Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

LATEINAMERIKA/077: Gibt es Hoffnung im "Kriegsland" Mexiko? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 10/2011

Schutzloses Volk
Gibt es Hoffnung im "Kriegsland" Mexiko?

Von Magdalena M. Holztrattner


Es ist die Zivilbevölkerung Mexikos, die unter dem seit fünf Jahren das Land beherrschenden "Drogenkrieg" am meisten leidet. Die strukturellen Ursachen der exorbitanten Kriminalität, die Armut und Perspektivenlosigkeit vor allem der jungen Menschen werden nicht in Angriff genommen. In dieser Situation verfügt die Kirche als Anwältin der Schwachen, Schutz- und Rechtlosen über hohes Ansehen in dem laizistischen Staat.


Mexiko ist "in eine kritische und bedrohliche Situation gekommen, in der das Volk absolut schutzlos gelassen wird, ohne eine Institution, an die es sich wenden kann, um den Schutz seiner Würde einzufordern". Klare und prophetische Worte sind es, die der mexikanische Bischof Raúl Vera López (Diözese Saltillo) zur Lage seiner Nation findet. Bereits mehrfach national und international mit Menschenrechtspreisen ausgezeichnet und zugleich - oder deshalb - von verschiedenen Seiten bedroht und isoliert, hört er nicht auf, den Finger in die klaffenden Wunden seines Volkes zu legen.

Rund 110 Millionen Menschen zählt das nordamerikanische Land lateinamerikanischer Prägung, das zu 30 Prozent von Menschen unter 15 Jahren bevölkert wird. Der reichste Mann der Welt ist Mexikaner - Carlos Slim, der als Medienmagnat im Stundentakt sein Vermögen vermehrt. Zugleich leidet das Volk unter den drastisch gestiegenen Preisen für das Grundnahrungsmittel der "Tortillas", weil der Mais durch die Nachfrage Europas nach Biodiesel knapp geworden ist.

Mexiko ist der sechstgrößte Erdölförderstaat und das elftreichste Land der Welt. Jedoch ist die Ungleichverteilung der Zugänge zu Gütern groß: Die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung müssen mit nur knapp zwei Prozent der Besitztümer auskommen, während die reichsten zehn Prozent mehr als ein Drittel des jährlichen Volkseinkommens zur Verfügung haben.


Als zweitgrößte Wirtschaftsmacht Lateinamerikas hängt Mexiko sehr stark von der US-Konjunktur ab. Seit In-Kraft-Treten der NAFTA-Abkommen 1994 gehen mehr als 80 Prozent der mexikanischen Exporte in die USA, die Hälfte der ausländischen Investitionen kommt von dort. Die tiefe Rezension der jüngsten Weltwirtschaftskrise traf Mexiko deshalb besonders stark. Vor allem die Geldsendungen (Remesas) der Migranten und Migrantinnen, die in die USA ausgewandert sind und dort arbeiten, gingen deutlich zurück. Nach den Erdöleinnahmen sind die "Remesas" jedoch die zweitgrößte Devisenquelle, da rund 35 Millionen Menschen mexikanischer Abstammung in den USA leben, davon rund sieben Millionen ohne gültige Aufenthaltspapiere, die so genannten "Indocumentados". Für 2010 lag die Wachstumsrate der mexikanischen Wirtschaft wieder bei 5,5 Prozent. Was jedoch nichts daran änderte, dass fast die Hälfte der Bevölkerung (47 Prozent) weiterhin in Armut lebt.


"Ihr stellt das Geld - wir die Toten"

Das Eingangszitat von Bischof Raúl Vera spricht von einer der klaffendsten Wunden seines Volkes: den Zivilopfern des "Drogenkrieges". Internationale Nachrichten über Mexiko sind in den letzten Monaten gefüllt mit Toten, Opfern organisierter Kriminalität und den mörderischen Machenschaften der Drogenkartelle. 2006 erklärte der amtierende Präsident Felipe Calderón der Drogenmafia den offenen Krieg. Rund 50.000 Soldaten und 20.000 Polizisten kämpfen seither landesweit gegen die großen Kartelle, die ihrerseits insgesamt rund 150.000 Mann stellen.

Die "Narcos" wiederum bekämpfen sich gegenseitig, um sich die besten Süd-Nord-Routen für den Drogenschmuggel beziehungsweise die Nord-Süd-Routen für den Waffenschmuggel aus den USA zu sichern. Der mexikanische "Drogenkrieg" ist ein vom nördlichen Nachbarn USA aufgezwungener Krieg. Denn die Drogen werden nach wie vor fast ausschließlich in den Straßen, Bars und Universitätscamps der USA konsumiert, wenn auch aufgrund der zunehmenden Sättigung des US-amerikanischen Marktes die Kartelle immer mehr dazu übergehen, in Mexiko selbst den Markt zu vergrößern - zum Teil, indem sie Barbesitzer dazu zwingen, Drogen zu verkaufen. Die schweren Waffen wiederum, die beide Seiten in diesem Krieg einsetzen, werden meist in den USA produziert.


Im Rahmen des 2007 ins Leben gerufenen Plans "Mérida" hatten die USA im Jahr 2009 Mexiko allein 450 Millionen US-Dollar für die Bekämpfung der Drogenkriminalität zur Verfügung gestellt und sich dadurch innenpolitischen Einfluss in Mexiko gesichert. Elitetrupps des mexikanischen Militärs werden von US-amerikanischen Spezialisten ausgebildet. Immerhin konnten so in den letzten Jahren einige führende Köpfe der Kartelle beseitigt werden. Ihre Macht zieht sich jedoch tief in wirtschaftliche und politische Kreise: Zwischen 30 und 40 Prozent des Bruttoinlandproduktes werden als im Zusammenhang mit kriminellen Machenschaften erwirtschaftet betrachtet. Rund 71 Prozent der Kommunalgemeinden sollen im direkten oder indirekten Einflussbereich von Drogenkartellen stehen.

Es ist die Zivilbevölkerung, die für diesen fremden Krieg seit fünf Jahren die Toten stellt. 50.000 Tote werden bis Jahresende 2011 zu beklagen sein. Tote aus allen Bevölkerungsschichten, die meist zufällig zwischen die Fronten geraten sind: Frauen, Männer, Kinder, Journalisten und Straßenverkäuferinnen, Jugendliche und Alte, Analphabeten und Lehrerinnen. Oder, wie jüngst, Besucher und Besucherinnen eines Spielkasinos. Oder Transmigranten auf ihrem Weg in die USA. Sie alle zählen zu den "unvermeidbaren Kollateralschäden" dieses Krieges, wie es der Präsident der Republik mehrfach ausdrückte.


Der viel wirksamere "Krieg" gegen die strukturellen Ursachen dieser exorbitanten Kriminalität - die Armut und Perspektivenlosigkeit vor allem der jungen Menschen Mexikos - wird nicht in Angriff genommen. 50 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos. Als "Ni-nis", die weder ein Studium machen, noch einer geregelten Arbeit nachgehen können, sind junge Menschen ein unerschöpfliches Heer für kriminelle Organisationen. Diese versprechen ihnen ein kurzes, aber gutes Leben mit Geld, schnellen Autos, schönen Frauen und starken Waffen, während der Staat sie bildlich gesprochen im Regen stehen lässt.


Das mexikanische Volk ist in dieser lebensbedrohlichen Lage auf sich allein gestellt und schutzlos. Denn die Meisten können sich keine gepanzerten Autos, mit Starkstrom gesicherte Stacheldrahtzäune oder hohe Mauern vor ihren Häusern leisten. Die normale Bevölkerung lebt zu 50 Prozent in großen Städten wie Mexiko-Stadt, Guadalajara, Monterrey oder Nezahualcóyotl. Weil sie mehrheitlich mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen müssen, leben sie in den Elendsgürteln dieser Städte - in unverputzten Häusern oder Hütten, oft noch ohne Strom und Trinkwasser, ohne ausreichende medizinische oder schulische Infrastruktur und umgeben von Lärm, Gestank und den alltäglichen Gefahren armer Stadtviertel.

Besonders Frauen sind der Alltagsgefahr ausgesetzt, die ihre Lebensqualität massiv senkt. Ciudad Juárez, im Norden des Landes, ist für seine hässlichen Frauenmorde bekannt. Dass Frauen im Bundesstaat Mexiko viel gefährlicher leben wird wenig kolportiert: Innerhalb von vier Jahren stieg dort die Zahl der jährlichen Feminizide von 97 auf 200.

Die normale Bevölkerung kann jedoch nicht mit staatlicher Gerechtigkeit rechnen, denn kaum mehr als zwei Prozent aller in Mexiko begangenen Morde werden juristisch aufgeklärt und vor Gericht gebracht. Faktisch herrscht damit in Mexiko Straflosigkeit. Der jüngst mit dem 6. Menschenrechtspreis von Amnesty International Deutschland ausgezeichnete Mexikaner Abel Barrera Hernández stellte fest, dass gerade unter der armen Bevölkerung in südlichen Bundesstaaten Mexikos seit der Militarisierung der Regionen zunehmend Fälle von Menschenrechtsverletzungen beklagt werden. Die staatlichen Kräfte also, die zum Schutz der Bevölkerung in den Krieg geschickt worden sind, misshandeln, berauben, vergewaltigen und töten ihre eigenen Landsleute genauso wie Paramilitärs, die oft von Großkonzernen beauftragt sind.


Gerade die südlichen Bundesstaaten sind (noch) reich an Rohstoffen, Wasser, Wäldern und fruchtbaren Böden. Im Zuge der Förderung wirtschaftlichen Wachstums vergeben Regierungen - oft über die Köpfe der lokalen Bevölkerung und ihrer gesetzlich verbrieften Rechte hinweg - Konzessionen an transnationale Konzerne, um Mexiko weiterhin in der Liste der wirtschaftlich stärksten Länder der Welt zu platzieren.

Energiegewinnung mittels großer Staudämme, Abbau von Mineralien vor allem durch kanadische Minenfirmen, Export tropischer Hölzer, Patentierung pflanzlicher Heilstoffe durch europäische und US-amerikanische Pharmafirmen, Nutzungsrechte für Trinkwasser unter anderem durch die "Coca-Cola-Company" und Ausbau des internationalen Tourismus werden als Wirtschaftsmotoren propagiert. Zivile Gruppen, die sich gegen den gesetzlich legitimierten Raub von Land, Wasser und Rohstoffen wehren, werden eingeschüchtert, in den Medien als Terroristen angeprangert und bekämpft. Die Täter hingegen werden oft laufen gelassen.

So zum Beispiel am 22. Dezember 1997 in Acteal (Chiapas), wo 45 Indígenas, darunter Kinder und Jugendliche von Paramilitärs getötet wurden. Sie hatten sich auf friedliche Weise gegen die Missachtung ihrer Rechte gewehrt. Die Regierungen von Mexiko und Chiapas degradierten den Fall zum ethnischen Konflikt. Menschenrechtsorganisationen sahen aber einen direkten Zusammenhang mit der Bekämpfung der zapatistischen Befreiungsorganisation EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional). Die "materiellen" Täter des Massakers von Acteal wurden zwar gefasst und eingesperrt, 2009 jedoch auf Entscheid des Obersten Gerichts auf freien Fuß gesetzt. Die Zivilbevölkerung ist den Mördern damit weiterhin schutzlos ausgesetzt.


Ebenso allein gelassen sind die Hinterbliebenen der verschütteten Minenarbeiter von Pasta de Conchos. Am 16. Februar 2006 explodierte im nördlichen Bundesstaat Coahuila eine Mine des größten nationalen Minenbetreibers, "Grupo México" und verschüttete 65 Bergarbeiter. Zwei der Kumpels konnten tot geborgen werden. Die restlichen 63 Verschütteten zu bergen, weigerte sich die Gesellschaft und setzte all ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss dagegen ein. Während also vor kurzem der Jahrestag des chilenischen Wunders von San José gefeiert wurde, kämpfen die Angehörigen der Verschütteten von Pasta de Conchos nach wie vor darum, ihre Toten würdig beerdigen zu können und als Hinterbliebene die ihnen gesetzlich zustehende Witwen- und Waisenrente zu erhalten. Die bundes- und nationalstaatliche Politik interessiert sich dafür nicht.

Was die großen politischen Parteien Mexikos interessiert, sind die im Jahr 2012 anstehenden Präsidentschaftswahlen. Die 70 Jahre Alleinherrschaft der PRI (Partido Revolucionario Institucional) wurden nach dem Sieg der rechts-konservativen PAN (Partido Acción Nacional) mit Präsident Vicente Fox (2000 bis 2006) und seit 2006 mit Präsident Felipe Calderón unterbrochen. Diese demokratische Transformation Mexikos mit der Ausbildung eines Mehrparteiensystems mit abwechselnden politischen Allianzen ist eine junge Errungenschaft.


Angst vor der Ausübung demokratischer Rechte

Für den Tag der Präsidentschaftswahl am 1. Juli 2012 arbeitet die PRI mit ihrem von den Massenmedien unterstützten Kandidaten Enrique Peña Nieto an der Rückkehr an die Macht. Obwohl die Partei in derzeit 19 der 32 Bundesstaaten den Gouverneur stellt, gilt sie nicht automatisch als Siegerin. Das hängt auch wesentlich von den weiteren Entwicklungen der anderen Parteien ab: Werden die rechts-konservative PAN und die links-liberale PRD (Partido de la Revolución Democrática) eine tragfähige Koalition bilden können? Wird sich die PRD auf einen Kandidaten einigen können (Spitzenkandidaten sind der Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Marcelo Ebrard, und der mit 0,57 Prozent weniger Wählerstimmen getroffene Verlierer der letzten Präsidentschaftswahlen, Andrés López Obrador)?


Die große Frage jedoch ist, ob das Volk zur Wahl gehen wird. Bei den letzten Gouverneurswahlen in den nördlichen Bundesstaaten lag die Wahlbeteiligung zum Teil bei knappen 30 Prozent. Die Bevölkerung ist unter anderem durch die Ermordung von Bürgermeisterkandidaten eingeschüchtert worden. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger lehnen es ab, als Wahlkampfhelfer zu arbeiten. Die Drogenkartelle sind zu einer politischen Macht geworden, die dem Volk Angst einjagt, seine demokratischen Rechte auszuüben. Zugleich ist die Zufriedenheit des Volkes mit der Demokratie des Landes sehr gering. Und das Interesse großer Politiker für das Volk? In den letzten 11 Jahren der PAN-Regierung sind die Zahlen vor allem in folgenden politisch relevanten Bereichen gestiegen: Arbeitslosigkeit, Armut, Lebenserhaltungskosten.

Zum Beispiel die Lebenslagen von Migrantinnen: Mit ihrer bunten Bluse und den langen, nachtschwarzen Haaren fällt die Verkäuferin religiöser Artikel auf dem Vorplatz der Kathedrale im Zentrum von Mexiko-Stadt kaum auf, obwohl sie sich durch ihre Kultur, ihre Sprache und ihr Aussehen von der Masse der Menschen unterscheidet. In ihrem Versuch, im Moloch der Stadt Fuß zu fassen und für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft zu verdienen, ist sie eine von rund 500.000 Indígena-Frauen, die ihr Land, ihren Kulturraum, ihre Herkunft aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben, um im Großraum von Mexiko ihr Glück zu versuchen. Die sozio-politische Missachtung der Dimension der Landflucht zeigt sich in Städten wie Valle del Chalco oder Nezahualcóyotl.

Obwohl sich mehr als eine Million Menschen dicht an dicht angesiedelt haben, hinkt die städtische Infrastruktur der Entwicklung weit hinterher. Wasser wird teilweise mit Tanks geliefert, das im Boden versickernde Abwasser mischt sich mit der braunen Brühe, die als Kanal die Stadt Nezahualcóyotl durchzieht, der Strom zur vorrangigen Bedienung des Fernsehgerätes wird meist ohne Erlaubnis vom öffentlichen Netz abgezapft. Die indigenen Bewohnerinnen dieser Städte, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten aus weiter entfernt liegenden Bundesstaaten zugewandert sind, sind nur in Vorwahlzeiten für die politische Elite interessant.

Als Migrantinnen vom Land gehören sie irgendwie nicht ganz dazu. Sie kommen "von woanders her". Als Indígenas stehen sie unter dem großen Druck, sich der national-ethnischen Hegemonie eines an westlichen Standards ausgerichteten Lebensstils anzupassen. Sie werden gedrängt, ihre Sprache und Kultur zu verleugnen, ihre "Kosmovision" aufzugeben, die "irgendwie nicht verständlich ist". Als Frauen erleiden sie zudem eine dritte Dimension von Diskriminierung, wenn sie in der vom Machismo, dem Patriarchat mexikanischer Prägung, in ihrem Arbeiten, Denken und Fühlen gering geschätzt werden.

Vor allem kirchliche Organisationen und Ordensgemeinschaften arbeiten mit diesen unsichtbar gemachten Frauen (und Männern), um sie in ihrer Würde und in ihren kulturellen Lebensweisen zu bestärken, begleiten sie auf ihrem Weg, um in den Metropolen sich selbst und eine neue Heimat zu finden.


Anders, und doch ähnlich, ist die Situation der Transmigranten, jener, vor allem jugendlichen Männer, die Mexiko nur als Durchgangsstation betreten, um in das "Gelobte Land" USA zu gelangen.

Mehr als 300.000 Menschen sind es jährlich, die meist aus zentralamerikanischen Ländern wie Honduras und El Salvador kommen, um die 5.000 Kilometer von der Süd- zur Nordgrenze Mexikos hinter sich zu bringen. Sie haben nicht nur ihre Heimat und ihre Lieben verlassen, sie befinden sich auch auf einem lebensgefährlichen Weg. Ohne Aufenthaltspapiere ausgestattet sind sie bereits auf mexikanischem Territorium den Machenschaften krimineller Organisationen wie auch von Staatsbeamten ausgesetzt. Erpressungen, Raub, Vergewaltigungen, Entführungen und Morde sind an der Tagesordnung.

Um die Situation der rund 35 Millionen mexikanischen Einwanderer in den USA zu verbessern, arbeiten die mexikanischen Behörden als verlängerter Arm der US-amerikanischen Migrationsbehörde mit, die Südgrenze Mexikos gegen zentralamerikanische Einwanderer zu sichern.

Was 2010 im nördlichen Tamaulipa sichtbar durch die Weltpresse ging, ist eine weitere traurige Realität: Transmigranten sind eine große Masse vogelfreier "Nichtse", die oft "weniger wert sind als die Kugel, die sie umbringt" (Eduardo Galenao). Von den Drogenkartellen werden sie gezwungen, als Drogenkuriere oder Auftragsmörder zu arbeiten. Ihr Tod beschäftigt jedoch selten die mexikanischen Behörden. Migranten verschwinden einfach. Nun haben die Angehörigen verschwundener, zentralamerikanischer Migranten aufbegehrt: In der Karawane "Schritt für Schritt für den Frieden" gingen sie in Begleitung von Presse und Fernsehen die Strecke des Todeszuges nach, um auf die Schicksale ihrer verschwundenen Verwandten aufmerksam zu machen. Ähnlich wie die Karawane für den Frieden.


Karawane für den Frieden

Am 8. Mai war der Hauptplatz vor der Kathedrale von Mexiko-Stadt gefüllt mit Menschen unterschiedlicher politischer und sozialer Herkunft. Sie vereinte ein Wunsch: Das Blutvergießen im Drogenkrieg sollte endlich ein Ende nehmen. Nach einem tagelangen Schweigemarsch kamen zehntausende Menschen von dem südwestlich gelegenen Cuernavaca in die Hauptstadt Mexiko, um unter sengender Sonne friedlich zu demonstrieren und jenem Mann zuzuhören, der die Stimme so vieler ist: der mexikanische Dichter Javier Sicilia, dessen Sohn Francisco - wie viele Kinder der Anwesenden - von Mitgliedern eines Drogenkartells umgebracht worden war. Vor dem stark bewachten Präsidentenpalast klagte der Dichter an - die "schmerzhafte Nacktheit" der Toten, die Straffreiheit als "Modus Vivendi" der Gesellschaft und ein Wirtschaftssystem, dessen Maxime es ist, auf Kosten anderer zu immer mehr Besitz zu gelangen.

Mit kreativen Spruchbändern und Körperbemalungen machte die Karawane aufmerksam auf die bis dahin 40.000 Toten, die 1400 Leichen in den Massengräbern, die 10.000 Waisenkinder, die 10.000 entführten Migranten und die 30 ermordeten Bürgermeister des "Drogenkrieges". In einem Forderungskatalog an die Politik wird der Kampf gegen Korruption und Straffreiheit aufgeführt, eine Sicherheitspolitik, die sich an den Menschenrechten orientiert, die öffentliche Erinnerung der Gesellschaft an ihre Toten, die Ausrottung der wirtschaftlichen Wurzeln der organisierten Kriminalität.

Von der Hauptstadt ging der Marsch weiter in den Norden, nach Ciudad Juárez. Im September wurde in einem zweiten Teil der Weg von der Hauptstadt in den Süden eingeschlagen. Die "Prozession", wie Javier Sicilia die Bewegung auch nennt, wird von der Kirche unterstützt. Auch wenn Raúl Vera der einzige Bischof ist, der sich öffentlich der Karawane anschließt, ist dieser "Marsch für Frieden in Würde und Gerechtigkeit" ganz im Sinne der katholischen Bevölkerung Mexikos.


Obwohl Mexiko seit der Revolution 1910 ein laizistischer Staat ist, der über Jahrzehnte hinweg der katholischen Kirche ihre historischen Privilegien nahm, spielt die Kirche in ihren unterschiedlichen Ausprägungen eine wichtige Rolle im privaten und politischen Leben der mexikanischen Bevölkerung. Als Anwältin der Schwachen setzt sie sich für die Ärmsten der Armen ein in Menschenrechtsfragen, bei der Aufnahme und Verpflegung von Migranten und Migrantinnen, im Ausbau schulischer, medizinischer und sozialer Infrastruktur in abgelegenen Gegenden, als kreative Entwicklerin indigener Theologien und einer inkulturierten Kirche und Feiergemeinschaft. Sie schafft ein Bewusstsein bezüglich Verbrechen gegen Umwelt und Natur, ist kritische Hoffnungsträgerin angesichts multipler Depressions-Faktoren, die die Menschen zu lähmen und zur Verzweiflung zu bringen drohen. Auch die Mexikanische Bischofskonferenz findet immer wieder klare Worte zur Situation der Menschen.


Noch gehören rund 82 Prozent der mexikanischen Bevölkerung der katholischen Kirche an. Der Zulauf zu Pfingstkirchen ist jedoch auch im zweitgrößten katholischen Land der Welt deutlich zu spüren. Zwar werden noch 73 Prozent aller Kinder getauft, aber nur mehr jede zweite Ehe wird auch vor dem Altar geschlossen. Da haben auch die fünf Besuche von Papst Johannes Paul II. wenig geändert. Die breite, bildungsferne Bevölkerung dürfte jedoch auch wenig berührt gewesen sein von der Veröffentlichung der kriminellen Handlungen des Gründers der Legionäre Christi, Marcial Maciel. Oder von den scharfen Auseinandersetzungen zwischen dem Bürgermeister von Mexiko-Stadt und dem Bischof von Guadalajara um die Frage der Straffreiheit von Abtreibungen und das Recht auf Heirat und Adoption homosexueller Paare. An den Wänden der Häuser des einfachen Volkes hängt meist kein Kreuz, sondern ein farbiges Bild der Gottesmutter von Guadalupe, der Nationalheiligen, zu der sich 95 Prozent der Bevölkerung bekennen.


In der gefährlichsten Stadt der Welt ist Journalismus ein tödlicher Beruf

Ein als neu empfundenes religiöses Phänomen, das allerdings bereits während der Zeit der Kolonialisierung Mexikos erwähnt wird, ist der Kult rund um den Tod. Als "Santa Muerte", "Santísima", "Santa" oder "Niña Blanca" genannte Figur schmückt das bekleidete Skelett in den letzten Jahrzehnten auffällig diverse Hausaltäre. Die Verehrung der "Santa" ist eng mit den Ritualen des katholischen Glaubens verbunden: Die Gläubigen beten immer wieder ein Vaterunser und halten Liturgien ab, ohne eine dogmatische Definition oder eine hierarchische Legitimierung für jene zu benötigen, die die Gebete oder Liturgien leiten. Wurde der "Heilige Tod" früher mit Prostituierten, Kriminellen oder Obdachlosen in Verbindung gebracht, so sind es heute normale Leute bis hin zu ranghohen Politikern, die der "Santa Muerte" huldigen.

Der Ansturm der letzten Jahre hängt wesentlich mit der großen Angst, Einschüchterung und Bedrohung der Bevölkerung zusammen. Alle sind "auf der Linie des Todes", da niemand die Menschen vor einem plötzlichen Tod, Überfall oder der ungewollten Verwicklung in eine kriminelle Machenschaft schützen kann. Die politische, wirtschaftliche, soziale und religiöse Krise, die das Land seit Jahren schüttelt und in der die meisten Menschen nicht mehr können, als einfach versuchen zu überleben, treibt sie in die Arme des Todes - wenigstens bildlich gesprochen.

Den Schutz der "Santa Muerte" würden auch die Journalisten Mexikos bedürfen. Nicht nur in der gefährlichsten Stadt der Welt, Ciudad Juárez, ist Journalismus ein tödlicher Beruf. Die Berichterstattung über die Machenschaften des organisierten Verbrechens ist eine heikle Sache. Die kriminellen Banden wollen in der Art und Weise ihrer Verbrechen eine Botschaft der Angst mitteilen. Die Journalisten und Journalistinnen müssen jedoch aufpassen, nicht für die Verbreitung dieser Botschaften benutzt zu werden. Zugleich sollen sie eine alternative Informationsplattform zu der offiziellen Berichterstattung der Regierung darstellen. Denn oft bringen sie Beweise ans Licht, die die Polizei nicht beachtet.

Somit ist kritischer Journalismus immer auch eine Kritik am offiziellen Regierungs- und Polizeisystem. Das führt dazu, dass Journalisten immer öfter ohne weitere Erklärung verhaftet werden. Sie werden wie Kriminelle behandelt und ermordet. Seit dem Jahr 2000 wurden allein in Mexiko 74 Journalisten und Journalistinnen ermordet. Die meisten Übergriffe auf diese Berufsgruppe werden jedoch nicht durch Kartelle oder kriminelle Banden ausgeführt, sondern, so eine Polizeireporterin aus Ciudad Juárez, von Mitgliedern der Polizei. Mexiko ist damit das für Journalisten gefährlichste Land der Welt. Und das 100 Jahre nach der sozialen Revolution, deren Forderungen nach wie vor aktuell sind.


Für den rechts-konservativen Präsident Calderón und seine Regierung ist die mexikanische Revolution von 1910 mit ihren hundert Jahre alten sozialen Forderungen ein Gräuel. Die Geschichte wird daher verwässert und geglättet. Das "Bicentenario" hingegen, die Erinnerung an die (steuerliche) Unabhängigkeit (der damaligen politischen und wirtschaftlichen Elite) Mexikos von der spanischen Kolonialmacht im Jahr 1810, wird überbetont.

Würde es eine weitere Revolution im Jahre 2010 geben? Diese Frage stellten sich die Menschen umso weniger, je näher das Gedenkjahr kam. Immer mehr soziale Bewegungen, kritische Geister und engagierte Menschen von der Basis wurden umgebracht. Soziales Engagement und ziviler Widerstand werden zunehmend verfolgt und mit Terrorgesetzen eingeschüchtert. Es wird bereits von einer "sozialen Säuberung" politischer Bewegungen durch "Narcos" und Armee gesprochen. Denn die sozialen Bedingungen beziehungsweise die sozio-kulturellen Ideale, die im Jahre 1910 die Revolution zum Explodieren brachte, sind die gleichen wie heute. Aber für revolutionäre Intellektuelle geht es statt einer intensiven Auseinandersetzung mit der revolutionären Vergangenheit inzwischen heute hauptsächlich darum, zu überleben.


Den eigenen Schutz und die eigene Würde einzufordern, wird für die Bürgerinnen und Bürger Mexikos immer schwieriger. Das Volk ist offenbar auf sich allein gestellt und wird nur von einigen wenigen prophetischen Menschen aus Kunst, Kirche und Kultur gestärkt. Der gerade stattfindende "Marsch für Frieden in Gerechtigkeit und Würde" zeigt jedoch ein Volk, das unterwegs ist. Menschen jedweder religiösen, politischen und sozialen Herkunft haben sich gemeinsam aufgemacht um friedlichen Widerstand zu leisten - bewegt von der großen Sehnsucht nach einem friedvollen und würdigen Leben in ihrem Mexiko.


Dr. Magdalena M. Holztrattner (geb. 1975) studierte in Salzburg katholische Theologie, Lehramt Religion und Hispanistik und promovierte 2008 mit einem interdisziplinären Projekt über partizipative Armutsforschung mit Jugendlichen. Sie absolvierte mehrere Forschungsaufenthalte in El Salvador. Seit 2009 arbeitet sie bei Adveniat als Länderreferentin für Mexiko und die Dominikanische Republik.


*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2011, S. 531-536
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,29 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2011