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LATEINAMERIKA/063: Chance auf ein besseres Haiti? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 02/2010

Chance auf ein besseres Haiti?
Die katholische Kirche nach dem Erdbeben

Von Christian Frevel und Michael Huhn


Das Erdbeben Mitte Januar traf die Kirche Haitis am Ende eines Jahrzehnts, in dem sie auf dem Weg zur Eigenständigkeit weit vorangekommen war. Die Infrastruktur der Kirche trägt, obwohl selbst stark betroffen, einen Gutteil der Lasten der Katastrophe.

Die stolze Kathedrale Sainte Trinité ist nur noch ein Schutthaufen. Das verheerende Erdbeben vom 12. Januar 2010 zerstörte das Gotteshaus, die erst 2003 in Betrieb genommene Kurie und das Bischofshaus nebenan. Verschüttet in dessen Trümmern starb Erzbischof Serge Miot, der für sein Volk und Land stets Auswege in eine bessere Zukunft gesehen hatte. Er glaubte daran, dass es auch für Haiti mehr Lösungen gebe als Probleme, und er strahlte diese Überzeugung aus. Das tat gut in einem Land, das ausländische Besucher - mit guten Gründen - zuerst als voll von Problemen erleben. Serge Miot ließ sie jene Lebensfreude und jenes Gottvertrauen erfahren, die allein die Hoffnungskraft hervorbringen, den Alltag in einem solchen Land zu bestehen und für eine bessere Zukunft zu kämpfen.

Sein Generalvikar, Charles Benoît, konnte ebenfalls nur noch tot geborgen worden. Man fand ihn in seinem Büro, am Schreibtisch sitzend, in der einen Hand den Rosenkranz, in der anderen die Hostie. Er hatte, bereits verschüttet, noch die Kraft gehabt, die Eucharistie zu feiern.


Die Kirche trauert nicht nur um Erzbischof Miot und Generalvikar Benoît, sondern auch um 47 Priester und Ordensleute (so die jüngste Auflistung). Als die beiden Seminare in den Stadtteilen Cazeau und Turgeau, wo sich insgesamt 150 junge Männer auf den Priesterberuf vorbereiteten, einstürzten, kamen mindestens ein Dutzend Seminaristen ums Leben. Etliche sind verletzt, einigen mussten Gliedmaßen amputiert werden. Den Rektor des Seminars in Turgeau, Guy Boucicaut, konnten Seminaristen und Helfer mit einem Schneidbrenner unter Eisenträgern verletzt bergen. Andere Lehrer am Seminar haben nicht überlebt. Hunderte von Katecheten und Laienmitarbeitern sind tot. Das Erdbeben hat die Kirche Haitis schwer getroffen.

Auch die kirchliche Infrastruktur von Port-au-Prince hat das Beben zerschlagen. Fast alle Kirchen sind zerstört oder schwer beschädigt, ebenso ein Großteil der Ordens- und Pfarrhäuser, der Schulen und Vieles andere mehr. Das hat Folgen für die Kirche im ganzen Land, denn alle wichtigen Einrichtungen befanden sich in der Hauptstadt: der Sitz der Bischofskonferenz (das Haus ist beschädigt), die Ordenshochschule CIFOR (sie ist zerstört, viele Ordensleute und Novizen fanden hier den Tod), die katholische Universität, das einst von Jesuiten errichtete Bildungshaus Villa Manrèse, ein zentraler Anlaufpunkt (in sich zusammengesackt). Das Beben traf die Kirche am Ende eines Jahrzehnts, in dem sie auf dem Weg zur Eigenständigkeit, lebensfähig auch ohne die personelle Hilfe von Missionaren aus Europa und Nordamerika weit vorangekommen war.


Vom weißen zum einheimischen Klerus

459 Diözesan- und 306 Ordenspriester in zehn Diözesen, 332 Ordensbrüder und 1851 Ordensfrauen, dazu mehr als 5000 Katecheten in 338 Pfarreien: Das sind die Kernzahlen des Annuario Pontificio 2009 beziehungsweise des Annuarium Statisticum Ecclesiae 2007 zur Kirche in Haiti. Doch Zahlen lassen nicht den Wandel erahnen, den diese seit Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogen hat.

Seit 1860, als ein Konkordat den Neuaufbau der mit der Kolonialherrschaft untergegangenen kirchlichen Hierarchie ermöglichte, waren es vor allem ausländische Missionare, die sich der Seelsorge in Haiti annahmen. Der Klerus für Haiti wurde in einem Seminar in der Bretagne ausgebildet - fast ausnahmslos Bretonen. Zu den bretonischen Weltpriestern kamen Ordenspriester, -brüder und -schwestern aus Frankreich, Flandern und Québec, unter anderen die Soeurs de Saint-Joseph de Cluny, die Montfortaner und ihr weiblicher Zweig, die Filles de la Sagesse, die Spiritaner, die Schulbrüder, später Salesianer und Salesianerinnen, die Oblaten, die Jesuiten und als letzte große Gruppe von Missionaren 1953 die flämische, aus China vertriebene "Congregatie van het Onbevlekt Hart van Maria", nach ihrem Gründungsort Scheutveld bei Brüssel Pères de Scheut genannt.

Damals, 1953, gab es gut 40 haitianische Priester, immerhin rund ein Zehntel der schwarzen Priester der gesamten Welt. Sie waren in der 1922 auf päpstliches Drängen in Port-au-Prince geschaffenen "Apostolischen Schule" ausgebildet worden; von einem Seminar für Schwarze mochte man noch nicht sprechen. Erst 1951 wurde ein "richtiges" Priesterseminar gegründet, das aufgrund des Andrangs seither fast Jahrzehnt für Jahrzehnt erweitert werden musste. Ein weiterer Ausbau war beschlossen, als das Erdbeben alle Planungen zunichte machte. Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick, der 2009 Haiti besucht hatte, versprach Unterstützung; seit mehr als vierzig Jahren fördert das Erzbistum Bamberg im Rahmen der Priesterpatenschaftsaktion der deutschen Diözesen die Ausbildung der Priester in Haiti.

Weil die Plätze begrenzt waren, bestimmte ein Schlüssel, wie viele Seminaristen jedes Erzbistum und Bistum entsenden durfte. Für die Bischöfe war es nicht einfach, aus der großen Schar der Bewerber die Berufungen zu erkennen. Ungeachtet des Selbstbewusstseins der haitianischen Laien genießen die Priester hohes Ansehen, und zwar nicht bloß dank des Respekts, den die "einfachen Leute" allen Gebildeten entgegenbringen, sondern aufgrund der Ehrfurcht vor allem, was heilig ist. Ohne Wenn und Aber wird der Priester der Sphäre des Heiligen zugerechnet.

So kann es durchaus der Status eines Priesters sein, der einen jungen Mann ins Seminar zieht, und die Gewissheit, dass ein Pfarrer auskömmlich lebt. Auf den Dörfern ist das Pfarrhaus eines der größten Gebäude, wenn nicht das größte - wie es einstmals das Herrenhaus der französischen Pflanzer war.


Im Jahre 1697 hatte Spanien im Vertrag von Rijswijk den Westteil der Insel Hispaniola an Frankreich abtreten müssen, nunmehr Saint-Domingue genannt. Zügig erschlossen die Franzosen das Landesinnere und dehnten ihren Herrschaftsbereich aus. 1777 mussten die Spanier den Franzosen weitere Teile der Insel überlassen; die damals festgelegte Grenze ist heute noch die zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik.

Motor und Treibstoff des französischen Engagements war vor allem der Zucker. Saint-Domingue wurde zum Zuckerproduzent und -exporteur Nr. 1 der Weltwirtschaft. Der Zuckerkonjunktur verdankt sich der rasante Aufschwung des 1749 gegründeten Hafens Port-au-Prince, seit 1770 der Sitz der Kolonialverwaltung. Zur Bewirtschaftung der Plantagen wurden in 270 Jahren mindestens 500000, wenn nicht bis zu 800000 Sklaven aus Afrika deportiert.

Am 14. August 1791 gab der entlaufene Sklave Boukman im Kaiman-Wald bei Limbé nach einer nächtlichen Vodou-Zeremonie das Signal, alle Herrenhäuser der Plantagen im Umland zu überfallen, niederzubrennen und die Weißen zu töten. Wenngleich der Aufstand schließlich niedergeschlagen wurde, so kam die Kolonie doch nicht mehr zur Ruhe, denn die Wirren der 1789 im Mutterland ausgebrochenen Revolution griffen auf die Kolonie über.


1794 war in Paris das Ende der Sklaverei beschlossen worden, dann betrieb Napoleon deren Wiedereinführung. Zuerst von dem freigelassenen Sklaven François-Dominique Toussaint, dem "schwarzen Spartakus", dann von Jean-Jacques Dessalines geführt, besiegten die Sklaven die weiße Armee. Deren Reste (Napoleon verlor in Saint-Domingue mehr Soldaten als 12 Jahre später bei Waterloo) flüchteten, als Dessalines ihren letzten Stützpunkt einnahm, Cap-Français, das daraufhin in Cap-Haïtien umbenannt wurde. Auch die Flagge des neuen Staates zeigte, dass eine neue Zeit angebrochen war: Die französische Trikolore wurde gedreht und der weiße Streifen - jenes verhasste Weiß! - herausgerissen. Am 1. Januar 1804 erklärte Dessalines die Unabhängigkeit. Auf den einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand der Neuen Welt und die Befreiung von der barbarischen französischen Herrschaft sind deren Nachkommen bis heute stolz.


Als Haiti von den überlebenden Weißen "gesäubert" wurde, brach die kirchliche Organisation zusammen. Es gab keine Bischöfe mehr. Nur wenige Priester durften bleiben und in den Marktorten die Sakramente spenden, nämlich diejenigen, die sich im Freiheitskampf auf die Seite der Sklaven gestellt hatten oder Freimaurer waren und deshalb als "Jakobiner" galten. Die meisten Priester jener Ära ohne Hierarchie hatten anderenorts ihr Amt aufgegeben oder waren aus dem Amt entlassen worden. In den "irregulären" Verhältnissen Haitis fanden sie Unterschlupf und Auskommen und konnten - ohne übergeordnete Autorität - ihren Dienst versehen.

Obgleich die Gestalt jener haitianischen Kirche vollkommen anders war als in der Alten Welt und in Lateinamerika gewohnt, ohne Jurisdiktion und ohne Verbindung nach Rom, so war es doch eine Gemeinschaft der Glaubenden. Dass der Glaube weitergegeben wurde, ist den Müttern zu verdanken, die das Beten mit ihren Kindern nicht aufgaben.


Dass jene hierarchiefreie Kirche im fernen Haiti, ein bemerkenswerter Sonderfall der Kirchengeschichte, der vatikanischen Kurie nicht behagte, verwundert nicht. Sie musste an einer Regelung des irregulären Zustandes interessiert sein. Der haitianische Staat seinerseits war darauf aus, durch ein Abkommen jene Isolation zu durchbrechen, welche die Welt Haiti als Strafe für die Unbotmäßigkeit der Selbstbefreiung auferlegt hatte. So wurde der Vatikan zum ersten Staat, der die geächtete "Negerrepublik" förmlich anerkannte, wie der derzeitige Vorsitzende der Bischofskonferenz, der Salesianerpater und Erzbischof von Cap-Haïtien, Louis Kébreau, immer wieder betont.

Das Konkordat von 1860, das erste mit einem Staat der Neuen Welt überhaupt, bestimmte einerseits den Katholizismus zur Staatsreligion, gestattete die Einreise weißer Weltpriester und Ordensleute und sah die Errichtung von fünf Bistümern vor. Andererseits überließ es dem Staat die Auswahl der Bischöfe. Das führte schließlich zu Konflikten: Als die Bischöfe die Verbrechen des von 1957 bis 1971 herrschenden Diktators François Duvalier zur Sprache brachten, jagte dieser sie außer Landes beziehungsweise "bewog" sie unter Androhung weiterer Repressalien gegen die Kirche zum Amtsverzicht.

Duvalier bestimmte daraufhin 1966 für alle fünf Bistümer haitianische Bischöfe seiner Wahl. Der Schritt zu einem einheimischen Episkopat war anderthalb Jahrhunderte nach der Unabhängigkeit überfällig. Die Umstände, unter denen er sich vollzog, waren bitter. Erst 1984 war Haiti zu einer Revision des Konkordates bereit, die dem Heiligen Stuhl das Recht übertrug, die Bischöfe zu ernennen. Bis heute werden Bischöfe und Pfarrer vom Staat besoldet.

Schon 1948, drei Jahre vor der Eröffnung des Priesterseminars, waren die ersten einheimischen Kongregationen gegründet worden: die Petites Soeurs de Sainte Thérèse de l'Enfant Jésus (PSST) und die Petits Frères de Sainte Thérèse de l'Enfant Jésus (PFST). Ein ähnliches Anliegen wie diese Vorreiter verfolgen die Petites Soeurs de l'Incarnation und die Petits Frères de l'Incarnation: die ganzheitliche Entwicklung der Landbevölkerung durch religiöse Bildung, Seelsorge, Grund- und Landwirtschaftsschulen, Krankenpflege und Sozialarbeit. In einem von einem krassen Stadt-Land-Gegensatz geprägten Land erregte es Aufsehen, dass sich Ordensleute, "die das doch gar nicht nötig hätten", nicht zu schade waren, mit den Bauern die Äcker zu bestellen. Denn Feldarbeit war einst Sklavenarbeit. Der Geruch der Erniedrigung haftete ihr noch lange an.


Es sind die Ordensleute, zumal Schwestern, die in den entlegensten Orten tätig sind, dort, wohin niemand anderer gehen mag. Sie sind die Lastesel des Apostolates im entsagungsreichen Alltag, ohne Aufhebens von sich zu machen. Viele von ihnen leben - vielleicht dank des Rückhalts ihrer Gemeinschaft - eine größere innere Freiheit als ein Großteil der Weltpriester. Dass sich die Kirche in Haiti der Gewaltherrschaft der Duvaliers (auf François, "Papa Doc" genannt, folgte sein 1986 gestürzter Sohn Jean-Claude, genannt "Baby Doc") nicht mehr beugte, ist vor allem der prophetischen Klarheit von Ordensleuten zu danken.

Der Jubel über das Ende der Diktatur hielt nicht an. Die erhoffte Demokratisierung blieb aus. Im Einklang mit den "großen Familien" erstickte das Militär alle Ansätze einer wirklichen Wende. Von Großgrundbesitzern gedungene Mörder brachten 1987 bei Jean Rabel mehr als 200 Bauern um, zumeist Mitglieder der vom Montfortanerpater Jean-Marie Vincent aufgebauten Basisgemeinde Tet Ansamn.

Neben Pater Vincent wurde der Salesianer Jean-Bertrand Aristide zur Leitfigur der Volksbewegung. Seine von "Radio Soleil" übertragenen Predigten machten ihn landesweit bekannt und den Herrschenden verhasst. Es drängte ihn in die Politik. Seine Oberen sahen das mit Sorge. Aristide mochte in seinen Ambitionen nicht zurückstecken, 1988 wurde er aus dem Orden ausgeschlossen. Zwei Jahre später gewann er mit überwältigender Mehrheit die Präsidentschaftswahl.


Die Haitianer müssen über den Wiederaufbau selbst bestimmen

Kaum acht Monate war er im Amt, als die Armee putschte. Die Wut der von Aristide bekämpften Klasse entlud sich an seinen Anhängern. Tausende wurden von den Schergen des Militärregimes ermordet, darunter auch Pater Jean-Marie Vincent. Mindestens 200000 Haitianer mussten fliehen. Die USA, die eine Flüchtlingswelle fürchteten, erzwangen 1994 die Rückkehr Aristides in sein Amt. Wie einen Messias feierte das Volk den Heimgekehrten. Bald zeigte sich, dass es auch Aristide nur um Bereicherung und den Machterhalt ging. Doch der Widerstand wuchs. 2004 floh Aristide außer Landes. Seither sichert eine Mission der Vereinten Nationen zur Stabilisierung Haitis (MINUSTAH) zunächst eine Übergangsregierung, danach, seit 2006, die Präsidentschaft von René Préval.


Es ist vor allem die Kommission Justitia et Pax, die heute federführend für die Kirche die Tradition kritischer Zeitgenossenschaft fortsetzt. Ihr Leiter Jan Hanssens ist belgischer Ordensmann, ein seit 1973 in Haiti lebender "Missionaris van Scheut". Regelmäßig meldet sich die Kommission "Jistis ak Lapè" zu Wort. Das war schon zu Zeiten der Diktatur der Familie Duvalier so, setzte sich während der Herrschaft des Volkstribuns Jean-Bertrand Aristide fort und gilt auch für die neue Ära nach dessen Sturz.

Egal, ob es sich um die undurchsichtige Ausrichtung von Wahlen handelt, um die Blockade der Gesetzgebung durch Parteien, die ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl ihre Intrigen spinnen, oder um Beschwerden über die Verteuerung von Lebensmitteln (die 2008 zu Hungerrevolten führte), immer ist es die Kommission, die als erste warnend ihre Stimme erhebt. Jährlich fasst die Kommission in Berichten die Situation im Land zusammen - dreißig sind es inzwischen. Der letzte aus dem Jahr 2009 listet allein für Port-au-Prince in drei Monaten 63 Morde und 124 tödliche "Unfälle" auf.


Nur wenige Tage nach dem Erdbeben, meldet sich Jan Hanssens wieder zu Wort. Er betont, dass nicht alles in Trümmern liegt: Die Regierung müsse wieder aus der Versenkung auftauchen, sich an das Volk wenden, die Menschen ermutigen und ihnen beim Neubeginn helfen. Hanssens betont, wie wichtig es ist, dass die Haitianer selbst bestimmen können, wie die Hilfe beim Wiederaufbau eingesetzt werde - schließlich ist es ihr Land. Er habe den Eindruck, dass einige der internationalen Helfer weniger die Erfordernisse Haitis als vielmehr ihr eigenes Renommee im Blick hätten.

Oft genug in den vergangenen Jahren musste Jistis ak Lapè die Regierung Haitis kritisieren. Jetzt geht es der Kommission darum, die Regierung zu stärken, damit diese ihrer Aufgabe nachkommt, in Absprache mit der Internationalen Gemeinschaft die Hilfe zu koordinieren und für Sicherheit zu sorgen. Die Regierung müsse beispielsweise klarmachen, was der ausgerufene Notstand bedeute, dass etwa Fahrzeuge der Nothilfe Vorrang vor dem Privatverkehr haben. Ein anderes Beispiel: Die Behörden müssten die Bevölkerung in der Landessprache, auf Kreolisch, darüber aufklären, was die nun verteilten "Kits" beinhalten, denn vielen seien die fremden Nahrungsmittel unbekannt. Zudem solle die Regierung, wenn sie von Umsiedlungen aus der Hauptstadt spricht, erklären, was damit gemeint ist.


Nach dem Beben zeigt sich, dass die Infrastruktur der Kirche in Haiti einen Gutteil der Lasten der Katastrophe trägt. Überall im Land treffen Flüchtlingsfamilien aus der verwüsteten Region ein. Sie werden von Priestern, Ordensleuten und Freiwilligen in den kirchlichen Einrichtungen betreut. Die Kirchen und Kapellen sind die zentralen Orte für ihr Umland. Jeder Pfarrei ist ein Kranz von Kapellen zugeordnet. Trotz laufender "Abpfarrung" bleiben sie groß: Pfarreien von 30000, selbst 40000 Katholiken sind keine Seltenheit. Die Pfarrer können die Außenstationen nur in größeren Abständen aufsuchen. Früher kamen sie mancherorts nur einmal jährlich vorbei. (Seit Geländewagen die Maultiere ersetzt haben, ist das leichter und geschieht häufiger.) So verdankt sich das kirchliche Leben einer Kapellengemeinde nicht zuletzt dem "comité de chapelle", dem Kapellenrat, einer Gruppe von Laien. Sie sind es, die jetzt allerorten die Hilfe für die Erdbebenopfer in die Hand nehmen.


Wenn es die Laien sind, welche die Gemeinde tragen, hängt viel von ihrer guten Ausbildung ab. Dazu gründeten seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts alle Bistümer Bildungshäuser. Die stärkste Wirkung entfalteten das Centre Emmaus im Bistum Hinche und das Centre Madian im Bistum Les Cayes. Sie förderten jene Entwicklung, die die Kirche in Haiti veränderte: das Aufkommen der Basisgemeinden. Dies ist umso bemerkenswerter, als es (fast) ohne die Unterstützung der lateinamerikanischen Schwesterkirchen gelang.

Keine der vom Lateinamerikanischen Bischofsrat CELAM veröffentlichten Handreichungen für Gemeinden und kaum ein Buch zur Theologie der Befreiung wurden aus dem Spanischen oder Portugiesischen ins Französische übersetzt, geschweige denn ins Kreolische. Was sich in Lateinamerika theologisch ereignet, bleibt - wenige Ausnahmen bestätigen die Regel - in der Sprachbarriere hängen. Räumlich nah an Lateinamerika, ist Haiti kulturell weit entfernt. Auch die Kirche in Haiti lebt, auf Lateinamerika bezogen, in insularer Isolation. Stattdessen ist sie an den USA ausgerichtet, wo eine Million Haitianer leben. Eine große Hilfe sind die durch das Haiti "Parish Twinning Program" in Nashville (Tennessee) vermittelten Partnerschaften mit Gemeinden in den USA. Mehr als 80 Prozent der haitianischen Pfarreien werden dadurch mit unterhalten.


Religiös zu sein, ist in Haiti selbstverständlich: Kaum ein Alltagshandeln, für das nicht Gottes Segen und der Beistand der Heiligen angerufen wird; oder der Beistand der Götter und Geister: Die meisten Katholiken praktizieren den Vodou neben der katholischen Religion. So stark die Frömmigkeit, so dürftig ist die religiöse Bildung. Gläubige wechseln zu anderen "Anbietern", weil sie dort eher das finden, was sie suchen. Dieser Prozess der Abkehr von der angestammten, das heißt katholische Kirche vollzieht sich überall in Lateinamerika. In Haiti schreitet die Hinwendung zu protestantischen und Pfingstkirchen besonders rasant voran.

Sobald die Trümmer des Erdbebens weggeräumt sind und der Wiederaufbau begonnen hat, steht die katholische Kirche daher vor einer immensen Aufgabe: nämlich Ernst zu nehmen, dass sie ihr vom Konkordat behauptetes religiöses Monopol längst verloren hat. Eine zweite Aufgabe stellt die innere Einheit dar. Die Spaltung des Landes in Anhänger und in Gegner des einstigen Präsidenten Aristide wirkt fort, auch in der Kirche. Es gilt, die Zerrissenheit des Klerus und der Gemeinden zu überwinden. Nicht vergessen, geschweige denn vergeben sind weder die Verletzungen durch die Priester, die sich mit der Diktatur der Duvaliers und des Militärs gemeingemacht hatten, noch die Verletzungen durch die Priester am Hofe Aristides, die zu seiner Zeit über außerordentliche Macht verfügten und diese missbrauchten. Erzbischof Miot hatte sich dieses Dienstes der Versöhnung angenommen. Jetzt fehlt seine Stimme, leise im Ton, dabei kämpferisch entschieden, wenn es um Gerechtigkeit, um die Haiti zerreißende Gewalt und um die Verantwortung der Weltgemeinschaft ging.

Möge die Erschütterung des Erdbebens zumindest dies eine Gute bewirken: dass sie nun auch die alten Fronten erschüttert, die die Entwicklung Haitis immer zurückgeworfen haben. Pierre-André Dumas, Bischof von Anse-à-Veau et Miragoâne, schrieb nach der Katastrophe: "Alle Symbole, die uns verbunden haben, sind zerstört: die Kathedrale, der Präsidentenpalast (...) Jetzt müssen wir von Neuem aufbauen, und zwar auf eine Weise, dass Vorurteil und Diskriminierung abgeschafft werden. Das Beben gibt uns die Gelegenheit, unser Land auf eine neue Art aufzubauen, nicht so, wie die Dinge einst waren. Wir haben die Chance, ein besseres Haiti zu bauen."


Der Historiker Michael Huhn (geb. 1956) ist seit 1994 Mitarbeiter von Adveniat und war neun Jahre Länderreferent für Haiti. Seit 2008 Bibliothekar und Archivar des bischöflichen Lateinamerika-Hilfswerks.

Christian Frevel (geb. 1960) leitet die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und Bildung bei der Bischöflichen Aktion Adveniat.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 3, Februar 2010, S. 128-132
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2010