungen. Die in der Religionsfreiheit begründete respektvolle Nicht-Identifikation stellt gleichsam die Tiefengrammatik des säkularen Rechtsstaates dar, wie man ihn in unterschiedlichen Varianten in europäischen Staaten, in Kanada, in den USA oder in vielen lateinamerikanischen Staaten finden kann. Es gibt durchaus auch Debatten im islamischen Kontext, ob der säkulare Rechtsstaat nicht ebenso für islamische Gesellschaften eine sehr plausible Option darstellt.

HK: Sehen Sie Exportchancen?

BIELEFELDT: Es geht nicht um den Export eines bestimmten europäischen oder gar deutschen Modells, sondern um die systematischen Konsequenzen aus dem Menschenrecht der Religionsfreiheit. Das internationale Recht ist dabei nicht so angelegt, dass es genau dieses säkulare Modell der respektvollen Nicht-Identifikation vorschreibt. Aber existierende Systeme von Staatskirchentum oder Staatsreligion geraten zumindest unter einen besonderen Rechtfertigungsdruck. Die entsprechenden Staaten müssen den Beweis antreten, dass, wenn eine Staatsreligion besteht, diese nicht diskriminierend wirkt. Das Gegenstück zum System der Staatsreligion wäre die bewusste Nicht-Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, eben aus Respekt vor der Religionsfreiheit. Dieser Anspruch ist allerdings nirgends vollständig und widerspruchsfrei eingelöst, auch in Deutschland oder Europa nicht.

HK: Gerade von kirchlicher Seite gibt es immer wieder Kritik an einem sich ausbreitenden mehr oder minder aggressiven Säkularismus in Europa. Stellt auch dieser eine Gefahr für die Religionsfreiheit dar?

BIELEFELDT: Mit dem Schlagwort Säkularismus kann vieles gemeint sein - auch eine postreligiöse oder antireligiöse Weltanschauung. Dass säkularistische Weltanschauungen existieren und sich organisieren, stellt an sich natürlich keine Gefährdung der Religionsfreiheit dar, sondern bedeutet allenfalls neue Konkurrenz für die traditionellen Religionen. Es gibt ja nicht nur die Konkurrenz zwischen Christentum und Islam beispielsweise, sondern auch die Konkurrenz zwischen dezidiert nicht-religiösen und religiösen Menschen. Die Religionsfreiheit ist in dieser Konkurrenzsituation kein Instrument der einen gegen die anderen. Denn selbstverständlich können sich auch die Anhänger einer atheistischen Weltanschauung auf Religionsfreiheit beziehen, die genau deshalb im vollständigen Titel "Freiheit der Religion und Weltanschauung" heißt. Problematisch wird es erst, wenn aus atheistischen Weltanschauungen Staatsideologien werden, wie es beispielsweise beim Staatsmarxismus der Fall ist.

HK: Im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen gab es, forciert durch islamische Staaten, in den vergangenen Jahren immer wieder Diskussionen um den Schutz der Religionen vor Diffamierung. Fällt dieses Anliegen in Ihren Zuständigkeitsbereich oder stellt es für Ihre Arbeit eher ein massives Problem dar?

BIELEFELDT: Das ist ein großes Problem. Klar ist: Religionen können also solche nicht Subjekte von Menschenrechtsansprüchen sein. Das klingt trivial, ist politisch aber höchst brisant. Es gibt nämlich bei einigen Staaten ein Interesse daran, die Religionsfreiheit zu überformen durch Konzepte, die auf eine Art "Ehrschutz" für Religionen hinauslaufen würden. Bei der Religionsfreiheit geht es aber nicht um die Ehre der Religionen, sondern um die Freiheit der Menschen, sich in Fragen von Religion und Weltanschauung selbständig zu orientieren, offen zu kommunizieren, ihren Glauben öffentlich zu manifestieren und gegebenenfalls auch Kritik an religiösen Institutionen zu üben.

HK: Was wären die möglichen politischen Konsequenzen eines solchen "Ehrschutzes" für Religionen?

BIELEFELDT: Womöglich würden Staaten dieses angebliche Schutzrecht in Anspruch nehmen, etwa um gegen so genannte "blasphemische" Tendenzen vorzugehen, was dann schnell ins Autoritäre abrutschen würde. Aus Sicht der Menschenrechte kann ein solcher Ansatz nur in die Irre führen. Meine Vorgängerin Asma Jahangir hat sich deshalb wiederholt klar gegen das Konzept der Bekämpfung von Religionsdiffamierung ausgesprochen. In meiner Antrittsrede vor der Generalversammlung Mitte Oktober habe ich mich dem angeschlossen und ebenfalls gefordert, dieses Konzept fallen zu lassen.

HK: Stehen hinter dieser Forderung nach einem besseren Schutz der Religionen vor Diffamierung auch berechtigte Anliegen?

BIELEFELDT: Sicher, wir müssen beispielsweise die Frage nach den Schranken der Meinungsfreiheit noch einmal genau diskutieren. Im internationalen Menschenrechtsschutz gilt die Meinungsfreiheit keineswegs schrankenlos. Vielmehr soll laut Artikel 20 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte Hass-Propaganda unterbunden werden. Hasspropaganda, die sich womöglich auch in Hasstaten manifestiert, kann nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sein. Das ist an sich klar, bedarf aber vielleicht noch mancher Präzisierungen. Einzelne Aspekte der Debatte um die Bekämpfung der Diffamierung von Religion könnten in diesem Zusammenhang aufgegriffen, müssten aber zugleich konzeptionell ganz anders gestaltet werden.

HK: Gibt es generell im UNO-Menschenrechtsrat so etwas wie eine ausgesprochen-unausgesprochene Opposition der islamischen Staaten gegen die anderen?

BIELEFELDT: Regionale Blockbildungen sind in der UNO eine Realität. Anders als in der Zeit des Ost-West-Konflikts gibt es allerdings nicht nur zwei, sondern mehrere Blöcke, die im Unterschied zur Epoche des Kalten Krieges auch etwas variabler agieren. Blöcke können sich durchaus verschieben, und ihre Relevanz schwankt von Thema zu Thema. In jedem Fall gilt, dass Blockbildungen in der Staatenwelt kein unabänderliches Schicksal sind, sondern bearbeitet und vielleicht auch aufgebrochen werden können.

HK: Zu Ihrer Aufgabe gehören exemplarische Länderinspektionen. Wo werden Sie lokale Schwerpunkte setzen?

BIELEFELDT: Die Länderinspektionen erfolgen nach mehreren unterschiedlichen Kriterien: zum Beispiel nach der Dringlichkeit der Problemlage, nach exemplarischen Problemstellungen, aber auch nach regionaler Vielfalt. Man könnte also nicht einfach die Länder Osteuropas eines nach dem anderen unter die Lupe nehmen. Es ist außerdem sinnvoll, nicht ausschließlich die schwerwiegenden Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, sondern auch ambivalente Tendenzen oder positive Bewegungen aufzuzeigen. Auch das gilt es bei der Entscheidung über Länderbesuche zu berücksichtigen. Das erste Land, das ich bereisen werde, wird Paraguay sein. Denn in den 25 Jahren, in denen das UN-Mandat zur Religionsfreiheit existiert, wurde Lateinamerika nur ein einziges Mal besucht. Als Europäer sollte ich innerhalb der ersten Reisen sicherlich auch ein europäisches Land besuchen, sonst könnte der Eindruck entstehen, dass ich die europäischen Probleme in Sachen Religionsfreiheit nicht ernst nehme. Es gibt ja durchaus gewichtige Probleme von Diskriminierung oder von Demagogie gegenüber religiösen Minderheiten in Europa. Genauso sicher werde ich aber auch innerhalb der ersten drei oder vier Besuche ein islamisches Land bereisen, wo dann vermutlich unter anderem auch der Umgang mit Konvertiten und die Lage religiöser Minderheiten zur Untersuchung anstehen werden.

HK: Welche Rolle spielen die Religionen, ihre Führer und Gläubigen selbst für den Schutz der Religionsfreiheit?

BIELEFELDT: Die Religionsfreiheit kann nur dann nachhaltig wirksam werden, wenn auch die Religionsgemeinschaften selbst eine Chance darin sehen. Solange sie sich allenfalls zähneknirschend darauf einlassen, wird es um die Praxis der Religionsfreiheit nicht gut bestellt sein. Wir wissen auch aus der europäischen Geschichte und von den christlichen Kirchen, dass die Anerkennung der Religionsfreiheit nicht einfach ist. In der katholischen Kirche gelang der Durchbruch bekanntlich erst mit dem Zweiten Vatikanum. Es bedarf oftmals langwieriger interner Lernbewegungen, bis sich innerhalb der Religionsgemeinschaft die Einsicht Bahn bricht: Hier wird uns nichts genommen, hier wird nichts zerstört. Die Religionsfreiheit ist um der Würde des Menschen willen notwendig, und letzten Endes stellt sie eine enorme Chance für die Religionsgemeinschaften selbst dar.

HK: Wie steht es um diese Lernprozesse - grob gesprochen - in der islamischen Welt? Wo liegen die Haupthindernisse?

BIELEFELDT: Es ist noch eine Menge innerer Klärung notwendig. Häufig stößt man im islamischen Kontext auf die Verwechslung von Religionsfreiheit mit der klassischen islamischen Toleranzvorstellung. Diese war jedoch viel enger angelegt, weil von vornherein nur bestimmte Religionsgruppen, nämlich die Angehörigen der vorislamischen Buchreligionen, darin eingeschlossen waren. Große Schwierigkeiten wirft nach wie vor die Frage des Glaubenswechsels vom Islam zu einer anderen Religion auf. Der Prozess der Anerkennung der Religionsfreiheit als eines unveräußerlichen Freiheitsrechts aller Menschen ist im islamischen Bereich unterschiedlich weit gediehen. Innerislamische Lernprozesse stehen großenteils noch aus, sind aber unerlässlich. Es wird sich hoffentlich immer mehr die Einsicht durchsetzen, dass Religion nur in Freiheit authentisch sein kann. Denn Glaube und Glaubenspraxis sind Ausdruck einer inneren Entscheidung, die ein Leben lang gefährdet bleiben kann.

HK: Welche Rolle erwarten Sie sich von den Kirchen hier in Deutschland im Zusammenhang der neuerlichen integrationspolitischen Debatte?

BIELEFELDT: Als der Bundespräsident die an sich nicht sehr aufregende Aussage formuliert hat, dass auch der Islam mittlerweile ein Teil Deutschlands sei, gab es seitens der Kirchen erfreulicherweise keinen hörbaren Widerspruch. Angesichts der heftigen Kritik am Bundespräsidenten durch Teile der Öffentlichkeit hätten die Kirchen aber schon noch deutlicher werden und die Aussage des Präsidenten aktiv verteidigen können. Wir sind ja schließlich eine pluralistische Gesellschaft, und unsere Verfassungsordnung enthält die Religionsfreiheit. Das müssen wir in allen Konsequenzen durchtragen, auch was die symbolische Präsenz religiöser Überzeugungen betrifft, die dann eben - in Gestalt von Kopftuch und Minarett - auch das öffentliche Leben in Deutschland mitprägt. Ich wünschte mir von den Kirche außerdem mehr Widerspruch gegenüber allzu schlichten Konzepten von Leitkultur, in denen das Christentum oft eine merkwürdige Adjektiv-Rolle spielt: "christlich geprägt", "christlich-jüdisch", "christlich-aufgeklärt" oder womöglich sogar "christlich-säkular". Diese Adjektiv-Konfigurationen haben wenig Substanz und harmonisieren die oft schmerzhaft und konflikthaft verlaufenen historischen Lernprozesse.

HK: Müssen die Kirchen in dieser Leitkulturdebatte demnach noch stärker darauf achten, nicht instrumentalisiert zu werden?

BIELEFELDT: Es läge zumindest im ureigenen Interesse der Kirchen gegenüber solchen Hegemonialkonzepten, die dem Christentum eine Dominanzrolle zusprechen, etwas stacheliger zu sein - um ihres eigenen religiösen Profils willen und zugleich auch im Interesse eines guten Miteinanders im religiösen Pluralismus.

Heiner Bielefeldt (geb. 1958), Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Universität Nürnberg-Erlangen, im Ehrenamt Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Vereinten Nationen. Von 2003 bis 2009 stand der an der Universität Bremen habilitierte Philosoph und katholische Theologe dem Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin als Direktor vor. Bielefeldt ist seit 1999 Mitglied der Deutschen Kommission Justitia et Pax und dort zuständig für Fragen der Menschenrechte.

Alexander Foitzik, Redakteur Dipl. theol., geboren 1964 in Heidelberg. Studium der Katholischen Theologie in Freiburg und Innsbruck. Seit 1992 Redakteur der Herder Korrespondenz.


*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2010, S. 609-613
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,29 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2011