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STANDPUNKT/296: Evangelien als Erzähltexte (Bibel und Kirche)


Bibel und Kirche 3/2007 - Organ der Katholischen Bibelwerke
in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Lebendige Erinnerung
Evangelien als Erzähltexte

Von Andreas Leinhäupl-Wilke


Die Evangelien erzählen vom Leben des Jesus von Nazaret, von seinem Wirken und Reden, seinem Tod und seiner Auferstehung. Die Erkenntnis, dass die Gattung "Erzählung" im Blick auf das Lesen und Verstehen dieser Texte in besonderer Weise relevant ist, hat seit den 70er-Jahren in der Theologie mehr und mehr Platz gefunden - und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen betont die systematische Theologie mit Nachdruck, dass sich das Christentum in der Traditionslinie zum Judentum als Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft versteht. Zum anderen etablieren sich im exegetisch-methodischen Bereich als Ergänzung zur historisch-kritischen Methode text-linguistische Analyseverfahren, in deren Mittelpunkt eben die Beobachtung und Auswertung der Erzählstrukturen innerhalb der Evangelientexte steht.


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Erzählen ist eine der elementarsten menschlichen Kommunikationsformen, es gehört seit jeher zu den Grundbedürfnissen menschlichen Daseins. Erzählungen regen an, geben (Lebens-)Sinn, lichten die Unordnung, bieten oft gerade aufgrund ihrer Alltagstauglichkeit Alternativen zum Alltäglichen - als Definition formuliert: Erzählung "hält Erfahrung als Prozess offen, erinnert unterhaltend, mobilisiert Zeit gegen starres Sein, denn ihr Grundzug ist Umgang mit Geschehen in der Sukzession mit Verdichtungen, Umformungen, Dehnungen, Überlagerungen usw."(1)

In diesem Sinne präsentiert sich die Gattung Erzählung auch als fundamentaler Bestandteil religiöser Sprache. Ein Großteil der biblischen Botschaft wird über die Kategorie Erzählung transportiert. Die alttestamentlichen Bücher kleiden die Rede von Gott in Geschichten und Erfahrungsberichte des Volkes Israel. Im Neuen Testament sind vor allem die vier Evangelien und die Apostelgeschichte durch und durch geprägt von der Grundform der Erzählung. Dabei gestaltet sich nicht nur der Gesamtaufriss vieler biblischer Bücher als Erzählung, oft treten auch Figuren in den Büchern als Erzähler auf und vermitteln ihre Botschaft - wie beispielsweise Jesus in Form von Gleichnissen. Schließlich entstehen um diese Geschichten herum Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaften, für die die Erzählungen selbst und vor allem der Vorgang des Erzählens als Grundbausteine der eigenen Identitätssicherung fungieren.(2)

Narrative Theologie

Ein solches Verständnis der biblischen Geschichten und nicht zuletzt der neutestamentlichen Evangelien mündet in die sogenannte "Narrative Theologie", eine systematisch-theologische Denkrichtung, die grundlegend von Johann Baptist Metz und Harald Weinrich mit ihren Veröffentlichungen angestoßen wurde.(3) Im Hintergrund steht folgende Erkenntnis: Die Evangelien haben Erfahrung vermittelnde Funktion, sie agieren kreativ, nehmen andere Wirklichkeitsentwürfe auf, arbeiten sich an Spannungen und Irrtümern der Zeit und Umwelt ab.

Erzählungen wollen betroffen machen. Allerdings dienen sie dabei nicht als Abbild der Realität (der geschehenen Geschichte), sondern entwickeln gerade durch ihre Fiktionalität ihre eigentliche Kraft. In ihnen entsteht eine Welt mit eigenen Spielregeln - und nur wer sich auf diese Spielregeln einlässt, kommt in den vollen Genuss dessen, was sich hinter dem Erzählten verbirgt. Für eine solche Theologie des Erzählens weisen die Evangelien ein alternatives Wirklichkeitsverständnis auf, das sich gegen die normativen Denkstrukturen zur Wehr setzt. Sie werden verstanden als kommunikative Handlungen, die die Alltagswelt von Autor und Leser durchbrechen. Als Beispiel lassen sich etwa die vielfältigen Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern und Schriftgelehrten in den Evangelien anführen: Mittels dieser erzählten Geschichten und der in Szene gesetzten Gespräche zwischen Jesus und seinen Gegnern werden verschiedene gesellschaftliche, soziale und religiöse Konzepte kontrastiert und es wird auf diese Weise ein Angebot für Leserinnen und Leser bereitgestellt, das nicht immer der Konvention entspricht. Johann Baptist Metz hat die Evangelien als "gefährliche Geschichten" bezeichnet, mit deren Hilfe eine "gefährliche Erinnerung" transportiert und langfristig für die christliche Gruppenidentität wach gehalten wird.(4)

"Erzähltextanalyse"
Der entsprechende methodische Zugang

Eng verbunden mit der Entwicklung der "Narrativen Theologie" steht das Bemühen, methodische Analyseverfahren zu erarbeiten, die zunächst den Text selbst als Beziehungsgeflecht ernst nehmen und ihn dann in den Zusammenhang seiner geschichtlichen Abhängigkeiten und Wirkungen stellen.(5) Dabei standen im Laufe der Zeit zahlreiche linguistische und kommunikationstheoretische Ansätze und Terminologien zur Verfügung, die auf vielfältige Weise einen Zugang zur Theologie der neutestamentlichen Texte und besonders zum praktisch-theologischen Umgang mit diesen Entwürfen anbieten konnten.

Im Zusammenhang einer exegetischen Systematik geht es der Erzähltextanalyse - also der sogenannten "Narrativen Analyse" - darum, die Erzählstrategien der Evangelien aufzudecken und die eingesetzten Akteure, ihre Handlungen und ihre Beziehungen untereinander zu untersuchen. Wollen wir die Evangelien als Erzählungen lesen und verstehen, ist es notwendig, ihre inneren Strukturen kennen zu lernen, die Wort- und Satzverbindungen zu erfassen, die Motive und Bedeutungsgehalte zu erschließen und letztendlich zu erfragen, warum man sich wohl gerade diese Geschichten erzählt, wie und warum sie in den Gesamtzusammenhang eines Evangelienentwurfes eingebaut sind und welche Bedeutung sie für die entsprechende Erzählgemeinschaft haben.

Das Einbeziehen solcher methodischen Konzepte in die Exegese und damit in das theologische Denken bietet neue Möglichkeiten auf verschiedenen Ebenen: Die synchronen, linguistisch ausgerichteten Analyseverfahren halten uns heutige Bibelleserinnen und -leser dazu an, den Text zunächst als Text wahrzunehmen und sehr genau auf seine Feinheiten zu achten. Gerade der Zugang über die Textstruktur bietet einen möglichst "objektiven" Zugang zu den Evangelien, über den man dann in die Diskussion einsteigen kann. Darüber hinaus findet man als Leserin und Leser gerade durch die Wahrnehmung der in den Texten eingesetzten Figuren die Möglichkeit, selbst in die Welt des Textes und seines Sinnangebotes einzusteigen, was schließlich den Bezug zur gegenwärtigen Lebens- und Erfahrungswelt eröffnet.

Alles nur erfunden?

Die Evangelien als Wirklichkeitserfahrung der Gemeinde

Nun werden Skeptiker vermutlich fragen: Ist das alles nur erfunden? Geht es nur um Texte und ihre Strukturen? Wo bleibt die Bedeutung für die Theologie und den Glauben? Wir kommen also zu den Kategorien "Dichtung und Wahrheit", "Erzählung und historische Faktizität" - und müssen uns vergewissern, ob es sich dabei grundsätzlich um sich ausschließende Gegensatzpaare handelt.(6) Die Antwort ist eindeutig: nein! Erzählen heißt, eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Die neutestamentlichen Evangelien erzählen die reale Geschichte des Jesus von Nazaret auf vielfältige und unterschiedlichste Weise und spiegeln damit die jeweils individuellen Wahrnehmungen und Wirklichkeitserfahrungen der einzelnen Gemeinden wider. Ohne auf die Rückbindung an die historischen Fakten des Lebens Jesu verzichten zu müssen und zu wollen, ist die identitätsstiftende Kraft der Evangelien für die neutestamentlichen Erzählgemeinschaften von großer Bedeutung. Sie wollen mit ihrer Darstellung nicht einfach den Abstand zum Jesus-Ereignis überwinden, sondern sie wollen dieses Ereignis theologisch verarbeiten und durchdringen - und zwar jeweils in Korrelation mit den zeit- und religionsgeschichtlichen Bedingungen ihrer Gemeinden. Schon auf der Ebene der innertextlichen Wirklichkeit durchbrechen die Evangelien durch ihre Erzählstrukturen die Norm. Die eingesetzten Figuren sind eigentlich für die antiken Vorgaben des Erzählens ungewöhnlich: So gibt sich der Held oft unkonventionell, Nebenfiguren bekommen teilweise großen Einfluss und erhalten häufig zumindest Anteile der Heldenrolle, soziale Schranken werden überwunden, für antike Augen und Ohren wird Undenkbares denkbar und möglich.

Die Evangelien vergegenwärtigen Vergangenes und formatieren es gleichzeitig neu. Das Erzählen dieser Geschichten ist nach all dem Gesagten also keineswegs nur ein harmloser und unterhaltsamer Vorgang. Ganz im Gegenteil: Die Erzählung biblischer Geschichten konstituiert aus sich heraus Sinn - gegen Gleichgültigkeit, Chaos und Eindimensionalität. Durch das Erzählen der Jesus-Geschichten entsteht ein kollektives Gedächtnis - eine grenzen- und generationenüberschreitende Erzählgemeinschaft. Wenn wir Heutigen solche Geschichten erzählen, treten wir in eben diese ununterbrochene Erzähltradition ein. Die Evangelien stehen in ihrer Form als Erzählungen paradigmatisch für eine alternative theologische Denkform und sind damit nicht zuletzt eine bleibende Herausforderung für den Glauben.


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Ein antiker Gewährsmann - Aristoteles und seine "Poetik"

In der Antike ist bekanntlich so gut wie alles genau geregelt, so auch der Bereich der Produktion von Literatur: man weiß sich den alten Mythen verpflichtet und entwickelt feste Regularien für literarische Gattungen. Aristoteles hat in seiner "Poetik" verschiedene Prinzipien der erzählenden Gattungen gesammelt und damit eine Anleitung für gelingende Erzählkunst vorgelegt.

Im Mittelpunkt steht der von Platon übernommene Mimesis-Begriff, der Vorgang der Nachahmung, den Aristoteles zu einer eigenen Hermeneutik weiterentwickelt:(7) Es geht nicht um die einfache Abbildung eines Urbildes, sondern darum, dass bei der Produktion literarischer Werke die Idee selbst verwirklicht wird - und sich die Nachahmung somit auf alle Erscheinungen der (Lebens-)Wirklichkeit bezieht.

Handwerklich bedeutet das nun für die Literaturschaffenden, das vielgestaltige Material der alltäglichen Lebenszusammenhänge im Kern der poetischen Handlung zusammenzustellen. Der übliche Rückgriff auf die klassisch-mythologischen Stoffe erfordert hierbei ein kreatives Moment: es gilt, diese Inhalte wirkungsvoll zu verarbeiten, allerdings immer unter dem Gesichtspunkt von Logik und Geschlossenheit. Um diesen innersten Kern entsteht eine Ordnung von Eingangs-, Mittel- und Schlussstück, die durch verschiedene inhaltliche Verknüpfungen, Wendungen, Lösungen und bewusst eingesetzte Brüche zu einem in sich kohärenten Handlungsgerüst ausgearbeitet werden, in dem die entsprechenden Erzählfiguren ihren Platz und ihre Funktion finden.

In einem solchen Gesamtentwurf literarischer Konstruktion entsteht nach der aristotelischen Nachahmungstheorie eine neue Wirklichkeit, die in erster Linie durch die Rezeption der Zuhörer mit Leben und mit Sinn gefüllt wird.


Anmerkungen:

(1) Henning Schröer, Art. Erzählung, in: TRE X (1982) 227-232, 228.

(2) Vgl. Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, Band I: Israels Hoffnung und Gottes Geheimnisse, Stuttgart u. a. 1997, 9f.

(3) Vgl. dazu die nach wie vor grundlegenden Aufsätze von Harald Weinrich, Narrative Theologie, in: Conc 9 (1973) 329-333, und Johann Baptist Metz, Kleine Apologie des Erzählens, in: Conc 9 (1973) 334-341, die in vielen weiteren Entwürfen zur narrativen Theologie verarbeitet und weiterentwickelt wurden.

(4) Vgl. Metz, Apologie 80.

(5) Vgl. dazu W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg 1987, v. a. 74-158, sowie in konkreter Anwendung auf das Lukasevangelium K. Löning, Geschichtswerk 11-18.

(6) Vgl. dazu den bereichernden Beitrag von Barbara Schmitz, Die Bedeutung von Fiktionalität und Narratologie für die Schriftauslegung, in: Heinz-Günter Schöttler (Hg.), "Der Leser begreife". Vom Umgang mit der Fiktionalität biblischer Texte, Münster 2006, 137-149.

(7) Vgl. dazu Stefan Lücking, Mimesis der Verachteten. Eine Studie zur Erzählweise von Mk 14, 1-11 (SBS 152), Stuttgart 1992, 27-37.


Angaben zum Autor:

Dr. Andreas Leinhäupl arbeitet am Seminar für Exegese des Neuen Testaments der Katholisch-theologischen Fakultät in Münster und habilitiert sich dort zum Thema "Herrenmahl und Gruppenidentität. Seine Adresse lautet:
Kleiststraße 1, 59227 Ahlen; E-Mail: leinhaeupl-wilke@arcor.de


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Quelle:
Bibel und Kirche - Organ der Katholischen Bibelwerke in Deutschland,
Österreich und der Schweiz, 62. Jahrgang, 3. Quartal 2007, 3/2007,
Seite
Herausgeber: Dr. Franz-Josef Ortkemper, Dipl.-Theol. Dieter Bauer,
Österr. Kath. Bibelwerk Klosterneuburg
Redaktion: Dr. Bettina Eltrop, Dipl.-Theol. Barbara Leicht
www.bibelundkirche.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2007