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STANDPUNKT/282: Moraltheologischer Blick auf die RAF-Debatte (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 3/2007

Die Zumutung der Versöhnung
Ein moraltheologischer Blick auf die RAF-Debatte

Von Konrad Hilpert


Die jüngste Debatte um die vorzeitige Freilassung von RAF-Terroristen war geprägt von vielen Missverständnissen, die von interessierter Seite zum Teil noch geschürt wurden. Auffällig war ebenso die Verwendung einer Reihe von Vokabeln und Argumentationsfiguren, die sonst eher aus religiösen Kontexten vertraut sind.


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Es war eine schlimme Zeit vor dreißig Jahren, als die Terroraktionen der "RAF", die sich selbst als "Stadtguerrilla" gegen das System des "Monopolkapitalismus" ausgab, ihren Höhepunkt erreichten. Führende Repräsentanten der Politik und der Wirtschaft - Generalbundesanwalt Buback, der Bankier Ponto, Arbeitgeberpräsident Schleyer - wurden im Jahr 1977 gezielt ermordet und dabei alle, die schützend im Wege standen, wahllos erschossen.

Sie galten eben nur als "Typen in Uniform", nicht als Menschen (Ulrike Meinhof). Später gab es noch eine Reihe weiterer Opfer. Die staatliche und gesellschaftliche Ordnung wurde bei jeder Gelegenheit als "Schweinesystem" verhöhnt. Der "Große Krisenstab" im Bundeskanzleramt hatte in einer Art von Allparteienkoalition über Wochen schwierigste Abwägungen vorzunehmen. Große Teile der Gesellschaft wurden durch die ideologische Zuschärfung in die Polarisierung genötigt und litten am Ende doch unter der Verwundbarkeit und momentanen Ohnmacht.

Nach und nach ist die Polizei der Täter habhaft geworden, und die Justiz hat ihnen den Prozess gemacht. Nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, was sie nach Ansicht vieler gar nicht verdient hatten. Der Staat hat der Versuchung widerstanden, an den Tätern Rache zu üben oder, wie in der damaligen Erregung und Empörung von manchen vorgeschlagen, für derartige Delikte die Todesstrafe wieder einzuführen. Nach ihrer Verurteilung zu den damals möglichen Höchststrafen (mehrmals lebenslänglich) wurden die Täter in besonders gesicherten Gefängnissen weggeschlossen und vergessen, als wäre das Ganze nur ein kurzer Albtraum gewesen. Zwei Jahrzehnte lang waren sie so gut wie kein Thema mehr, weder in der wissenschaftlichen Literatur noch in der praktischen Politik.

Insofern ist die derzeitige Debatte erstaunlich; erstaunlich was die Intensität betrifft, erstaunlich aber auch, was manche Inhalte betrifft, etwa die Überprüfung der Möglichkeit einer Haftaussetzung, die jedem lebenslänglich Verurteilten zusteht. Es fällt schwer, im Blick auf diese Debatte nicht an eine plötzliche Konfrontation mit Verdrängtem zu denken. Dabei ist klar, dass Verbrechen an Menschen auch nach so langer Zeit Verbrechen bleiben. Daran gibt es nicht die geringsten Zweifel, auch wenn jetzt über vorzeitige Haftentlassung diskutiert und von manchen Kreisen energisch die Historisierung der Vorgänge betrieben wird, semantisch erkennbar an dem mit Bedacht gebrauchten Zusatz "frühere" oder "ehemalige" Terroristen.


Gnade als Ausfluss überlegener Stärke

Man kann vielfach den Eindruck bekommen, dass die Prüfung der Möglichkeiten einer vorzeitigen Haftentlassung falsch gedeutet wird, etwa als Eingeständnis des Staats, dass das Strafmaß zu hoch gewesen sei, die Taten - da aus moralischen Überzeugungen motiviert - nicht ausreichend in ihrer politischen Zielsetzung gewürdigt worden seien oder aber, dass die Schuld nach so langer Haft ausreichend gesühnt sei.

Derartigen Deutungen liegt ein Missverständnis der beiden Möglichkeiten einer vorzeitigen Entlassung aus der Haft zugrunde, die unser Strafrecht vorsieht: der Aussetzung des Strafvollzugs auf Bewährung (Paragraph 57 StGB) und dem Gnadenrecht (Art. 60 Abs. 2 GG). Im ersten Fall geht es um die Möglichkeit des Gerichts, dem Verurteilten die Verbüßung des Rests der gegen ihn verhängten Strafe zu ersparen, wenn zwei Drittel der Strafzeit vorbei sind und von ihm keine Gefährdung mehr für die Sicherheit der Allgemeinheit ausgeht. Solche Strafaussetzung kann während der Bewährungszeit widerrufen werden.

Im zweiten Fall geht es um das besondere Recht des Bundespräsidenten beziehungsweise der Ministerpräsidenten, einen Teil der Strafe zu erlassen. Historisch ist dieses Gnadenrecht sicherlich ein Relikt aus der Zeit, als Könige als aus höherer Macht bestellt und als über den Gesetzen stehend gegolten haben. Aber auch im demokratischen Staat kann das Gnadenrecht als eines der wenigen Rechte des Staatsoberhaupts ein Ausdruck für das Wissen sein, dass die Rechtsordnung und ihre Durchsetzung nicht lückenlose Gerechtigkeit schaffen kann.

Darin konvergiert das Gnadenrecht de facto, wenn auch nicht in seiner expliziten Begründung, mit dem, was die Theologie seit Karl Barth "eschatologischen Vorbehalt" nennt: Die letztgültige Feststellung einer persönlichen Schuld bleibt ebenso wie der Ausgleich, auf den wir im Leben überall dort hoffen, wo wir die erfahrene Wirklichkeit als bedrückend und ungerecht erfahren, Gottes Gericht vorbehalten. Dies zu wissen beziehungsweise zu glauben, dispensiert in keiner Weise davon, sich um mehr Gerechtigkeit zu bemühen, aber es entlastet davon, an der dennoch immer wieder geschehenden Ungerechtigkeit oder an den verbleibenden Defiziten der Gerechtigkeit zu verzweifeln oder zum moralisch gnadenlosen Tyrannen werden zu wollen. Gnade ist so gesehen nicht Resultat von Schwäche, sondern im Gegenteil Ausfluss überlegener Stärke, die weiß, dass sie schenken kann, ohne sich selbst zu schwächen oder sich selbst zu kompromittieren. Ein Resultat von Schwäche wäre sie dann, wenn sie nicht freiwillig, sondern erzwungen wäre.

Ein gewisser Nachteil des Gnadenrechts im demokratischen Rechtsstaat besteht wohl darin, dass mit seiner Gewährung eine Tat als ausreichend gesühnt behauptet werden und der Begnadigte als in seine bürgerlichen Ehrenrechte wieder eingesetzt gelten kann. Hier ist der Ansatzpunkt für ein Missverständnis, das von interessierten Kreisen gezielt gepflegt werden kann und weshalb die Anwendung des Gnadenrechts von vielen Angehörigen der Opfer als Zumutung empfunden wird. Aber gleichwohl: Es würde sich immer noch um einen Akt der Gnade handeln; und das heißt doch zumindest, dass der Erlass des Haftrests "unverdient" wäre, also ein Geschenk, auf das der entlassene Straftäter keinen Anspruch im strikten Sinn hat. Und weil es um die Anwendung des Gnadenrechts im Rechtsstaat geht, ist auch klar, dass der Bundespräsident seine Entscheidung nicht nach Gefühl und Gutdünken trifft, sondern erst nach einer sorgfältigen Prüfung. Dies lenkt den Blick auf die Voraussetzungen der Freilassung.

Es gehört zu den Auffälligkeiten der aktuellen Debatte, dass in ihr eine Reihe von Vokabeln und Argumentationsfiguren Verwendung finden, ja sogar eine zentrale Rolle spielen, die uns sonst eher aus religiösen Kontexten vertraut sind. Denn nicht nur von "Schuld" und "Gnade" ist viel die Rede, sondern auch von "Reue". Sie wird in der Öffentlichkeit bis hin zu den oberen Rängen der Politik massiv eingefordert, als Vorbedingung für eine mögliche Freilassung und häufig gekoppelt mit dem Hinweis auf die Angehörigen der Opfer, die ja durch die Taten ihrerseits zu Opfern gemacht wurden und es nach wie vor sind.


Wirkliche Reue ist etwas Innerliches

Aber der Ruf nach Reue ist keineswegs so eindeutig, wie es beim ersten Hören dieses Begriffs den Anschein hat. Meint Reue hier die Absage an Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele? Oder das Eingeständnis, dass die Morde damals der falsche Weg waren? Oder die Einsicht, dass es eine irrsinnige Anmaßung war, "das System" stürzen zu wollen? Oder die Anerkennung einer Schuld gegenüber den Hinterbliebenen? Oder ein ausdrückliches Wort der Entschuldigung bei den Angehörigen der Opfer? Oder meint die verlangte Reue ein wirkliches Bedauern des Getanen aus der in der langen Zwischenzeit gewonnenen Einsicht in die Schuld, die man durch Ermordung, Bedrohung, Erpressung, Verächtlichmachung, List, Trug und anderes mehr auf sich geladen hat?

Wahrscheinlich hat die "Volksseele" ja durchaus ein richtiges Gespür dafür, dass eine Änderung der eigenen Lebensausrichtung und Bemühungen der Anderen um eine Reintegration ohne einen solchen Akt der Reue nicht gelingen können. Aber dies förmlich verlangen und das vor aller Öffentlichkeit, um dann im Gegenzug dazu die vorzeitige Freilassung zu gewähren, kann man nicht. Wirkliche Reue ist etwas Innerliches und in ihrem entscheidenden Kern rechtlich nicht greifbar.

Das schließt nicht aus, dass die Häftlinge selbst ihr Bedauern erklären oder um Entschuldigung bitten können - dann aber in erster Linie gegenüber den Angehörigen der Opfer und nicht gegenüber der ganzen Gesellschaft. Aber auch in diesem Fall blieben derartige Erklärungen beziehungsweise Bitten Formulierungen, das heißt: sprachliche Ausdrücke und Zeichen von etwas Innerlichem; und sie blieben es in so hohem Maße, dass sie gegen die Möglichkeit, bloß in strategischer Absicht vorgespielt zu werden, also gar nicht wirklich dem zu entsprechen, was die Worte beinhalten, nicht von außen gesichert werden könnten. Derartiges Vorspielen von Reue aber wäre zweifellos noch um vieles unerträglicher als deren Verweigerung.

Wie weit entsprechende Erklärungen und Bitten als Anzeichen für tatsächliche Reue gewertet werden können, könnte - mit bleibendem grundsätzlichem Vorbehalt - noch am ehesten von denen beurteilt werden, die auf der Basis einer intensiven und intimen Kenntnis dieser Personen die Kongruenz beziehungsweise Diskrepanz von ihrem Denken, Sagen und Handeln ermessen können. Die Öffentlichkeit jedoch vermag das nicht, und es steht ihr auch nicht zu, selbst wenn die Vorführung persönlicher Zerknirschtheit ohne Zweifel für viele Zeitgenossen eine Genugtuung wäre. Einen Anspruch auf eine Geste der Entschuldigung oder des Bedauerns über das ihnen zugefügte Leid haben in Wirklichkeit nur die Angehörigen der Opfer. Aber ihr Anspruch ist moralischer Natur und lässt sich rechtlich nicht erzwingen.

So wie in der aktuellen Debatte vielfach Reue als Vorbedingung einer Freilassung eingefordert wird, legt sich der Gedanke nahe, eine Freilassung bedeute Vergebung. Doch wer sollte es denn sein, der die Vollmacht hätte, hier zu vergeben? Die Gesellschaft kann es nicht sein, denn sie war zwar betroffen und auch getroffen vom RAF-Terrorismus; aber die Gesellschaft kann nicht vergeben, dass einzelnen Personen Lebensjahre, Glück, berufliche Selbstverwirklichung und gemeinschaftliches Leben auf brutalste Weise entrissen wurde. Das könnten nur die Opfer selbst, und die sind tot. Die Eigenart von schwerer Schuld, dass ihr Subjekt aus eigenem Wollen und aus eigener Kraft den Zustand quo ante nicht wiederherstellen kann, tritt hier besonders deutlich in Erscheinung. Nicht einmal die Angehörigen der Opfer könnten an deren Stelle den Tätern Vergebung für die Verbrechen gewähren.


Wer hätte die Vollmacht, zu vergeben?

Und das darf auch niemand von ihnen erwarten. Denn ihre Trauer, ihre Wut auf die Täter, ihr Schmerz über das, was sie noch nicht bis ins letzte Detail wissen - dies alles hat seine Berechtigung und seine Würde. Und sie verdienen gerade darin die besondere Aufmerksamkeit und Achtung durch die Gesellschaft, nicht zuletzt in der Weise des persönlichen Beistands und der Erinnerung. Die Öffentlichkeit sollte sich aber hüten, sie in die Lage zu drängen, dass von ihrem Einverständnis oder von ihrer persönlichen Bereitschaft, eine Entschuldigung annehmen zu können, die anstehende Prüfung einer Freilassung abhängig gemacht wird. Auch sie könnten ja nicht das Unrecht und das Leid vergeben, das den Opfern zugefügt wurde, sondern allenfalls die eigenen Schmerzen und das selbst erlittene Leid, das ihnen durch das, was den Opfern zugefügt wurde, widerfahren ist. Vergebung ist etwas zu Ernstes, um sie als öffentliches Ritual oder nach Art eines Handelsgeschäftes zu inszenieren. Wenn es bei den Freilassungen aber nicht oder nur am Rand um Vergebung geht, dann drängt sich die Frage nach der Bedeutung und dem Maß der Sühne in den Vordergrund des Interesses.

24 Jahre haben Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar jeweils in der Haft verbracht. Das ist zwar nicht lebenslänglich im wörtlichen Sinn, aber eine sehr lange Zeit. Sieht man einmal von den Tätern ab, machen 24 Jahre so gut wie eine Generation aus. Was sich in diesem Zeitraum in unserer Lebenswelt verändert hat, ist, auch wenn man sich per Medien auf dem Laufenden zu halten versucht hat, unbeschreiblich viel. Den Inhaftierten sind während dieses Zeitraums auch wichtige Anlässe für ihre Revolte, etwa die Verwicklung der staatstragenden Generation in die NS-Herrschaft und das Engagement der USA in Vietnam, abhanden gekommen.

Bezieht man die 24 Jahre aber auf die Lebensgeschichte der Täter, dann handelt es sich weitgehend um jenen Abschnitt im Leben, in dem Gleichaltrige gut ausgebildet eine berufliche Existenz aufgebaut, Karriere gemacht, eine Familie gegründet, Kinder groß gezogen und sie an die Schwelle begleitet haben, wo man einst selber begonnen hat. 24 Jahre, das ist so lange, dass wohl nur in den seltensten Fällen freundschaftliche und kollegiale Beziehungen erhalten geblieben, geschweige denn neue dazu gekommen sind. Dieses Vierteljahrhundert Haft wird den Tätern auf jeden Fall fehlen, auch wenn sie jetzt freigelassen werden. Es ist ihnen unwiderruflich entgangen, was den anderen und früher auch einmal ihnen selbst an Möglichkeiten offen stand. Und sie werden es nun auch in der Freiheit schwer haben, weil sie kaum irgendwo dort anknüpfen können, wo sie damals "ausgestiegen" waren. Am ehesten dürfen sie noch darauf hoffen, dass die eine oder andere familiäre Bindung die Haftzeit überdauert hat.


Der Rechtsstaat sucht keine Rache

Die Alternative zur Freilassung aber, nämlich die Fortsetzung der Inhaftierung, im Extremfall bis zum Tod, könnte die psychische Vernichtung der Häftlinge bedeuten. Dies tatenlos in Kauf zu nehmen, ohne dass eine Notwendigkeit im Hinblick auf die Sicherheit der Allgemeinheit bestünde, würde dem Selbstverständnis des Rechtsstaates widersprechen und könnte im Gegenteil gerade das Zerrbild vom menschenverachtenden und seine Kritiker mit unnachsichtiger Rache verfolgenden Staat bestätigen, das sie ihren Aktionen zugrunde legten und das sie mit aller Konsequenz bekämpfen wollten.

Nicht zuletzt aus diesem Grunde, bei der Bestrafung eine psychische Vernichtung keinesfalls wissentlich in Kauf zu nehmen, bestimmt das Strafgesetz des Rechtsstaats selbst, dass nach Verbüßung einer langjährigen Strafe eine Überprüfung stattfinden kann und ab einem bestimmten Zeitpunkt sogar muss. Diese Regelung ist sicherlich eine Großzügigkeit gegenüber dem rechtskräftig verurteilten Täter, die ihm nach der langen Zeit einer Haft die Chance eines Neuanfangs in Freiheit geben möchte. Aber sie ist auch ein Ausdruck des Wissens, dass Bestrafung, Sühne und Haft nur eingeschränkt taugliche Mittel für einen adäquaten Umgang mit Schuld und mit dem straffällig Gewordenen sind. Sie vermögen die Gerechtigkeit nie vollständig, sondern lediglich partiell herzustellen.

Solche Lückenhaftigkeit gilt bereits für das Urteil über die Straftat, für deren Feststellung und Gewichtung ja nur von Relevanz sein darf, was sich zweifelsfrei beweisen lässt. Und solche Lückenhaftigkeit trifft erst recht für das Opfer zu, dem Leid angetan wurde, das sich durch noch so lange und schwere Sühne weder rückgängig machen noch völlig ausgleichen lässt. Und solche Lückenhaftigkeit gilt schließlich auch noch einmal in Bezug auf den Täter, der, aus welchen Gründen auch immer, in einen bestimmten Kreislauf hineingeraten ist, aus dem er keine Möglichkeit des Ausstiegs mehr gesehen hat oder sehen wollte, der aber vielleicht im Lauf der Jahre und unter dem Eindruck der langen Haft doch zur Einsicht gekommen ist, dass er besser anders gehandelt hätte.


Die bleibende Zumutung des christlichen Versöhnungsauftrags

Dem Theologen wird in der aktuellen Diskussion häufig die Frage gestellt, wie es denn mit Jesu Aufforderung zur unbegrenzten Vergebungsbereitschaft in einer Welt stehe, in der Gewalt, Terrorakte, Bürgerkrieg und das Bedürfnis, in der Vergangenheit einmal erlittenes Unrecht zu vergelten, an der Tagesordnung sind. Natürlich wäre es naiv zu meinen, die Aufforderung "nicht 7 Mal, sondern 77 Mal zu vergeben", ganz unvermittelt zur Maßgabe eines modernen Staats zu machen. Wahrscheinlich war diese Aufforderung aber auch gar nicht so gemeint. In ihrer hyperbolischen Formulierung skizziert sie die Vision einer Welt, in der die unbarmherzigen Gegensätze von Gewalt und Opfer wie die anderen Gegensätze, unter denen wir ständig leiden, etwa die zwischen reich und arm, stark und ohnmächtig, vital und durch Krankheit oder Behinderung versehrt, mündig und abhängig, korrigiert sein werden. Und sie ermutigt ihre Hörer innerhalb, aber genauso außerhalb der Kirchen dazu, einen ersten Schritt zu tun. Im privaten Bereich zunächst, aber auch im gesellschaftlichen Umgang mit dem Straftäter - wenn immer dies möglich ist. Und diese Möglichkeit besteht tatsächlich, wenn von dem Straftäter keine Gefahr mehr ausgeht und wenn seine Freilassung nicht mehr als Einladung verstanden werden kann, selbst terroristisch zu agieren. Die institutionell vorgesehenen Instrumente der vorzeitigen Haftentlassung auf Bewährung und das Gnadenrecht sind, in säkularer Sprache gesprochen, auch ein Zeichen der Versöhnungsbereitschaft der Gesellschaft und ihres Willens zur Wiedereingliederung der straffällig gewordenen Mitglieder.

Im Übrigen gehört zur inneren Logik des Versöhnungsauftrags entsprechend der Verkündigung Jesu auch der Hinweis auf die je eigene Versöhnungsbedürftigkeit. Säkular gesprochen und auf die aktuelle Debatte bezogen, hätten demnach auch größere Kreise der Gesellschaft - beispielsweise ehemalige Sympathisanten, Unterstützer, Verharmloser, aber vielleicht auch die Selbstzufriedenen, die damals vermieden haben, Stellung zu beziehen - begründeten Anlass, sich zu erinnern und Gewissenserforschung zu betreiben, und zwar nicht nur in beschönigender Nostalgie, sondern in einer Haltung der Wahrhaftigkeit, die auch dann durchgehalten wird, wenn sie schmerzt. Der Appell zum Mut, endlich einen Schluss zu machen mit dem Kapitel Terrorismus, wie dies von mancher Seite jetzt gefordert wird, greift zu kurz.


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Konrad Hilpert (geb. 1947) ist seit 2001 Lehrstuhlinhaber für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und seit 2005 deren Dekan. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Ethik der Menschenrechte, die Bioethik und das Verhältnis von Moral und Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 3, März 2007, S.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2007