Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

FRAGEN/033: Dr. Julia Enxing zum Umgang mit Schuld in der katholischen Kirche (wissen leben - WWU Münster)


wissen leben - Nr. 2, 9. april 2014
Die Zeitung der WWU Münster

"Ein schmerzhafter Prozess"

Dr. Julia Enxing forscht zum Umgang mit Schuld in der katholischen Kirche - ein Interview von Caroline Frank



2010 überflutete eine große Welle der Aufdeckung von sexuellem Missbrauch die katholische Kirche. Bis heute fehlen innerkirchlich eine klare Position und ein offener Umgang mit dieser Thematik. Gleichzeitig scheint sie eine entscheidende Rolle für die Zukunft zu spielen. Für Dr. Julia Enxing, Theologin am Exzellenzcluster, waren diese Ereignisse und der Umgang mit ihnen Anlass, sich wissenschaftlich mit dem Thema zu befassen. Caroline Frank sprach mit ihr über Schuld und Sünde in der Kirche.


C.F.: Was reizt Sie an diesem schwierigen Thema?

Dr. Julia Enxing: Es sind die "schwierigen Themen", die Prüfstein der Authentizität der kirchlichen Botschaft und des kirchlichen Selbstverständnisses sind. Außerdem wird an ihnen oftmals deutlich, wie angespannt das Verhältnis von Amtskirche und dem "gemeinsamen Priestertum der Gläubigen" ist und wie groß die Herausforderung, sich als Kirche in der Welt von heute zu positionieren und wirksam zu werden. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kirche ist immer auch eine Auseinandersetzung mit mir selbst als Teil dieser Kirche. Es ist ein Prozess des ständigen Hinterfragens und Reflektierens, der mitunter sehr schmerzhaft sein kann.


C.F.: Es macht den Anschein, als stagniere die Auseinandersetzung mit den Sexualdelikten. Seit 2010 fanden keine nachhaltigen Bemühungen statt, sich diesem Thema zu stellen und die Straftaten zu verfolgen. Warum ist dies so schwierig für die Kirche?

Dr. Julia Enxing: Ganz so schwarz sehe ich die Situation nicht. Auf vielen Ebenen wurde die Problematik durchaus sehr ernst genommen. Auch viele Amtsträger haben das Ihre dazu beigetragen, Dialogprozesse zu initiieren. Sie haben zudem Schritte unternommen, um künftigem Fehlverhalten vorzubeugen. So sind mittlerweile beispielsweise Präventionsschulungen für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichtend. Allerdings wurde auch deutlich, dass es beim kirchlichen Umgang mit der eigenen Schuld so etwas wie eine "Tradition der Sprachlosigkeit" gibt. Gerade weil es so schwer fällt, Schuld und Vergehen zur Sprache zu bringen, anzuerkennen und in das Selbstbild der Kirche zu integrieren, wurden Schweigekartelle errichtet, die die (sexuellen) Gewalttaten von kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über Jahrzehnte verdeckt hielten.


C.F.: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?

Dr. Julia Enxing: Sich nicht nur auf individueller, sondern auch auf struktureller Ebene mit Schuld zu befassen, ist eine der größten Herausforderungen der Zeit. Nach wie vor gibt es innerkirchlich Tendenzen, so etwas wie eine "kollektive" oder "strukturelle" Schuld zu leugnen und Schuld ausschließlich als Verfehlung Einzelner zu verstehen und somit zu relativieren. Ein neues Verständnis über die Dimensionen der Schuld ist notwendig. Es sollte der Tatsache Rechnung tragen, dass Schuld nie nur ein Problem einzelner ist, sondern immer auch die Gemeinschaft als Ganzes betrifft. Das entspricht auch meinem persönlichen Verständnis von Kirche: Ich verstehe sie nicht nur als die unsichtbare, himmlische Kirche, sondern auch als konkrete irdische Zeugnisgemeinschaft. Als Teil dieser Gemeinschaft bin ich ebenso Teil des Schmerzes und des Glaubwürdigkeitsverlustes, an dem die Gemeinschaft derzeit so schwer trägt.


C.F.: Schuld zu messen, ist sicherlich nicht möglich. Empirische Daten zu Fallzahlen gibt es kaum. Schätzungen aus verschiedenen Ländern zufolge fallen ein bis fünf Prozent der Mitarbeiter in katholischen Einrichtungen durch Missbrauch auf. Auch in der evangelischen Kirche gab es Fälle, jedoch stehen diese Zahlen in keiner Relation zueinander. Ist dies also eine rein katholische Problematik?

Dr. Julia Enxing: Es ist eine ökumenische, wenn nicht sogar universale Fragestellung. Auch in der evangelischen Kirche sind Fälle sexueller Gewalt bekannt, und auch hier wurden Anlauf- und Beratungsstellen eingerichtet. Nach Angaben der Traumatherapeutin Ursula Enders ist das Problem in beiden Kirchen gleich groß. Auf der einen Seite war es die ausgeprägte Hierarchie, die ein Verschweigen der Taten und Versetzen der Straftäterinnen und Straftäter möglich gemacht hat. Auf der anderen Seite hat das "Leitungsvakuum" dazu geführt, dass sie lange Zeit unerkannt blieben. Dennoch scheint es, als ob in der evangelischen Kirche ein anderer Umgang mit Schuld herrscht: Margot Käßmann nimmt wegen eines Verkehrsdelikts ihren Hut, aber einige katholische Priester, die Kinder vergewaltigt haben, wurden von ihren Vorgesetzen lediglich in eine andere Gemeinde versetzt, wo es zum Teil zu erneuten Fällen sexueller Gewalt ebendieser Priester kam. Dies ist keine Auseinandersetzung mit der Schuld, sondern eine Verdrängung.


C.F.: Diese Missstände nahmen Sie zum Anlass, sich dem Thema intensiver zu widmen. Die Tagung "Schuld als Herausforderung für Theologie und Kirche", die Ende Mai in Münster stattfindet, war Ihre Idee - was erhoffen Sie sich von der Tagung?

Dr. Julia Enxing: Ich erhoffe mir einen Dialog, ein Sprechen über die Schuld und eine offene und konstruktive Auseinandersetzung mit verschiedenen Zugängen, Schuld zu denken und zu benennen. Das ist aus meiner Sicht notwendig, damit Kirche wieder glaubwürdiger wird und Vertrauen zurückgewinnt. Für mich ist die Kernfrage: Wie können wir die Schuld und das Schuldbekenntnis in das Selbstverständnis der Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen integrieren? Menschliche Verfehlungen wird es immer geben, überall, auch in der Kirche. Diese Realität anzuerkennen, zu besprechen und einen Umgang im Innern sowie nach Außen damit zu finden, wünsche ich mir sehr. Deshalb möchte ich ein wissenschaftliches Netzwerk schaffen, um die Arbeit am Umgang mit Schuld kontinuierlich voranzutreiben. Es soll ein ökumenisches Netzwerk sein, in dem auch für innovative und ungewöhnliche Ansätze Platz sein wird.


C.F.: Welchen Einfluss hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung auf die theologische Praxis?

Dr. Julia Enxing: Diese Frage ist zentral und gleichzeitig sehr schwer zu beantworten. Selbstverständlich sollten beide Seiten - Wissenschaft und Praxis - möglichst eng ineinandergreifen, was vielfach, jedoch nicht immer, der Fall ist. Die Relevanz der theologischen Forschung lässt sich mitunter daran messen, wie sehr es ihr gelingt, Impulse aus der theologischen Praxis aufzugreifen und umgekehrt impulsgebend für diese zu sein. Wie für viele Wissenschaften so muss es auch ein zentrales Anliegen der theologischen Forschung sein, ihre Anschlussfähigkeit für die Praxis immer wieder zu reflektieren und zu intensivieren.

*

Quelle:
wissen leben - Die Zeitung der WWU Münster, Nr. 2, 9. April 2014, S. 6
Herausgeberin:
Die Rektorin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Redaktion: Norbert Robers (verantw.)
Pressestelle, Schlossplatz 2, 48149 Münster
Telefon: 0251/832 22 32, Fax: 0251/832 22 58
E-Mail: unizeitung@uni-muenster.de
Internet: www.uni-muenster.de
 
Die Zeitung ist das offizielle Organ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Im freien Verkauf beträgt die Bezugsgebühr ein Euro/Stück.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2014