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STANDPUNKT/327: Spiritualität - ein biblischer Weg (Junge.Kirche)


Junge.Kirche 2/2009
Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Focus dieses Heftes: Biblische Spiritualität

Spiritualität - ein biblischer Weg

Von Klara Butting


Das Wort Spiritualität hat den religiösen Sprachraum erobert. Es steht für eine weit verbreitete Suche nach einem Leben in Verbundenheit mit Gott. Oft sind auch einzelne geistige Übungsschritte, wie Pilgern, Fasten oder Sitzen in der Stille, gemeint. Zu diesen geistigen Übungen, die unser Leben und Denken zu Gott hin offen halten, gehört für mich das Lesen und Diskutieren biblischer Texte. Bei dem Versuch, über diese Verknüpfung von Spiritualität und Bibel Rechenschaft abzulegen, kann ich bei denen anknüpfen, die im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechung mit den fünf Büchern Mose den Grundstein der Bibel gelegt haben. Denn mit dem Buch entstehen automatisch Fragen nach der Legitimität der schriftlich fixierten Tradition. Ist es überhaupt im Sinne Gottes, dass ein Buch zwischen Gott und Menschen tritt? Wird der lebendige Gott dadurch nicht entmachtet, dass Geschriebenes Gottes Wort sein will? Die Frauen und Männer, die am Entstehungsprozess der Bibel beteiligt waren, haben sich mit diesen Fragen auseinandergesetzt und legen in den biblischen Texten Verantwortung ab über ihr Tun. So erzählen sie zum Beispiel, dass der Ursprung der Bibel in einer Gotteserfahrung liegt.


Gotteserfahrung

Am Sinai zeigt Gott sich in einer Stimme, die die Zehn Worte hörbar macht. Das erste Wort ist die Selbstvorstellung des Gottes, der in die Freiheit führt: "Ich bin der EWIGE, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus" (2. Mose 20,2). Dann folgen Lebensregeln, die darauf zielen, dass Freiheit im Alltag Gestalt gewinnt - die so genannten 10 Gebote. In dem Moment, in dem die Versammelten die Stimme hören, die ihnen den Willen Gottes kundgibt, rufen sie nach Mose: "Rede du [Mose] mit uns, wir wollen hören, aber Gott soll nicht mit uns reden" (20,19). Statt der direkten Gottesbegegnung will die versammelte Gemeinschaft einen Mittler. In diesem Mittler Mose wird die Bibel zur Figur der Erzählung. Mose verkörpert in dieser Erzählung die fünf Bücher Mose, das ist die Tora, die Weisung vom Sinai, die im Judentum auch der Name der gesamten Bibel ist. D. h., die Frauen und Männer Israels entscheiden sich angesichts der Möglichkeit der direkten Gottesbegegnung für die Bibel als Mittlerin. Diese Entscheidung mag der Sehnsucht von uns heutigen Spiritualitätssuchenden fremd sein, sie ist für das Verstehen biblischer Spiritualität grundlegend.

Ein Schlüssel zum Verständnis der überraschenden Sinaientscheidung war für mich ein Text von Abel Herzberg, der im Konzentrationslager Bergen-Belsen über die Religion des Judentums und die Religion des Nationalsozialismus nachgedacht hat. Letztere charakterisiert er als einen Glauben an den ewigen Kampf zwischen Macht und Macht, in dem die Macht, die siegt, das Recht setzt. Dieser Glaube der Macht hasst das Judentum, weil hier immer wieder die Frage gestellt wird: "Ist es erlaubt?". Zentral für den jüdischen Glauben ist das Bekenntnis "Gott ist Einer", das - so Herzberg - "identisch ist mit der Forderung nach einer einzigen Ethik". Ob Sklavin oder König, Priester, Soldat, Prophetin oder Gesetzgeber - es gibt niemanden, der nicht dem Einen Verantwortung schuldet. Als würde er die Sinai-Entscheidung Israels auslegen, formuliert Herzberg die Gabe des Judentums an die Völker mit den Worten: "Die größte Bedeutung des Monotheismus liegt daher auch nicht so sehr in der Gotteserfahrung oder der Begegnung Mensch-Gott, nicht so sehr in der Mystik, in der Erfahrung der Liebe oder der Gnade, sondern im Erstellen und im Rechtfertigen der sittlichen Norm, dem Recht für Individuum und Gemeinschaft."

In der Begegnung mit Gott am Sinai, in der Israel die Zehn Gebote hört, erkennt das Volk, dass Gott die Freiheit und Humanität, für die er einsteht, dem Schutz des Rechtes anvertraut hat. Die Freiheit, die Gott gibt, soll durch Recht in dieser Welt Gestalt gewinnen. Weitere Gottesbegegnungen mögen sich ereignen und werden sich ereignen, doch zunächst wird eine für alle verbindliche schriftliche Grundlage gebraucht, die Leben und Glauben der Gemeinschaft regelt: die Bibel. Sie ermöglicht ein Gespräch über die Regeln, die in der Gemeinschaft zur Bewahrung der Freiheit zu gelten haben, und gibt der Gemeinde eine Handhabe, die Gotteserfahrung Erleuchteter, die Lehre von Priestern, die Rechtsprechung der Jurist/innen und Machtansprüche der Regierenden zu prüfen und gegebenenfalls zurückzuweisen.[2]


Eine bewohnbare Erde

Die Kraft der Bibel, die Fixierung auf ein privates "ich und Gott" zu durchbrechen, ist für mich eine zentrale Befreiungserfahrung geworden. Als ich ein junges Mädchen war, hing das berühmte Lied über die Liebe in meinem Zimmer an der Wand: "Die Liebe hat einen langen Atem, gütig ist die Liebe, sie eifert nicht. Die Liebe prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf, ... sie trägt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles" (i. Korinther 13, 4-7). Ich wollte die Liebe, die Jesus mir am Kreuz erwiesen hat, beantworten und dieser Liebe nacheifern. Im Rückblick erscheint mir dieses Vorhaben als Qual. Obwohl ich mir biblische Worte eingeprägt habe, bin ich erst sehr viel später mit der Bibel als lebendig machende Botschaft in Berührung gekommen. Die Begegnung mit der biblischen Botschaft verbindet sich für mich bleibend mit der Erkenntnis, dass es Gott nicht um mich und meine Vervollkommnung geht, sondern um das Leben von uns Menschen auf dieser Erde. Die Verheißung, dass die Erde für alle Menschen zu einer Heimat werden soll, hat mich aus meiner Selbstbezogenheit befreit. Selbst die Frage, ob ich an Gott glauben kann, verlor ihre Bedeutung angesichts des Glaubens Gottes an uns Menschen. Biblische Spiritualität ist für mich untrennbar mit dieser Erfahrung verbunden: Eine wird berührt von Gottes Vision einer Welt ohne Leid und beginnt, dafür zu arbeiten; einer fängt an, auf eine Zeit ohne Ausbeutung zu hoffen und dafür zu kämpfen. Gemeinsam erwarten wir den Tag, an dem der Hunger nach Brot, nach Leben und nach Gerechtigkeit gestillt ist.


Berufung

Die Sehnsucht nach Heilung von Kreatur und Natur geht mit der Einladung einher, mit Gott mitzumachen. Gotteserfahrungen sind in der Bibel Berufungserfahrungen. Wenn Himmel und Erde sich - berühren, wird die Stimme laut, die Abraham gehört hat: "Geh vor dich hin aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus deinem Elternhaus in das Land, das ich dich sehen lasse" (1. Mose 12,1). Abraham und Sara bekommen die Vision eines Landes - ein Land, das exemplarisch für die ganze Erde steht -, in dem geschwisterlich gelebt werden kann. Von jetzt an ist ihr Leben geprägt von Aufbruch und kritischer Auseinandersetzung mit den Normen ihres vertrauten Umfelds.

Wenn Unrecht sich breit macht, fordert die Erfahrung Gottes eine Auseinandersetzung mit diesem Unrecht. Denn Gott selbst engagiert sich gegen Ungerechtigkeit! Er sieht das Elend seines Volkes in Ägypten. Er hört nicht auf, von dem Land zu träumen, in dem Milch und Honig fließen, und sendet Mose in den Streit für die Befreiung seines Volkes: "Geh, ich sende dich zu Pharao. Führe mein Volk Israel heraus aus Ägypten" (2. Mose 3,10). Nicht zum Mit-"sein" mit Gott oder zum Christ-"sein" wurden unsere Vorgänger/innen gerufen. Sie wurden gerufen, teilzunehmen an Gottes Engagement für eine bewohnbare Erde. Im Zentrum steht deshalb nicht die eigene Vollendung, sondern ihre Berufung und Sendung zielt auf die Vollendung der Welt.

Dass die eigene Vollendung nicht im Zentrum steht, heißt nicht, dass sie unwichtig ist. Die Vollendung der Welt beinhaltet selbstverständlich auch die eigene Vollendung. Der Glaube will sogar der Vollendung der Welt in uns vorgreifen und ihr so in der Gegenwart Gestalt geben. Dieser Weg des Glaubens erfordert Arbeit an sich selbst, die je nach Kontext und Konstitution alle Konzentration erfordern kann.

1942 schreibt die junge Jüdin Etty Hillesum in dem von Nazis besetzten Amsterdam in ihr Tagebuch: "Es ist das einzige, auf das es ankommt, ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott." Sie leistet dem Terror gegen die jüdische Bevölkerung Widerstand, indem sie Angst, Hass und Verbitterung in sich selbst bekämpft. Das ist in ihren Augen die einzige Zukunftsperspektive. "Es ist die einzige Möglichkeit, die neue Zeit vorzubereiten, indem wir sie schon jetzt in uns vorbereiten."[3] Das Engagement in der Welt zur Neugestaltung der Welt wird zur Arbeit an der eigenen Vervollkommnung. Auch wenn die Zuspitzung auf diese "einzige Möglichkeit" ihr durch die extreme gesellschaftliche Ohnmacht aufgezwungen wurde, formuliert sie in ihrer Bedrängnis eine Einsicht, die zu dem Weg mit Gott dazu gehört. Denn Gott erklärt die Einzelnen zu seinen Bündnispartner/innen. Auf sie kommt es an. Königliche, Welt verändernde Macht wird ihnen verliehen. Diese Macht misst sich nicht an der gesellschaftlichen Stellung, der Größe des Aktionsradius oder der Menge der Gestaltungsmöglichkeiten, die wir haben. Auch wenn unsere Möglichkeiten, in der Welt Recht zu schaffen, durch die politische Situation, durch Krankheit oder Alter eng gesteckt sind, nehmen wir mit der Verarbeitung unserer ganz privaten Lebenssituation teil an der notwendigen politischen Auseinandersetzung und der erhofften Überwindung von Gewalt.

Ein Blick in das Gebetbuch der Bibel, den biblischen Psalter, zeigt diese Ermächtigung, die uns das Private politisch verstehen lässt, als einen Kern biblischer Spiritualität. Der Psalter ist geprägt von der Überschrift le david, die meistens mit "von David" übersetzt wird, aber auch durch "für David" wiedergegeben werden kann. Diese Zuschreibung zu David macht keine Aussage Ober die historischen Wurzeln der Psalmen. Die so genannte Davidisierung des Psalters geschieht im Laufe der Jahrhunderte durch die betende Gemeinde. Beinahe die Hälfte der 150 Psalmen wurde mit David in Verbindung gebracht. Die meisten dieser Davidpsalmen sind Klagen. Gerade da, wo isolierte, bedrängte Menschen sich zu Wort melden, wird die Verbindung zu David hergestellt. Die einzelnen Menschen, die in Not und Anfechtung sich selbst und Gott verstehen wollen, geraten in eine Auseinandersetzung mit David. Der Weg zu Gott wird für sie zum Weg aus der Isolation. Die Betenden werden mit Israels Geschichte verknüpft und in die Verantwortung für diese Geschichte hineingestellt. Sie bekommen einen neuen Horizont, sich selbst und ihre Situation zu verstehen. Betend vollzieht sich die Erkenntnis, dass jede und jeder einzelne mit der Verarbeitung von Leid, Verfehlung und Dankbarkeit teilhat an der großen Politik, für die der Name David steht. Jedermann und jede Frau ist auch in Isolation und Bedrängnis mitverantwortlich für die Vollendung der Geschichte Israels und der gesamten Menschheit. Der eigene Körper wird Feld der Auseinandersetzung. Hier werden bislang ungelöste Probleme der Gemeinschaft ausgetragen. Das eigene Leben wird zu einem Ort von Gärung und Vorbereitung der kommenden Zeit.


Leben in Begegnung

Für die Autoren und Autorinnen der Bibel ist dieses Leben im Gespräch (mit Gott, mit der biblischen Überlieferung, mit David), in das der Psalter uns hineinstellt, selbstverständlich. Die Erfahrungen der Einzelnen sind eingebettet in ein Beziehungsgefüge. Sie sind Teil einer Bundesgeschichte, die von einem Gegenüber lebt, an dessen Treue die Menschen sich ausrichten und appellieren. Dieses Gegenüber ist uns fragwürdig geworden. Viele suchen gegenwärtig Transzendenz jenseits von Worten in der Stille und beschreiben, dass sich auf dem Weg des Schweigens das personale Gegenüber auflöst. "Dort gibt es ein Erfassen, Erkennen und Erleben, das keinen Erfassenden mehr kennt oder braucht. Diese Nicht-Dualität zu erfahren, ist das Ziel. ... Ich fühle mich mit allem und allen verbunden. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Und immer wieder merke ich, dass es keine Trennungen und keine Abspaltung gibt. Da ist nur Unendlichkeit."[4]

Die Bibel bestreitet diese Erfahrung nicht. Sie erzählt, dass der Eine Gott zu seinem/ihrem Bild eine Vielfalt, die ganze Menschheit, männlich und weiblich, erschuf, und erwartet, dass der Eine, der alle zur Einheit ruft, eines Tages "alles in allem" sein wird. Denen es gegeben ist, die Einheit und Verbundenheit alles Lebendigen zu erfahren, wird die Gegenwart des Einen Gottes erfahrbar und ein Vorgeschmack auf die Erfüllung der Geschichte geschenkt. Doch das Geheimnis dieser Einen biblischen Gottheit liegt in ihrer Ansprechbarkeit und Beziehungsfähigkeit. Denn der Gott der Bibel hat einen Namen: JHWH (ausgesprochen als Adonai, d. h. mein Herr), und "auf Grund des Namens wissen wir, dass das Menschenförmige, das Gott selbst erwählt, geheiligt und geweiht hat, der Wirklichkeit Gottes viel näher kommt als das Naturförmige, die aus der unpersönlichen Welt entlehnten Bilder wie beispielsweise das Absolute, das Unendliche, die alles lenkende Macht, die ewige Stille oder Weite oder der Abgrund. ... Unendlicher als das Endlose ist die Zeit, die zugleich unsere Zeit und Gottes Zeit ist: der Raum der Begegnung."[5]

Die Offenbarung des Namens bedeutet: a) Gott will als ein Gegenüber angesprochen werden, und b) Gott will von anderen Mächten, die in dieser Welt wirken, unterschieden werden. Gott ist nicht das namenlose All, nicht die Grundstruktur der Welt. Und nicht alles, was in der Welt geschieht, ist Gottes Tat. Der NAME hat sich Israel in der Sklaverei als eine Gegenstimme offenbart. Mitten im Leiden gibt es die Stimme der Menschlichkeit. Sie spricht nicht von Leistung, Geld oder Macht, sie spricht von Erbarmen und Solidarität. Sie ruft zur Befreiung. Mit dieser Offenbarung des Namens wird allerdings das Geheimnis des Gegenübers nicht preisgegeben. Deshalb wird an den Stellen, wo der Name JHWH im Text auftaucht, Adonai (mein Herr) gelesen. Diese Aussprache ist jedoch nur eine Umschreibung der vier Buchstaben JHWH, die selbst unausgesprochen bleiben. Die Namensoffenbarung ist also gleichzeitig eine Namensverweigerung. Sie macht deutlich, dass das Gegenüber nicht eingefangen werden kann. Die EWIGE [6] entzieht sich der Vereinnahmung. Sie bleibt eigenständiges Gegenüber in immer neuen Begegnungen.

Weil die Ewige mit ihrer ganzen Göttlichkeit für Menschlichkeit eintritt, begegnet uns die Göttlichkeit dieser Gottheit in menschlichen Zügen, im "Du", das uns mit Trost und Kritik zu unserer Menschwerdung verhilft. Dabei spielen auch die unangenehmen Begegnungen in der Bibel eine wichtige Rolle. Begegnungen, die uns aus unseren selbstverständlichen Welt- und Gottesbildern herausreißen, in denen wir Gericht erleben und uns neu ausrichten müssen. David z. B. war mit 400 Männern losgezogen und hatte, sich Gottes sicher wähnend, bei Gott geschworen, einen größenwahnsinnigen Großgrundbesitzer zur Rechenschaft zu ziehen. Später gelingt es Abigail, der Frau dieses Großgrundbesitzers, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. In dieser Begegnung offenbart sich David die Macht und das Wesen des Gottes Israels. Er erkennt, dass "JHWH/ADONAI, der Gott Israels", selbst ihm entgegengetreten ist und ihn daran gehindert hat, einen Rachefeldzug zu unternehmen (i. Samuel 25,34). Der oder die Andere, die uns entgegentritt, störende Begegnungen: die Hungrigen, die nach Essen verlangen, die Fremden, die Aufnahme suchen - in ihnen zeigt sich die ewige Gottheit. Von dieser Gottheit kann deshalb erzählt werden, dass ihre ganze Fülle in einem Menschen, Jesus Messias, leibhaftig präsent gewesen ist (Kolosser 2,9 f.). Gespräche und Begegnungen mit anderen Menschen können deshalb zum Ort der Gottesoffenbarung werden. Das Geheimnis Gottes, seine Zuwendung in der Begegnung und seine bleibende Eigenheit, spiegelt sich wider in dem Geheimnis der Menschen. "Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber (...), ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend. (...) Alles wirkliche Leben ist Begegnung" (Martin Buber).[7] Diese Erfahrung, in der Begegnung angesprochen zu werden, steht im Zentrum biblischer Spiritualität.


Treue

Untrennbar ist die Geschichte des Ewigen mit der Geschichte von uns Menschen verbunden. Denn der Erweis seines Gottseins - Menschlichkeit auf dem Antlitz der Menschen, Recht und Barmherzigkeit in ihrem Miteinander - muss in der Geschichte unter uns Menschen erbracht werden. Im Nachdenken dieser Bundbeziehung formuliert Dietrich Bonhoeffer im nationalsozialistischen Deutschland seinen Glauben mit den Worten: "Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen."[8] Gottes Macht ist nicht eine alles durchwaltende Allmacht, die bewirkt, dass alles Böse auch sein Gutes hat und der Unterschied zwischen Gut und Böse relativiert werden kann. Das sagt Bonhoeffer gerade nicht! Noch ist in dieser Welt nicht alles eins! Sondern alle sind von dem Einen gerufen, sich zu einigen - mit ihren Mitmenschen, Mitkreaturen und mit Gott. Die Macht Gottes, das Böse zu überwinden, ereignet sich in dieser Beziehung, in dem Wort, das uns anspricht, dem Bösen, mag es auch noch so mächtig sein, die Macht zu verweigern und es zu entmachten, indem wir es uns zum Guten dienen lassen.

Der Glaube, den die biblische Überlieferung wecken will, ist nie ein Für-wahr-Halten irgendwelcher unbeweisbarer Thesen (dass Gott allmächtig ist und alles weiß, dass Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat etc). Glauben ist ein Beziehungsgeschehen, Glauben heißt Vertrauen in die Verlässlichkeit eines Gegenübers. Der Glaube, dass "der NAME Gott ist" und damit mächtiger ist als alles andere, ist ein Weg der Treue - Hingabe "mit deinem ganzen Herzen, mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Kraft" (5. Mose 6,4 f.). Von dieser Treue erzählt der Weg Jesu, sein Engagement für geteiltes Brot, der Aufbau stärkender Gemeinschaft und seine Beharrlichkeit, mit der er angesichts des Todes den biblischen Traum von Humanität festhält. Er hält seinen Anklägern die biblische Vision von der Macht der Menschlichkeit entgegen: "Von jetzt an werdet ihr den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen auf den Wolken des Himmels" (Matthäus 26,64; vgl. Daniel 7,13). Jesus sieht es vor sich: ein Menschenkind auf dem Thron, nicht mehr bestialische Gewalt und ungeheuerliches Unrecht. Recht geschieht. Die Gewalttäter werden entmachtet. Heute! Denn was Jesus vor sich sieht, geschieht in dem Augenblick durch seine Treue. Indem Jesus die Vision der Menschlichkeit festhält, wird er für seine Umgebung selbst zu der Grenze, die Gott Gewalt und Terror entgegensetzt. Die Vision eines Menschenkindes, das dem NAMEN und der Menschlichkeit treu bleibt, wird Fleisch. Die Brutalität, die auf Erden herrscht, stößt in Jesus auf eine Grenze, die sie entmachtet. So wird Gott durch menschliche Treue in der Welt sichtbar.

Dadurch, dass der Name Jesu Leben aus dem Verfall der Zeit herausgebrochen hat, hat Gott diesen Weg menschlicher Treue als seinen Weg in der Welt bestätigt. Allerdings hat diese Botschaft von der Auferstehung Jesu aus den Toten unter uns eher zu der Individualisierung beigetragen, die mir in Jungen Jahren die christliche Botschaft zu einer Qual werden ließ. Jede/r hofft auf die eigene Vollendung in Gott. Doch Jesus hat nicht die Auferweckung der Toten, sondern das Kommen des Reiches Gottes verkündigt. Auch ist nach dem Zeugnis der Bibel seine Auferweckung nicht das Ziel des Weges, sondern Gottes Tat im Dienste von Jesu Engagement für geteiltes Brot und tröstende Gemeinschaft. In dem Satz "er wurde auferweckt um unserer Gerechtsprechung willen" bringt Paulus diese Weltbezogenheit der Auferstehung zum Ausdruck (Römer 4,25). Jesu Auferweckung ist Gottes Tat für uns. Damit hat Gott sich Jesu Hingabe zu Eigen gemacht und uns seine lebendig machende Kraft zur Verfügung gestellt, sodass wir als Bündnispartner/innen Gottes in der Welt leben können. Nur am Rande des Neuen Testaments werden Bilder von unserer Auferweckung an unserem Lebensende ausgemalt. Unter diesen Bildern ist mir eine Äußerung des Paulus gegenüber der korinthischen Gemeinde besonders wichtig. In Erinnerung an die Erweckung Jesu sagt er über seine eigene, kommende Auferweckung: "Alles geschieht um euretwillen" (2. Korinther 4,15). Die Gewissheit, dass sein Leben im Tod nicht verloren geht, ist Wissen um Gottes Treue gegenüber denen, die mit dem Aufbau grenzüberschreitender Gemeinschaft für eine bewohnbare Erde arbeiten.


Klara Butting ist Freischaffende Theologin und Mitherausgeberin der jungen Kirche

[1] Abel Herzberg, Zweistromland. Tagebuch aus Bergen-Belsen (1944-1945), Wittingen 1997, 79.

[2] An anderer Stelle habe ich ausgeführt, dass die Bibel eine Bibliothek ist, in der Rede und Widerrede versammelt sind. Durch dieses dialogische Prinzip setzt sich die Bibel zur Wehr gegen Buchstabengläubigkeit und Fundamentalismus. Einzelne Worte können nicht mit dem Wort Gottes identifiziert werden. So ist die Bibel gemeinsamer Bezugspunkt und Gesprächsgrundlage und zugleich Herausforderung zum Gespräch, zu eigenständigem Nachdenken und selbst verantworteter Nachfolge; Klara Butting, Der das Licht und die Finsternis schuf, Wittingen 2007, 92 ff.

[3] Etty Hillesum, Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, Hamburg 1985, 149.157.

[4] Willigis Jäger, Im Grund ist alles eins in Gott, in: M. Seitlinger u. a. (Hg.), Wie Zen mein Christsein veränderte, Freiburg i. Br. 2004, 60.

[5] Kornelis Heiko Miskotte, Biblisches ABC, Wittingen 1997, 48.

[6] Im Deutschen sind die Wiedergabemöglichkeiten des Namens JHWH vielfältig - der HERR (Luther), die Personalpronomen ER, DU, IHM (Buber, Rosenzweig), der EWIGE (Tur-Sinai), die oder der EWIGE, die oder der LEBENDIGE, der NAME, so einige Versuche aus der Bibel in gerechter Sprache.

[7] Martin Buber, Ich und Du. Werke Bd.I, München 1962, 83.85

[8] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1962, 22.


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Inhaltsverzeichnis - Junge.Kirche 2/2009

Focus: Biblische Spiritualität
- Spiritualität - ein biblischer Weg / Klara Butting
- Auf der Suche nach spiritueller Heimat / Margret Blömer
- Warum ich die Bibel lese? / Beatrix Jeßberger
- Die Spiritualität der Bibel / Huub Oosterhuis
- Bibel und Mystik / Hildegard Gosebrink
- Die Seele entstauben / Klara Butting und Fulbert Steffensky
- Wenn die Bibel lebendig wird / Franziska Müller-Rosenau & Anne Rieck
- Und ist Mensch geworden... / Katharina Schridde

Zwischenruf
- Durch eine nationale Brille auf "Barmen" blicken? / Gerhard Dilschneider
- Auf dem Weg zu einem "un-verschämten Ich" / Jutta Weiß
- Glaube und Kunst - Die Pessachhaggada
- Vom Wohnen im Wort / Ruth Poser
- An Nelly Sachs / Johannes Bobrowski & Gunther Schendel

Forum
- Weltweite Auslegung einer Jahreslosung / Klaus-Peter Edinger
- Leserbriefe
- Mindestlohn und Menschenrechte / Bernd Kappes
- Die Weltsicht zweier Indianervölker im Gespräch mit der Bibel / Walter Sass
- Saßnitzer initiative / Katrin Stückrath
- Alt werden / Gisela Reiser

Predigt
- Werner Steinbrecher: presente! / Gerard Minnaard

Sozialgeschichtliche Bibelauslegung
- Menschen können sich ändern / Wolfgang Stegemann

Predigt
- Vom Weggehen und Zurückkommen / André S. Musskopf

Geh hin und lerne!
- Gesetz und Spiritualität / Gernot Jonas und Paul Petzel

Buchseiten, Veranstaltungen
Impressum und Vorschau


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Quelle:
Junge Kirche, 70. Jahrgang, Nr. 2/2009, Seite 1 - 6
Herausgeber: Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung
Redaktion: Junge Kirche, Luisenstraße 54, 29525 Uelzen
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Internet: www.jungekirche.de

Die Junge Kirche erscheint viermal im Jahr.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2009