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STANDPUNKT/307: Naturrechtliche Ansätze in der Ethik (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz 5/2008
Monatshefte für Gesellschaft und Religion

Stärken und innere Grenzen
Wie leistungsfähig sind naturrechtliche Ansätze in der Ethik?

Von Eberhard Schockenhoff


Sind die im Naturrecht gründenden moralischen Normen und Pflichten für eine menschliche Gesellschaft unverzichtbar, wie Benedikt XVI. jüngst einschärfte? In der Sache begründet ist der empathische Rekurs auf die Richtschnur des Natürlichen nur, wenn eine schlüssige Antwort auf die argumentativen Schwachstellen der klassischen Naturrechtslehren gelingt.


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Zu den scharfsinnigen theologischen Kritikern des Naturrechts zählt seit Langem der gegenwärtige Papst Benedikt XVI. Als junger Konzilstheologe beklagte er dessen Ideologieanfälligkeit und seine ungeklärte Abhängigkeit vom positiven Recht der Kirche. Noch als Präfekt der Glaubenskongregation sprach er im Dialog mit Jürgen Habermas von dem Dilemma des Naturrechts, das seine Überzeugungskraft in einer säkularen Gesellschaft schwäche: Während es aus kirchlicher Sicht dem Brückenschlag zum allgemein Menschlichen und zur universalen Vernunft hin dienen soll, wird es im Horizont des säkularen Bewusstseins nur als eine etwas antiquierte katholische Besonderheit wahrgenommen.

In seiner jüngsten Äußerung zum Thema, einer Ansprache anlässlich der Audienz für die Teilnehmer eines internationalen Kongresses der Lateran-Universität im Februar 2007, hob der Papst dagegen in beschwörenden Worten die unverzichtbare Bedeutung im Naturrecht gründender moralischer Normen und Pflichten hervor. Kein von Menschen gemachtes Gesetz könne die vom Schöpfer dem Menschsein eingezeichnete Richtschnur verkehren, ohne dass die menschliche Gesellschaft selbst in ihren Grundlagen auf dramatische Weise verletzt werde.

Wie stimmt diese Botschaft des Papstes, mit der von ihm selbst aufgezeigten Krise des Naturrechts überein? Leistet sich der Papst als Theologe den intellektuellen Freiraum zum kritischen Problemdenken und Infragestellen, der ihm in seiner lehramtlichen Funktion versagt ist? Der Hinweis auf die unterschiedlichen Aufgaben von kirchlichem Lehramt und wissenschaftlicher Theologie genügt zur Erklärung des auffälligen Unterschieds zwischen beiden Stellungnahmen sicherlich nicht. Nur wenn es eine schlüssige Antwort auf die argumentativen Schwachstellen der klassischen Naturrechtslehren gibt, ist der emphatische Rekurs auf die Richtschnur des Natürlichen in der Sache begründet.


Der Begriff Natur ist von sich aus keineswegs eindeutig

Zu der verbreiteten Reserve gegenüber einem Rekurs auf die "Natur" des Menschen trägt schon die unklare Verwendung bei, die dieser Schlüsselbegriff in verschiedenen Zusammenhängen findet. In der Tradition der katholischen Moraltheologie bezeichnet der Begriff einer "Naturrechtsethik" eine kognitive Moraltheorie, die an der Wahrheitsfähigkeit und universalen Geltung sittlicher Urteile festhält. Ihre normativen Aussagen gründen sich weder auf die emotionalen Stellungnahmen (Emotivismus) oder ein intentionales Wertfühlen (Wertphilosophie) der Menschen, noch auf rein prozedurale Verfahren einer intersubjektiven Vernunft (Diskursethik), sondern auf ein objektives Fundament, das in der Natur des Menschen und in dessen wesensgemäßen Lebenszielen vorgegeben ist.

Wie der Name sagt, liegt einer Argumentation, die nach der Relevanz des Natürlichen für die individuelle Lebensführung des Menschen und die normative Ordnung seiner gemeinschaftlichen Existenz fragt, die Idee zugrunde, die Prinzipien des ethischen Lebens und der Rechtsordnung auf die spezifische Eigenart einer allen Menschen gemeinsamen Natur zu beziehen. Dieser Ansatz setzt jedoch voraus, dass die gemeinsame Natur des Menschen in ihrem Umfang, ihrem Aussagegehalt und ihrer normativen Relevanz klar erkennbar ist.

Diese Annahme benennt ein grundlegendes Problem naturrechtlicher Ethikentwürfe, denn der Begriff "Natur" ist von sich aus keineswegs eindeutig. Jeder weiß zwar, was mit Naturheilkunde, naturnahen Anbaumethoden in der Landwirtschaft oder dem natürlichen Bewegungsraum von Tieren gemeint ist. Daraus geht aber noch nicht hervor, warum das Natürliche auch das moralisch Bessere sein soll.

Auf natürlichem Wege, das heißt aus der Bauchspeicheldrüse der Schweine gewonnenes Insulin weist gegenüber künstlichem, durch die Anwendung moderner Gentechnik erzeugtem Insulin keinerlei Vorteile, wohl aber erhebliche praktische Nachteile für Diabetespatienten auf. Eine eindeutige Grenzziehung zwischen dem Naturbelassenen und dem von Menschen Gemachten ist auch im Blick auf die Ursachen des Klimawandels nicht möglich, da der Anteil der natürlichen Faktoren gegenüber den anthropogenen nicht mit Sicherheit beziffert werden kann. Geradezu gegensätzliche Bedeutungsgehalte verbinden sich mit dem Begriff des Natürlichen, wenn er zur Kennzeichnung menschlicher Lebensweisen und Handlungen herangezogen werden soll.


Vielfältige Vorstellungen vom "naturgemäßen Leben"

Aus dem etymologischen Hinweis auf den Ursprung, der in der Grundbedeutung des lateinischen Wortes "nasci" (geboren werden) anklingt, geht noch nichts über die bleibende, dem Menschen wesensgemäße Ordnung seines Daseins hervor. Selbst dort, wo man den Naturbegriff von dem paradiesischen Mythos des Ursprünglichen und Unverbrauchten her versteht, kann die Formel des "naturgemäßen Lebens" völlig entgegengesetzten Absichten dienen. Sie reichen von einer pessimistischen, rückwärtsgewandten Gegenwartsanalyse bis zu den nach vorne weisenden Gesellschaftsutopien, die das Spektrum der politisch-sozialen Ideengeschichte der Neuzeit geprägt haben.

Als Beispiel für die erste Möglichkeit mag der antike Philosoph Seneca stehen, der alle zivilisatorischen Errungenschaften seiner Zeit, angefangen von Häuserbau, Landwirtschaft und Viehzucht über Handwerk und Kunst bis zu Grundbesitz und Privateigentum zu den "unnatürlichen" Lebensweisen zählte, in die das römische Volk durch die Abkehr von den glücklichen Zuständen der Vorzeit gefallen ist. Die utopische Variante findet sich am Ende des Ancien Régime in Rousseaus "Du contrat social" (1762).

Kein Geringerer als Ernst Bloch hat die lange Traditionslinie des "revolutionären" Naturrechts nachgezeichnet, ohne die das Verfassungsdenken der europäischen Nationen, aber auch die politischen Umbrüche ihrer Geschichte nicht zu verstehen sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte der Philosoph und Politikwissenschaftler Leo Strauss ein Standardwerk zur politischen Ideengeschichte der Moderne, in dem er den Zusammenhang zwischen Naturrecht, Menschenwürde und politischer Freiheit, seit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung aufzeigte.

Ein ähnlicher Widerspruch zeigt sich innerhalb der antiken Ethik, wenn die Stoiker im Namen der Natur eben das zurückweisen, was die epikuräischen Philosophen als naturgemäße, dem körperlichen und seelischen Wohlbefinden förderliche Lebensweise empfehlen. Während diese den Menschen in seiner empirischen Natur als Bedürfniswesen in den Blick nehmen, will die stoische Ethik den Menschen dazu anleiten, die Herrschaft seiner Vernunftnatur über die Welt seiner Triebe und Leidenschaften aufzurichten und darin seine eigentliche Bestimmung als Mensch zu erkennen. Der Gegensatz zwischen der empirischen Bedürfnisnatur und der idealen Vernunftnatur des Menschen entzweit seitdem die Antworten auf die Frage, was für den Menschen ein naturgemäßes Leben bedeutet.


Der Vorwurf des logischen Zirkels

Die aristotelisch-thomanische Tradition sieht den Menschen ebenso wie die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts als ein ganzheitliches, leib-seelisches Wesen, das zugleich körpergebunden und vernunftbegabt ist. Die menschliche Existenzweise erscheint so auch in biologischer Hinsicht als eine psycho-physische Lebenseinheit unter dem Primat des Geistes und der Vernunft. Jedes Lebewesen hat nach dem Grundsatz der aristotelischen Naturbetrachtung eine ihm wesensgemäße Form, die in ihrem materiellen Substrat der Möglichkeit nach angelegt ist und durch einen zielgerichteten Werdeprozess aktualisiert wird. Für die Tiere und Pflanzen fällt dieser Prozess mit ihrem organischen Wachstum in eins, durch das sie ihre eigene "Entelechie", also die Vollendung ihrer zweckmäßigen Gestalt, erreichen.

Beim Menschen schließt die artgemäße Bestimmung seiner Natur die Entfaltung seiner Vernunft ein, die zur wesensgemäßen Bestimmung des Menschseins gehört. Der "Zweck" eines Seienden bezeichnet nämlich immer die Entwicklung seiner Natur in ihrer höchsten Möglichkeit, wobei das Naturgemäße von Aristoteles nicht mehr als das Ursprüngliche, sondern als das Vollendete im Sinne des bestmöglichen Zustandes gleich eines Dinges oder Lebewesens gesehen wird. Beim Menschen ist daher das Natürliche zugleich das Vernünftige und umgekehrt. Naturgemäß sind menschliche Lebensformen und Handlungsweisen, wenn sie dem Menschen dazu verhelfen, seine naturhaften Strebensziele oder existentiellen Lebenszwecke (Nahrung, Fortpflanzung, Erkenntnis der Wahrheit, Leben in kommunikativen Bezügen) unter der Anleitung der Vernunft zu verwirklichen.

Die enge Verbindung von "Natur" und "Zweck", die später der christlichen Theologie auf dem Hintergrund des Schöpfungsglaubens die Ausarbeitung einer materialen Naturrechtslehre für alle Lebensbereiche erlaubte, enthält allerdings eine gefährliche Doppelsinnigkeit, die sich in der Folgezeit zur schwersten Hypothek des Naturrechtsgedankens entwickeln sollte. Zum einen begünstigt die teleologische Naturdeutung aufgrund ihres ahistorischen Charakters ein abstraktes Wesensverständnis, das mehr die ideale Natur des Menschen als dessen konkrete geschichtliche Wirklichkeit im Blick hat.

Stärker als diese Spannung zwischen einem "ideellen" und einem "existentiellen" Naturrechtsverständnis, die auch kirchliche Lehrdokumente bis hin zu den jüngsten Sozialenzykliken prägt, wiegt jedoch eine zweite Ambivalenz der teleologischen Naturrechtskonzeptionen. Die Identifikation von Natur und Zweck führt die Gefahr eines Zirkelschlusses mit sich, der naturrechtliche Einsichten zu bloßen Leerformeln macht, die ihren materialen Gehalt unterschiedlichen wechselnden Menschenbildern und Gesellschaftslehren verdanken.

Der Rechtsphilosoph Hans Welzel hat diese zirkuläre Begründungsfigur als das hermeneutische Grundproblem des Naturrechts beschrieben: "Die Proteusgestalt der menschlichen Natur nimmt unter der Hand eines jeden naturrechtlichen Denkers die Gestalt an, die er sich wünscht. All das, was er für richtig und wünschenswert hält, hat er zuvor (stillschweigend) in seinen 'Naturbegriff' vom Menschen hineingelegt, ehe er es zur Begründung seiner Überzeugung vom naturgemäß Richtigen wieder herausholt. Die 'Natur' des Menschen ist ein so offener und gestaltbarer Begriff, dass schlechterdings alles in ihn hineingelegt und als Begründung wieder herausgeholt werden kann."

Die Geschichte der Naturrechtslehren zeigt eine Fülle von Beispielen, die den Verdacht bestätigen, ihre normativen Werteinsichten beruhten auf Prämissen, die zuvor in die Struktur der Welt oder die Natur des Menschen hineingelesen wurden. Plato erkennt die beste Staatsverfassung durch eine Betrachtung der Seelenteile und ihres "gerechten" Verhältnisses untereinander, das er zuvor in eben der hierarchischen Weise bestimmt, die seinen Vorstellungen von einem geordneten Staatswesen entspricht.

Wie in der Seele die Vernunft mit Hilfe des Willens über die Begierden herrscht und ein geordnetes Leben der Gerechtigkeit hervorbringt, während umgekehrt die Rebellion der Begierden nur zu einer "zwecklosen Vielgeschäftigkeit" führt und schließlich in der Anarchie endet, so sollen auch die philosophisch gebildeten Staatslenker mit Hilfe des Soldatenstandes die niederen Bevölkerungsschichten beherrschen und das ganze Staatswesen in einem geordneten Zustand erhalten. In ähnlicher Weise ließe sich das Verhältnis der Seelenteile untereinander nach dem Modell einer demokratischen Bürgerversammlung interpretieren, mit dem Ergebnis, dass die Demokratie als die naturgemäße, im Wesen des Menschen selbst begründete Staatsverfassung gelten müsste.

Auch wenn wir die Demokratie mit guten Gründen für die Staatsform halten, die sich nach Ausweis unserer geschichtlichen Erfahrung am besten bewährt hat, so wäre der Zirkelschluss einer solchen naturrechtlichen Argumentation doch offenkundig. Nach demselben Grundmuster versuchte auch eine totalitäre Ideologie wie der Sozialdarwinismus ihr antidemokratisches Ressentiment zu rechtfertigen, indem sie die Vorstellung vom ewigen Kampf ums Dasein und die Idee einer natürlichen Auslese der Stärksten zuerst als ein in der gesamten belebten Natur anzutreffendes Naturgesetz ausgab, um dieses anschließend in die menschliche Gesellschaft zurückzuprojizieren.


Eine Hohlform, die sich mit wechselnden Inhalten füllen kann

Angesichts solch konträrer Werturteile über die naturgemäße Ordnung des politisch-sozialen Lebens überrascht es nicht, dass eine naturrechtliche Betrachtungsweise auch hinsichtlich wichtiger moralischer Fragen des privaten Lebens zu widersprüchlichen Konsequenzen gelangte. Man braucht dafür nur auf die unterschiedlichen Einstellungen der heidnischen Antike und des christlichen Mittelalters zu Abtreibung und Kindestötung wie zur menschlichen Sexualität überhaupt zu verweisen. Wie die unterschiedliche Bewertung der weiblichen und männlichen Homosexualität zeigt, konnte ein Verhalten, das das ganze Mittelalter hindurch als peccatum contra naturam verworfen wurde, in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld unter bestimmten Bedingungen als natürliche Spielart des menschlichen Sexualtriebs akzeptiert werden.

Am aufschlussreichsten sind jedoch die gegensätzlichen Folgerungen, zu denen naturrechtliche Argumentationsmuster für den Bereich des ehelichen Lebens kommen. Nach dem platonischen Staatsideal gilt nicht allein die Sklaverei als eine gerechte und naturgemäße Einrichtung; als ebenso gerecht und naturgemäß wird auch die Promiskuität unter den Wächtern und die gemeinsame Erziehung ihrer Kinder betrachtet. Unter Berufung auf Aristoteles kommt Thomas von Aquin später zu einem genau entgegengesetzten Urteil: Weil die Aufgabe der Kindererziehung beim Menschen im Gegensatz zur Aufzucht der Nachkommenschaft im Tierreich einen sehr langen Zeitraum und eine durch die Treue der Ehegatten gestiftete Atmosphäre der Geborgenheit erfordert, schließt Thomas, dass die monogame, unauflösliche Ehe, die nach seinem christlichen Glaubensverständnis sakramentale Würde besitzt, zugleich eine notwendige Institution des Naturrechts ist.

Überblickt man die Liste der unterschiedlichen Werturteile, die sich mit der Naturrechtsidee im Laufe ihrer Geschichte verbanden, so drängt sich ein ernüchterndes Fazit auf: Der Naturrechtsgedanke erscheint als eine Hohlform, die sich mit wechselnden Inhalten füllen kann und einen in Situationen echter Ratlosigkeit, da man wissen möchte, was Recht ist und wie man handeln soll, im Stich lässt. Nur wenn sich unter den moralischen, rechtlichen und politischen Forderungen, die im Namen des Naturrechts erhoben wurden, der normative Kernbereich eines engeren Naturrechtsverständnisses herauskristallisiert, gibt es eine Brücke, die von der naturrechtlichen Grundströmung europäischer Ethik von Plato und Aristoteles, Thomas von Aquin und Kant zum säkularen Menschenrechtsethos und einer autonomen Vernunftmoral der Gegenwart führt. In diesem Fall dürften wir zu Recht von einem unverzichtbaren humanen Überschuss des Naturrechts sprechen, der von den dargelegten Einwänden nicht betroffen ist.


Der doppelte Begriff der Menschenwürde

Der Verdacht einer zirkulären Argumentation, die aus der Vorstellung des naturgemäßen Lebens nur solche normativen Schlussfolgerungen ableiten kann, die zuvor als anthropologische Sinngehalte in sie hineingelegt wurden, richtet sich auch gegen den Begriff der Menschenwürde. Dieser spielt in vielen neueren Varianten des naturrechtlichen Denkens eine wichtige Rolle als Kurzformel, in der sich anthropologische Vorstellungen über die Natur des Menschen bündeln.

Die herausgehobene Stellung, die der Gedanke der Würde des Menschen in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen und in manchen modernen Verfassungen einnimmt, sichert noch kein einheitliches Verständnis, an dem sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen orientieren könnten. Dazu ist vielmehr eine Unterscheidung im Begriff der Menschenwürde erforderlich, die ihn zu einem zwingenden, von jedem Standpunkt aus rational anerkennungsfähigen Argument der moralischen Vernunft macht.

Der Gedanke der Menschenwürde kann, sofern er eine normative Funktion in dem Sinn haben soll, dass ihr Schutz auch rechtlich einklagbar und durch Sanktionen geschützt ist, nur ein Minimalbegriff sein. Er enthält keinen erschöpfenden Hinweis auf alle Bedingungen, unter denen sich gelingendes Menschsein vollendet darstellt, sondern steckt nur den letzten, gegenseitig unverfügbaren Lebensraum ab, den Menschen einander zugestehen müssen, die sich gegenseitig als freie Vernunftwesen achten. Dieser harte Kern der Menschenwürde-Vorstellung besteht in nichts anderem als in dem, was den Menschen allein zum Menschen macht: der Fähigkeit zum freien Handeln und zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung. "Also ist Sittlichkeit" - so heißt es bei Immanuel Kant - "und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat".

Von der strikten Beschränkung auf die Fähigkeit zur Moralität bleibt eine zweite Bedeutung des Wortes "Menschenwürde" zu unterscheiden, wie sie sich seit der französischen Revolution im öffentlichen Sprachgebrauch herausgebildet hat. Wenn wir von "menschenwürdigen Zuständen" und der menschenwürdigen Gestaltung individueller Lebensbereiche wie dem der Sexualität sprechen, gewinnt der Begriff Menschenwürde einen anderen Sinn. Er erweitert sich dann zu einer Maximaldefinition und wird zu einer Abbreviatur anthropologischer Sinneinsichten, die sich mit ihm verbinden.

Beide Vorstellungen können sich im Blick auf die moralische Aufgabe des Einzelnen ergänzen, sie schließen sich in einem Punkt aber geradezu aus. In seinem strikten Sinn benennt der Gedanke der Menschenwürde eine kategorische Grenze, die jedem Versuch ihrer "Verwirklichung" in der zweiten, erweiterten Bedeutung gesetzt ist. Gerade weil wir uns in unseren offenen Gesellschaften über verpflichtende Inhalte eines "menschenwürdigen Lebens" nicht mehr verständigen können, müssen wir die Würde umso entschiedener anerkennen, die nicht von unserer Übereinkunft abhängt, sondern uns allen unverfügbar ist. Deshalb muss der Rechtsstaat die Menschenwürde auch gegenüber dem Verbrecher achten und auf solche Methoden der Beweiserhebung oder Strafe verzichten, die (wie die Folter und die Todesstrafe) mit ihr unvereinbar sind.


Die bleibende Bedeutung des Naturrechts

Keiner von uns verdankt seine menschliche Würde dem Einverständnis und der Zustimmung der anderen; sie wird in einer humanen Rechtsordnung von niemandem gewährt, sondern als ein allen vorausliegendes Fundament des Zusammenlebens anerkannt. Um alle sprachliche Zweideutigkeit auszuschließen, müssen wir geradezu sagen: In ihrem eigentlichen Sinn kann Menschenwürde nicht "verwirklicht" oder "befördert", sondern nur geachtet und als bereits wirklich anerkannt werden. Nur in Bezug auf das freie Selbstsein des Einzelnen und seine Lebensaufgabe gibt es überhaupt einen Sinn, von der Realisierung der Menschenwürde zu sprechen.

Im Blick auf kollektive Programme und ihre Legitimation durch gesellschaftliche Mehrheiten umschreibt die Menschenwürde nicht das Ziel, sondern die Grenzklausel, unter der aller politische und wissenschaftliche Einsatz für das Wohl der Menschen und eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse steht. An diese einschränkende Bedingung erinnert die Rede von der Selbstzwecklichkeit des Menschen: Er ist immer um seiner selbst willen zu achten und darf niemals um eines anderen willen - auch nicht um der Zukunft und Gesundheit künftiger Generationen willen - ausschließlich als Mittel zum Zweck geopfert werden.

Eine klassische Abwägungsregel des Naturrechts lautet daher, dass negative Unterlassungspflichten, die uns davon abhalten, die moralischen Rechte anderer zu verletzen, immer und ausnahmslos gelten, während die Realisierung positiver Handlungsgebote von vielen Besonderheiten der jeweiligen Situation abhängt. Auf der gleichen Linie fordert Kant, dass der Einhaltung von Rechtspflichten in jedem einzelnen Fall der Vorrang gegenüber den so genannten Tugendpflichten (Hilfeleistung für andere, Wohltätigkeit) zukommt.

Ein abschließendes Urteil über die Leistungsfähigkeit naturrechtlicher Ansätze in der Ethik fällt differenzierter aus, als es die massive philosophische Kritik am Naturrecht vermuten lässt. Viele Neuansätze der philosophischen und theologischen Ethik erweisen sich bei näherer Betrachtung nicht als Alternativen zum Naturrecht, sondern als Modifikationen innerhalb desselben Paradigmas, die vor allem auf die Integration humanwissenschaftlicher Erkenntnisse zielen, um gesicherte Einsicht in die anthropologische Verfassung des Menschen zu gewinnen.

Insofern können etwa die Befähigungs-Ethik von Martha Nussbaum und Amartya Sen, die einen kulturübergreifenden Essentialismus der menschlichen Natur voraussetzt, und die autonome Moral im christlichen Kontext als Fortschreibungen eines naturrechtlichen Ansatzes verstanden werden. Umgekehrt ist unübersehbar, dass inzwischen die meisten Gegenmodelle einer fortschrittlichen und "aufgeklärten" Moral viel von ihrer anfänglichen Faszinationskraft eingebüßt haben. Die Verabschiedung des Naturrechts aus vielen säkularen Ethikentwürfen erwies sich als Einfallstor weitreichender Relativismen historisierender, soziologischer oder kulturalistischer Art.

Auch darf daran erinnert werden, dass die brutalsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts von totalitären Regimen verübt wurden, zu deren ideologischen Grundlagen die Verhöhnung des Naturrechts und die Überordnung der Machtinteressen einer biologischen Rassen- oder sozialen Klassengemeinschaft über die Würde der menschlichen Person gehörte, von der das Naturrecht spricht. Die Rassenlehre der Nationalsozialisten und der dialektische Materialismus der Sowjets können mit Fug und Recht als Versuche gedeutet werden, die in ihrem Namen verübten Gräueltaten durch dieselben pseudowissenschaftlichen Erkenntnisse zu begründen, die auch die Abkehr von den Fesseln des überkommenen Naturrechts legitimieren sollten.

Eine kritische Überprüfung der wichtigsten Einwände gegen das Naturrecht führt keineswegs zu dem Ergebnis, dass dessen grundlegende Forderungen ihre Geltung in einer pluralistischen Gesellschaft eingebüßt hätten. Naturrechtliche Grundnormen, die jedem Menschen unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, biologischem Alter oder sozialem Status den notwendigen Schutzraum personaler Freiheit und eigenverantwortlicher Lebensgestaltung garantieren, sind rational begründbar und von jedem Standpunkt aus anerkennungsfähig, sofern sie nicht mehr als die Anfangsbedingungen des Menschseins beanspruchen, die jeder Entwurf gelingenden Lebens voraussetzt.

In der Stärke des Naturrechts, die seinen Forderungen allgemeine Geltung verleiht, liegt aber zugleich seine innere Grenze. Denn nur ein material bescheidenes Naturrecht, das sich auf die unerlässlichen Mindestvoraussetzungen des Menschseins beschränkt, lässt genügend Freiraum für individuelle Lebenserfahrungen und kulturelle Unterschiede unter den Menschen.

Die Glaubwürdigkeit, die der Kirche und ihrem Lehramt in ihrem weltweiten Eintreten für die Menschenrechte und das moralische Fundament der Demokratie zugebilligt wird, hängt in erster Linie von Inhalt und Stil ihrer Verkündigung ab. Sie wird in einer modernen Freiheitskultur nicht zuletzt daran gemessen, wie überzeugend die Kirche in ihrer eigenen Morallehre die Hochachtung menschlicher Freiheit und Würde sowie die Wertschätzung jedes einzelnen Menschen zum Ausdruck bringt, die zu den unaufgebbaren Einsichten des Naturrechts zählen.


Der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff (geb. 1953) ist Mitglied des Deutschen Ethikrates und gehörte auch schon von 2001 an dem Nationalen Ethikrat an.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 5, Mai 2008, S. 236-241
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2008