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FRAGEN/022: Ein Gespräch mit Oliver Müller, Leiter von Caritas international (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 1/2012

"Die Partner reden uns ins Gewissen"
Ein Gespräch mit Oliver Müller, Leiter von Caritas international

Die Fragen stellte Alexander Foitzik



Die Zahl der Naturkatastrophen nimmt durch den Klimawandel bedingt spürbar zu. Entsprechend forciert Caritas international, das Hilfswerk der deutschen Caritas, seit einigen Jahren schon die Katastrophen-Vorsorge. Über das Verhältnis von Prävention und Katastrophenhilfe, deren Wirksamkeit und die Schwierigkeiten bei der Finanzierung sprachen wir mit Oliver Müller, dem Leiter von Caritas international.


HK: Herr Dr. Müller, mit Blick auf die Klimakonferenz in Durban hat Ende November "Caritas international" einen besseren Klimaschutz gefordert sowie die Ausweitung der Katastrophen-Vorsorge in den von Wetterextremen besonders betroffenen Regionen. Was steht hinter Ihrem eindringlichen Appell?

MÜLLER: Die Zahl der Naturkatastrophen nimmt spürbar zu, mittlerweile sind es durchschnittlich 400 pro Jahr. In den neunziger Jahren gab es etwa um die Hälfte weniger solcher Naturkatastrophen. Nach heutigen Erkenntnissen hat dieser Anstieg sehr stark mit dem Klimawandel zu tun. Was wir hier in Europa noch kaum wahrnehmen, ist in anderen Regionen der Erde nicht mehr zu übersehen: Die Regenniederschläge werden deutlich heftiger, auch wenn die Niederschlagsmenge deswegen im Durchschnitt nicht unbedingt steigt. Dürreperioden dauern heute länger.

HK: Wäre denn manche Naturkatastrophe der jüngeren Zeit weniger schlimm verlaufen und hätte weniger Opfer gefordert, wenn es eine angemessene Prävention gegeben hätte?

MÜLLER: Es ist ja nicht so, dass die heftigen Regenfälle alleine oder die Dürre Menschen töten. Es ist die hohe Verwundbarkeit der betroffenen Gesellschaften, die so hohe Opfer fordert. Auch das Erdbeben an sich tötet nicht, sondern ein schlecht gebautes, unsicheres Haus, das auf die Menschen stürzt. Eines der stärksten Erdbeben in jüngerer Zeit war das in Chile im Jahr 2010. Dabei sind allerdings nur vergleichsweise wenige Menschen zu Schaden gekommen. Das Erdbeben in Haiti hat dagegen 200.000 Tote gefordert. Entsprechend kann man in vielen Teilen der Welt mit relativ einfachen Mitteln viel tun, damit sich Menschen selbst gegen Katastrophen wappnen können. Dennoch muss aber alles getan werden, einen weiteren Anstieg der Erdtemperatur, den weiteren Klimawandel zu verhindern.

HK: Was leistet ein Hilfswerk wie Caritas international im Bereich der Katastrophen-Prävention?

MÜLLER: Bei dem, was Caritas international macht, geht es weniger um High-Tech-Projekte wie etwa Tsunami-Sonden im Pazifik zur Früherkennung von Seebeben. Hier sehen wir nicht unsere Aufgabe. Aber ich habe vor wenigen Wochen in Kambodscha ein Dorf besucht, wo wir zusammen mit den Dorfbewohnern in einer stark von Überflutungen gefährdeten Region ein Katastrophen-Präventionsprogramm durchgeführt haben. In einem lang angelegten Prozess haben die Dorfbewohner mit einer durch uns finanzierten fachkundigen Begleitung erarbeitet, wo denn die Hauptrisiken liegen. Natürlich kann man kein ganzes Dorf einfach verpflanzen. Also hat man eine Vielzahl von einfachen, aber sehr wirkungsvollen Maßnahmen getroffen: den Getreidespeicher auf Stelzen gestellt, die Häuser erhöht. Dazu wurden Notfallpläne entwickelt, dass beispielsweise nicht, wie so oft, bei Überschwemmungskatastrophen so viele kleine Kinder ertrinken; sie werden im Chaos schlicht übersehen oder vergessen. Jede Familie hat mittlerweile auch eine Notfallbox angelegt, in der die wichtigsten Dokumente liegen. Nachbargemeinden warnen sich gegenseitig, dazu reicht es, sie mit einem einfachen Sprechfunkgerät auszustatten. Man kann sehr viel machen, um Schaden einzugrenzen und um Menschen zu schützen.

HK: Welchen Stellenwert hat solche Präventionsarbeit im gesamten Aufgabenspektrum von Caritas international, das ja im Konzert der katholischen Hilfswerke in Deutschland besonders auf Katastrophenhilfe spezialisiert ist?

MÜLLER: Die Präventionsarbeit wird für uns zunehmend wichtiger. Dabei haben wir grundsätzlich das Problem, dass uns für Katastrophen-Vorsorge vergleichsweise wenige Mittel zur Verfügung stehen. Wir müssen solche Präventionsprogramme sozusagen aus dem allgemeinen Spendentopf finanzieren. Unsere öffentlichen Kooperationspartner wie das Auswärtige Amt oder die zuständigen europäischen Institutionen öffnen sich zwar immer mehr dem Präventionsgedanken und auch die Fachpolitiker müssen nicht mehr gewonnen werden. Aber im Großen und Ganzen haben wir noch die Aufgabe vor uns, die politische wie die allgemeine Öffentlichkeit von der Bedeutung der Katastrophen-Vorsorge zu überzeugen. Nehmen Sie das Beispiel der schweren Hungerkrise in Ostafrika: Wir finanzieren seit längerem schon in Äthiopien ein Katastrophen-Präventionsprogramm. In dessen Rahmen verwenden Bauern heute beispielsweise Saatgut, das Dürre-resistenter ist; zugleich legen sie jetzt mehr Vorräte an. Wir können hier sehr klar sagen, dass mit solchen Maßnahmen die Wirkungen der Dürre abgemildert wurden. Vermeiden kann man die Dürre natürlich nicht, aber ihre Auswirkungen lassen sich deutlich begrenzen, viele Menschen wurden so gerettet.

HK: Nach welchen Kriterien werden solche Katastrophen-Vorsorgeprogramme durchgeführt, damit auch durch vergleichsweise kleine Maßnahmen nachhaltig Wirkung erzielt werden kann?

MÜLLER: Entscheidend ist, dass die Katastrophen-Prävention bei der betroffenen Bevölkerung ansetzt, aber in jedem Fall auch die jeweiligen staatlichen Stellen einbezieht. Bei diesen liegt letztlich die Verantwortung und aus dieser darf man sie auch nicht entlassen. So haben wir beispielsweise in den letzten Jahren im Nordosten Brasiliens ein großes Zisternenprogramm durchgeführt. In dieser Gegend regnet es in der Regel zwei oder drei Monate und dann folgt zehn Monate Dürre. Durch den Bau von Zisternen, die alles zusammengerechnet etwa 600 US-Dollar kosten, kann eine ganze Familie diese Dürreperiode mühelos überstehen. Aber natürlich ist es mit dem Bau nicht getan; es ist beispielsweise auch eine entsprechende Pflege nötig, damit das Wasser frisch bleibt. Dazu muss ein bestimmtes Wissen vermittelt werden. In diesem Projekt ist es auch gelungen, öffentliche Fördergelder von den zuständigen brasilianischen Stellen zu bekommen. Die Caritas hat dieses Projekt dann zusammen mit der Dorfbevölkerung umgesetzt.

HK: Wenn Sie als Hilfswerk einen höheren Einsatz für die Katastrophen-Prävention fordern, wird ein solcher Appell überhaupt gehört, wie können Sie politisch Einfluss nehmen?

MÜLLER: Wir fordern dieses ja nicht alleine, sondern zusammen mit anderen Hilfswerken, kirchlichen und säkularen, und in engem Kontakt mit den einschlägigen Fachpolitikern und Ministerien. Dabei ist die Faktenlage ja unumstritten, dass eben kein Weg am Ausbau der Katastrophen-Prävention vorbei führt. Es muss nur deutlich mehr Geld hierfür zur Verfügung gestellt werden. Dabei ist es aber leider nur allzu menschlich, dass Gelder eben eher nach einer Katastrophe zur Nothilfe zur Verfügung gestellt werden. Nach dem Motto: Warum Mittel lockermachen, wenn man doch gar nicht genau weiß, wann und ob die Katastrophe wirklich kommt. Entsprechend müssen wir uns noch mehr anstrengen, mit belastbaren Daten und Fakten nachzuweisen, wie sehr sich Prävention auszahlt. Dazu gibt es den viel zitierten Ausspruch des früheren EU-Kommissars für humanitäre Hilfe: Jeder Euro, der in die Prävention fließt, spart sieben weitere Euro für Katastrophenhilfe. Katastrophen-Vorsorge ist also nicht nur humanitär geboten. Sie ist vor allem auch ökonomisch sinnvoll und notwendig, weil sich damit ohnehin begrenzte Mittel einfach besser einsetzen lassen.

HK: Wie trennscharf lässt sich denn überhaupt noch zwischen Katastrophenhilfe, Wiederaufbaumaßnahmen und Katastrophen-Prävention unterscheiden?

MÜLLER: Wir reden heute von nachhaltiger Katastrophenhilfe. Eine "gute" Katastrophenhilfe berücksichtigt demnach eigentlich vom ersten Tag an - selbst wenn es zuerst nur um das Verteilen von Lebensmitteln geht - schon Aspekte des Wiederaufbaus. Und jede Nothilfe steht heute unter dem unaufgebbaren Anspruch, keine negativen Effekte zu provozieren: Wir sprechen vom so genannten "Do no harm"-Konzept.

HK: Worin bestünden solche negativen Effekte konkret?

MÜLLER: Beispielsweise dann, wenn eine größere Anzahl von Menschen ihre Heimat verlässt, um zur Verteilung von Nahrungsmitteln zu gelangen, sie dabei zu Flüchtlingen und abhängig von immer weiterer Hilfe werden. Idealerweise ist also jede Hilfe von vornherein so strukturiert, dass sie in den Wiederaufbau mündet und bei diesem immer schon an Katastrophen-Prävention gedacht wird. Nehmen Sie beispielsweise die Hilfe nach dem Tsunami in Südostasien im Dezember 2004.‍ ‍Alle Dörfer, die wir dort zusammen mit den lokalen Caritasverbänden wiederaufgebaut haben, waren ganz anders als die, die zuvor dort standen: weil eben ihre Lage, die Sicherheit der Häuser schon mitberücksichtigt wurde. Man kann auch mit relativ wenig Aufwand sehr erdbebensicher bauen - wenn man es richtig macht.

HK: Caritas international arbeitet strikt nach dem "Partnerprinzip". Was heißt das im Fall der Präventionsarbeit in kritischen Ländern? Müssen die Partner vor Ort zu Präventionsmaßnahmen motiviert werden oder drängen umgekehrt die Partner von sich aus auf stärkere Unterstützung bei der Vorsorge?

MÜLLER: Ich sehe da keinen großen Unterschied in der Wahrnehmung. Aber es ist sicherlich so, dass wenn man die Verhältnisse vor Ort sieht, die Präventionsarbeit nahezu unverzichtbar ist. Es ist doch in jeder Hinsicht und nicht nur unter humanitären Gesichtspunkten völlig unbefriedigend, in Bangladesh jedes Jahr in den gleichen Gegenden Fluthilfe zu leisten. Also müssen wir die Dorfgemeinschaften befähigen, die Auswirkungen der Überflutungen einzugrenzen.

HK: Der Klimawandel und unser Umgang mit diesem stellen auch Fragen nach Gerechtigkeit. Schließlich haben die so genannten Industriestaaten den größten Anteil am menschenverursachten Klimawandel zu verantworten, die schlimmsten Auswirkungen jedoch müssen gerade die ärmsten der Entwicklungsländer tragen. Hören Sie entsprechend auch Vorwürfe und Vorhaltungen von Ihren Partnern in dieser Sache?

MÜLLER: Der Klimawandel ist zumindest ein ganz großes Thema etwa im weltweiten Caritasnetz "Caritas internationalis". Unsere Partner reden uns da schon sehr ins Gewissen, etwa die Vertreter der Caritas aus Ozeanien, von Inseln wie Tonga. Dort ist man bereits massiv betroffen vom ansteigenden Meeresspiegel, und es geht schon sehr kurzfristig um die Umsiedlung von Tausenden. Entsprechend macht die Caritas dort auch innerhalb der Kirche und des Caritas-Netzwerkes Druck. Für sie stellt der Klimawandel, völlig verständlich, die zentrale Herausforderung für ihre Arbeit dar. Aber auch beispielsweise für die Caritas in Bolivien, mit der wir einige Projekte durchführen, stehen die Auswirkungen des Klimawandels ganz oben auf der Agenda, weil das Land eben zunehmend mit abrutschenden Hängen und Bergen, immer heftigeren Überschwemmungen zu kämpfen hat. In Asien und Mittelamerika haben immer mehr unserer Partner mit der nicht mehr zu leugnenden Zunahme von Wirbelstürmen zu tun.

HK: Wie schwer ist es, Ihre durchschnittlichen Spender und Spenderinnen zu motivieren, für die Katastrophen-Prävention in diesen Ländern Geld zu geben? Auch sie werden doch eher spenden, wenn sie im heimischen Wohnzimmer mit den schockierenden Bildern aktueller Katastrophen konfrontiert sind ...

MÜLLER: Dieser Trend lässt sich seit einigen Jahren schon beobachten, dass sich zunehmend eine Schere auftut: Katastrophen, die in den Medien sehr präsent sind, bekommen immer mehr Unterstützung, während für Katastrophen sozusagen aus der zweiten oder dritten Reihe kaum mehr etwas gespendet wird. Das war früher anders. Ein Erdbeben mittleren Ausmaßes hat damals einen höheren sechsstelligen Betrag an Spenden ergeben. Heute bekommen Sie fast nichts, oder eben sehr viel - je nachdem, ob es eine Katastrophe in die Medien schafft; dieser Effekt hat sich extrem verschärft. Wir versuchen natürlich durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit entgegenzusteuern, und ich habe schon den Eindruck, dass unsere Spender dies verstehen. Aber der Großteil der Deutschen spendet auf einen unmittelbaren Anlass bezogen. Menschen, auch das ist mittlerweile eine Binsenweisheit des Fundraising, spenden nun einmal vor allem dann, wenn sie gefragt werden. Unterm Jahr und ohne Anlass zu spenden, verlangt schon einen höheren Grad an Interesse und Solidarität.

HK: Dabei gibt es doch auch den anderen Trend, dass eher bei Naturkatastrophen gespendet wird, als dass man die humanitäre Hilfe in Bürgerkriegen oder in Konfliktregionen unterstützt ...

MÜLLER: Auch dieser setzt sich fort. Tendenziell wird mehr für die Opfer von Naturkatastrophen gespendet und dabei rufen unabsehbare Ereignisse wie ein Erdbeben noch einmal mehr Anteilnahme und Unterstützung hervor als beispielsweise eine Dürre, die schleichend daherkommt und die man kaum in Bilder fassen kann - weil es heute, Gott sei Dank, auch keine Bilder mehr gibt, die Massen von Kindern mit riesigen Hungerbäuchen zeigen. Gleichzeitig haben wir im letzten Jahr auch eine ganz überraschend positive Beobachtung machen können: Viele Menschen haben eine hohe Anteilnahme bei der Reaktorkatastrophe in Fukushima gezeigt. Wir hatten zunächst keinen Spendenaufruf gestartet, obwohl wir seit Jahren mit der Caritas Japan zusammenarbeiten und es natürlich auch in Japan bedürftige Menschen gibt. Dann aber wurden letztlich allein Caritas international sieben Millionen für Japan gespendet. Dabei steht die Situation in Fukushima selbstredend in keinem Verhältnis etwa zur Lage im Kongo. Ein positives Zeichen der Anteilnahme am Leid anderer waren die Spenden für Japan aber in jedem Fall.

HK: Gerade das Erdbeben in Haiti Anfang des Jahres 2010 hat auch hier in Deutschland eine Welle von Hilfsbereitschaft ausgelöst. Zwei Jahre danach zeigt das viele Geld, das seitdem nach Haiti geflossen ist, kaum Wirkung, scheint Haiti ein Fass ohne Boden, die Hilfe fast umsonst gewesen zu sein ...

MÜLLER: Haiti ist sicher ein ganz besonderer Fall, weil hier verschiedene Probleme zusammenspielen: eine außergewöhnliche Katastrophe in einem außergewöhnlich armen Land. Seit Jahrzehnten gibt es in Haiti keine funktionierende Regierung, keinen funktionierenden Staat, von einer zivilgesellschaftlichen Struktur ist sehr wenig zu erkennen. Nun können wir aber gerade als christliches Hilfswerk ein solches Land nicht einfach aufgeben, auch wenn offensichtlich ist, dass der Wiederaufbau in Haiti viel schwieriger ist als woanders. Auch geht in Haiti schon etwas voran, wenn auch sehr langsam. Die Veränderung kann aber nur aus der Zivilgesellschaft, von unten kommen und wer, wenn nicht die Kirche mit ihren Strukturen, kann da einen Beitrag leisten?

HK: Kommt in einem Land wie Haiti nicht auch das Partnerschaftsprinzip an die Grenzen?

MÜLLER: Wir haben nach der Katastrophe in Haiti nicht ausreichend berücksichtigt, dass auch die Caritashelfer Opfer und in hohem Umfang traumatisiert waren. In Bezug auf die Selbsthilfekräfte waren wir da zu optimistisch. Grundsätzlich gibt es aber zum Partnerprinzip keine Alternative. Haiti ist ein Land, wo aufgrund des Mangels an jeglicher staatlicher und zivilgesellschaftlicher Struktur die internationalen Hilfsorganistionen in der Gefahr stehen, selbst zuviel Verantwortung zu übernehmen und Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich Sache des Staates und zivilgesellschaftlicher Organisationen vor Ort sind. Das aber ist ein fataler Prozess, weil er nicht zur Nachhaltigkeit führt und die entsprechend Verantwortlichen nicht frühzeitig genug mit ins Boot nimmt. In Haiti haben wir so eine Gratwanderung zu bestehen: Die Hilfe muss zu denen kommen, die sie brauchen, aber man darf sich auch nicht verführen lassen, quasi staatliche Aufgaben zu übernehmen. Damit würden wir das Gegenteil des Erwünschten bewirken.

HK: Aber nicht nur in Bezug auf Haiti wird häufig die Wirksamkeit humanitärer Hilfe infrage gestellt ...

MÜLLER: Die Wirksamkeit zu verbessern und zu beweisen, ist heute das Kernthema in der Entwicklungs- und Katastrophenhilfe. In der Tat ist die Katastrophenhilfe ein Feld, auf dem man erstens viel falsch machen kann und in dem auch viel schiefgeht. Weil man eben oftmals unter sehr unübersichtlichen, chaotischen Verhältnissen arbeiten muss. Es kommt oftmals zu einem extrem hohen Mitteleinsatz, viel Geld wird in kurzer Zeit umgesetzt. Wir haben mit der Diakonie-Katastrophenhilfe gemeinsam dazu gerade ein eigenes Konzept der "Wirkungsbeobachtung" entwickelt. Die Katastrophenhilfe ist kein planbarer Prozess, sie muss immer wieder neu auf verschiedene Herausforderungen antworten können. Es kann durchaus sein, dass bestimmte Indikatoren wie die Verteilung von sauberem Wasser an eine bestimmte Zahl von Menschen erfüllt sind, aber die Wirkung ist überhaupt nicht gewährleistet, weil diese Menschen nicht die Möglichkeit haben, dieses Wasser auch so zu lagern, dass es nicht doch wieder verschmutzt wird. Die Wirkung wäre im konkreten Fall also null.

HK: Im Konzert der vielen Organisationen, die humanitäre Hilfe leisten, ist Caritas international als Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes ein christliches Hilfswerk. Welche spezifische Note hat Ihre Katastrophenhilfe damit?

MÜLLER: Es gibt keine katholische Katastrophenhilfe, sondern nur richtige oder falsche. Wir müssen uns auch als christliches Hilfswerk an allgemein gültigen Kriterien für humanitäre Hilfe messen lassen. Was die Qualität angeht, darf uns nichts unterscheiden. Allerdings glaube ich schon, dass wir als Werk, eingebettet in die Kirche mit ihren Strukturen und natürlich auch durch unser besonderes Caritas-Leitbild, im Sinne der Option für die Armen besondere Chancen und Aufgaben haben: was unsere Arbeitsweise betrifft, die Nachhaltigkeit unserer Programme, das Partnerprinzip überhaupt. So unterstützen wir auch den Aufbau von solchen Caritas-Organisationen, deren Aufgabe es ist, nicht noch mehr Nothilfe zu leisten, sondern anwaltschaftlich die Stimme in ihrem Land zu erheben, sich sozialpolitisch zu engagieren - auch dort, wo Christen und Katholiken nur eine Minderheit darstellen.

HK: Humanitäre Hilfe leistet Caritas international denen, die diese Hilfe brauchen - ohne Ansehen etwa ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihrer Religion. Ist dieser Ansatz für Ihre Partner, aber auch ihre Spender immer nachzuvollziehen?

MÜLLER: Dass wir strikt unabhängig zu agieren beanspruchen, sorgt schon auch immer wieder für Diskussionen. Ich erinnere mich beispielsweise noch sehr gut an Vorwürfe während und nach dem Balkankrieg, als wir manchen katholischen Vertretern dort erklären mussten, dass wir auch Muslimen und orthodoxen Christen beim Wiederaufbau helfen. Das ist dort zuweilen anders erwartet worden und man sah vor allem, dass beispielsweise muslimische Hilfsorganisationen nur der eigenen Klientel halfen. Aber es gibt keine Alternative zu unserem Ansatz. Denn es war umgekehrt die einzige Garantie für den Erfolg unserer Arbeit, dass wir eben halfen, Dörfer so wieder aufzubauen, wie es auch der Verteilung der Ethnien und Religionen vor dem Krieg entsprach. Nur einer Ethnie zu helfen, wäre nicht nur ethisch unzulässig gewesen, sondern auch entwicklungspolitisch falsch; so sind Frieden und Versöhnung nicht zu erreichen.

HK: Stellt humanitäre Hilfe in mehrheitlich muslimischen Ländern für Caritas international nicht überhaupt ein großes Problem dar?

MÜLLER: Nein, wenn wir unseren Hintergrund klar kommunizieren, gleichzeitig aber auch unsere Unabhängigkeit und unsere Prinzipien erklären, dann wird das akzeptiert. Im Gegenteil, manchmal scheint es für uns leichter zu arbeiten als für ein säkulares Werk, bei dem man aus muslimischer Sicht nicht weiß, wo man eigentlich dran ist. Pakistan, Afghanistan - dort sind wir seit langem präsent und meist wird uns dort Respekt entgegengebracht.

HK: Allzu demonstrativ werden Sie jedoch als katholisches Hilfswerk nicht auftreten wollen ...

MÜLLER: Es ist zumindest in dieser Frage eine gewisse Klugheit gefragt. Wir verheimlichen niemals, dass wir ein christliches Hilfswerk sind - das wäre völlig falsch. Gleichzeitig fahren wir beispielsweise in Afghanistan auch nicht mit dem roten Flammenkreuz der Caritas auf dem Auto durchs Land. Jeder, der aber in Kabul wissen möchte, wo das Büro der deutschen Caritas ist, wird das problemlos herausbekommen. Wir sind ja das, was man in Kriegsregionen ein "weiches Ziel" nennt, wenn man uns also schaden wollte, wäre das kein Problem. Unsere Sicherheit basiert allein auf dem Vertrauen und der Unterstützung der Bevölkerung.


Der Politikwissenschaftler und promovierte Theologe Oliver Müller (geb. 1965) leitet Caritas international, das Hilfswerk der deutschen Caritas, seit 2006, nachdem er zuvor dort mehrere Jahre dem Osteuropa-Referat vorgestanden hat.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66.‍ ‍Jahrgang, Heft 1, Januar 2012, S. 16-20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2012