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KIRCHE/1324: Europa - Bischöfe plädieren für Solidarität (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 2/2012

Europa: Bischöfe plädieren für Solidarität

Von Ulrich Ruh



Am 12. Januar wurde eine Erklärung vorgestellt, in der die "Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft" (COMECE) angesichts der gegenwärtigen Finanz- und Schuldenkrise an europäische Grundwerte und ihre christlichen Fundamente erinnert. Europa soll zur Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft werden.


An der Spitze der "Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft" (COMECE) steht ein Wachwechsel bevor. Bei der nächsten Vollversammlung von COMECE Ende März werden die Bischöfe einen Nachfolger für Adrianus van Luyn wählen, der das Amt des COMECE-Präsidenten seit 2006 innehat und nach zwei Amtsperioden nicht mehr wiedergewählt werden kann. Der 1935 geborene Van Luyn, der dem Salesianerorden angehört, war von 1994 bis 2011 Bischof der niederländischen Diözese Rotterdam.

Im Vorfeld der Vollversammlung hat die COMECE jetzt eine Erklärung mit dem Titel "Eine europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft" veröffentlicht. Der Text wurde am 12. Januar in der polnischen Vertretung bei der EU in Brüssel vorgestellt, und zwar vom deutschen Vertreter in der COMECE, dem Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx. Er ist seit 2009 einer der beiden Vizepräsidenten der Kommission, neben dem Warschauer Weihbischof Piotr Jarecki. Auch der gegenwärtige Generalsekretär der COMECE, Piotr Mazurkiewicz, kommt aus Polen.


Die europäische Friedensordnung nicht beschädigen

Mit ihrem neuesten Text meldet sich die bischöfliche Kommission in einem für die Europäische Union äußerst heiklen Zeitpunkt zu Wort. Angesichts der Finanz- und Schuldenkrise steht nicht nur der Euro als Gemeinschaftswährung von 17 EU-Mitgliedsstaaten auf dem Prüfstand, sondern auch die Gemeinschaft als Ganze. In seiner Einführung zur COMECE-Erklärung stellt Kardinal Marx denn auch fest, um zu verhindern, dass die europäische Friedensordnung in ihren Grundfesten beschädigt werde, sei ein "entschlossenes gemeinsames Handeln unverzichtbar, das wohl allen Zugeständnisse und Opfer abverlangt".


Bei ihrer letzten Vollversammlung Ende Oktober 2011 hatten sich die Bischöfe der COMECE aus erster Hand über den schwierigen Stand der europäischen Dinge informieren lassen. Es stand nicht nur ein Treffen mit Herman Van Rompuy, dem Präsidenten des EU-Rates, auf der Tagesordnung, sondern es referierten auch mehrere Experten über die Finanzkrise und die Zukunft der europäischen Integration.

Lans Bovenberg von der Universität Tilburg (Niederlande) schloss seine Ausführungen zu den wirtschaftlichen und politischen Ursachen der europäischen Schuldenkrise mit dem Hinweis, Europa stehe am Scheideweg: "Gehen wir weiter die breite Straße der gegenseitigen Vorwürfe und des Rückzugs hinter unsere jeweiligen Grenze? Oder entscheiden wir uns für die schmale und stürmische Straße, indem wir die gegenwärtigen Schwierigkeiten als eine Chance nutzen, etwas zu lernen und die europäischen Institutionen neu zu erfinden, damit wir noch stärker von unseren einzigartigen Unterschieden profitieren können?"

Und der Präsident der französischen Finanzaufsichtsbehörde, Jean-Pierre Jouyet, erinnerte mit einem Zitat von Georges Bernanos daran, dass Europa jenseits der ökonomischen eine zivilisatorische Herausforderung darstelle. Europa müsse das Vertrauen in die eigene Kraft wiedergewinnen.


Auf der Vollversammlung im Oktober letzten Jahres verabschiedete die COMECE auch den jetzt veröffentlichten Text. Er behandelt nicht im direkten Zugriff die aktuelle Krise, sondern versteht sich als eher grundsätzlicher Beitrag zum im Vertrag von Lissabon festgeschriebenem EU-Vertragsziel einer "in hohem Maße wettbewerbsfähigen und sozialen Marktwirtschaft".

Dabei wird gleich zu Anfang eingeräumt, man sei sich bewusst, "dass die Kirche keine technischen Lösungen und keine eigenen politischen oder wirtschaftlichen Modelle anzubieten hat". Da die Frage der künftigen Gestalt der europäischen Wirtschafts- und Sozialordnung die Menschen innerhalb und außerhalb der EU existenziell berühre, sehe man es aber als Pflicht der europäischen Bischöfe an, sich in dieser wichtigen Frage zu Wort melden.


Wurzeln im christlichen Menschenbild

Die insgesamt knapp gehaltene Erklärung skizziert die kulturellen Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft, indem sie ihre Wurzeln im christlich-abendländischen Menschenbild namhaft macht. Die EU müsse diesem Erbe Rechnung tragen, wenn sie den Herausforderungen unserer Zeit entsprechend eine neue Etappe der sozialen Marktwirtschaft gestalten wolle. Erinnert wird in diesem Zusammenhang auch an das christliche Gebot der Nächstenliebe und seinen Einfluss auf das Verständnis von Gerechtigkeit. Im christlichen Kulturraum hätten sich schon sehr früh Strukturen und Institutionen der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe entwickelt: "Hier liegen kulturgeschichtlich die Ursprünge unseres modernen Sozialstaats."


Vor dem Kapitel über Marktwirtschaft und Wettbewerb platziert der Text der COMECE Überlegungen zum "freien fürsorgenden Handeln in der sozialen Marktwirtschaft". Dabei macht er sich für die Unverzichtbarkeit des Beitrags freier Zusammenschlüsse und privater Initiativen als Ergänzung zum Sozialstaat stark. Ungeschuldete, helfende Zuwendung, die oft religiösen Motiven entspringe, dürfe weder durch bürokratisierte Formen staatlicher Solidarität noch durch kurzfristig überlegene Marktlösungen erstickt werden.


Die Krise meistern

Näher an die gegenwärtigen Herausforderungen im EU-Europa rückt die Erklärung mit der Forderung, im Interesse des Gemeinwohls und gemäß dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft müssten Mitgliedsstaaten und Institutionen der Europäischen Union eine "stabilitätsorientierte Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik" betreiben. Zum Teil horrende Staatsschulden und Privatschulden sollten im Interesse der künftigen Generationen abgebaut werden: "Dies darf jedoch weder auf Kosten der Ärmsten erfolgen, noch das Gebot der sozialen Gerechtigkeit missachten."

Die Bischöfe der COMECE wagen auch einen Ausblick auf die ihrer Meinung nach notwendige Weiterentwicklung der Europäischen Union. Diese werde auf der jetzigen Integrationsstufe nicht in der Lage sein, die vor Europa liegenden demographischen und durch die Globalisierung bedingten Herausforderungen zu meistern. "Die Annahme der Verantwortungsgemeinschaft durch die Menschen und ihre Offenheit für alle EU-Staaten sind wohl die größten Herausforderungen der kommenden Jahre, wenn es um die europäische Einigung geht."


In den beiden abschließenden Kapiteln widmet sich die Erklärung der Sozialpolitik einerseits und der nachhaltigen Entwicklung in der sozialen Marktwirtschaft andererseits. Angesichts sozialpolitischer Reformen der letzten Jahre, die die Menschen teilweise erheblich verunsichert hätten, wird gefordert, die Sozialpolitik in der Europäischen Union müsse sich im Interesse der Hilfeempfänger und des Gemeinwohls auch weiterhin konsequent an den Prinzipien der Subsidiarität und der Solidarität orientieren. Der Text weist auch darauf hin, dass ohne eine "systematische Integration des ökologischen Faktors" auf Dauer weder ökonomische Wettbewerbsfähigkeit noch soziale Gerechtigkeit zu erreichen seien.

Das COMECE-Papier mündet in den hoffnungsvollen Satz: "Solidarisch und verantwortlich zugleich wird es uns Europäern gelingen, die gegenwärtige schwere Krise zu meistern und unseren gemeinsamen Weg weiterzugehen, um am Ende allen Menschen auf der ganzen Welt ein wirksames Zeichen des Friedens und der Gerechtigkeit zu geben." Es wird allerdings nicht ganz einsichtig, warum sich die Erklärung - unter Berufung auf die Enzyklika "Caritas in veritate" Benedikts XVI. - in diesem Zusammenhang für die Entwicklung einer "echten politischen Weltautorität" mit supranationalen Strukturen und Institutionen ausspricht. Hier jagt man in dem ansonsten erfreulich nüchtern gehaltenen Text einem Traumbild nach.


Innerhalb der EU insgesamt wie auch des Euroraums im Speziellen trägt Deutschland derzeit mehr denn je eine besondere Verantwortung. Vorgänger des Niederländers Ad van Luyn als COMECE-Präsident war der verstorbene frühere Bischof Josef Homeyer von Hildesheim, dessen ganze Leidenschaft dem europäischen Projekt, vor allem dem Zusammenwachsen von Ost und West galt. Es muss auch weiterhin ein wichtiges Anliegen der katholischen Kirche in der Bundesrepublik bleiben, den kirchlichen Austausch und die Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene lebendig zu halten und weiter voranzubringen, nicht zuletzt durch die unauffällige und doch wertvolle Arbeit von COMECE.


Ulrich Ruh, Dr. theol., geboren 1950 in Elzach (Schwarzwald). Studium der Katholischen Theologie und Germanistik in Freiburg und Tübingen. 1974-1979 Wiss. Assistent bei Prof. Karl Lehmann in Freiburg. 1979 Promotion. Seit 1979 Redakteur der Herder Korrespondenz; seit 1991 Chefredakteur.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 2, Februar 2012, S. 61-62
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2012