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STANDPUNKT/356: Der Fall Käßmann (Junge.Kirche)


Junge.Kirche 2/2010
Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Focus dieses Heftes: Evangelisches Profil

Der Fall Käßmann

Von Dietrich Neuhaus


Für ein theologisches Nachdenken über den Fall Käßmann hat Heike Schmoll in der FAZ eine wichtige Schneise geschlagen: Es geht darum, diesen Fall auf das Verhältnis von "Amt und Person" hin zu bedenken. Die Besonderheit der protestantischen Bestimmung dieses Verhältnisses kann gut herausgearbeitet werden, wenn man die Berichterstattung über Bischöfin Käßmann vergleicht mit der über die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche.


Das Ineinander von Amt und Person

Worum geht es beim Thema "Amt und Person"? Ein Amt kann nur wahrgenommen werden von einem menschlichen Individuum und somit stellt sich das Problem der Vermittlung von allgemeinen, überpersönlichen Vorgaben und individueller Besonderheit. Um dieses Vermittlungsproblem plastisch zu machen, stelle man sich einen geschlossenen Raum mit drei Türen vor. Durch die eine Tür kommt das Amt hinein, durch die andere ein Mensch mit allen seinen Schrullen und Grillen. Beide kämpfen miteinander, fressen sich und werden gefressen bis aus beiden ein Drittes entstanden ist, das dann aus der dritten Tür auf den Erscheinungsbalkon hinaustritt, um von der Öffentlichkeit anerkannt zu werden und fortan in sie hinein zu wirken.
Theoretisch lassen sich bei diesem Machtkampf zwischen Amt und Person zwei Extreme denken: das Amt verschlingt die Person oder die Person das Amt. Das erstere ist die katholische Lösung des Vermittlungsproblems, das zweite die protestantische. Das kann man sich am Papstamt klar machen: Wenn eine Person mit dem bürgerlichen Namen Josef Ratzinger zum Papst gewählt ist, dann erhält er einen neuen Namen, in diesem Fall Benedikt mit Nummer. Josef Ratzinger ist tot, kurioserweise könnte man sagen: bis an sein Lebensende, da das Papstamt ein Amt auf Lebenszeit ist. Das katholische Modell: Amt essen Person auf. Das protestantische Gegenmodell ist dementsprechend: Person essen Amt auf. In der protestantischen Ämtergeschichte gibt es viele Beispiele dafür, dass starke Persönlichkeiten ihr Amt so wahrgenommen haben, dass es auf den Untergang des Amtes hinausläuft. Das zugrunde liegende Modell scheint Folgendes zu sein: Es wächst ein im Glauben gebildetes Individuum heran, das die Entscheidung trifft, ein geistliches Amt anzustreben, sich daraufhin nach individueller Universitätswahl seine Bildungsmodule mehr oder weniger persönlich zusammenstellt, sie individuell aneignet und in sein persönliches Glaubensgefüge integriert, akademisch examiniert wird auf objektive Wissensbestände hin, kirchlich examiniert wird auf seine sozialen Potentiale hin und so plötzlich im geistlichen Amt steht. Das ist wahrlich ein anderer Bildungsweg als ein katholisches Priesterseminar. Eine protestantische Pfarrperson ist eine eingebildete Person, d. h. ein Individuum, das sich ein Amt eingebildet hat. Demgegenüber ist ein katholischer Priester ein eingebildetes Amt, d. h. ein Amt, das sich eine Person eingebildet hat.


Amt und Person fallen auseinander

Es kommt zur Krisis, d. h. Amt und Person fallen wieder auseinander aufgrund dramatischer Ereignisse. Welche Möglichkeiten der Bearbeitung dieses Falles gibt es in beiden Modellen? Im katholischen Modell darf auf keinen Fall das Amt einen Schaden erleiden, denn das würde die Institution treffen. Im katholischen Denken ist die Kirche eine von Gott selbst gestiftete, ihn auf Erden repräsentierende und darum als ganze eine heilige Institution. Grenzwertig denkbar ist sie allenfalls als keusche, reine Hure. Wie auch immer, sie ist und bleibt rein und ist vor allen Befleckungen zu bewahren. Das ist die Aufgabe der intakten Amtsträger. Sie werden darum zuerst leugnen und vertuschen, um die Unbefleckte rein zu halten. Sie werden weiter die Berichterstattung als bösartige Hetzkampagne darstellen. Ein Gedanke wie der in der Debatte um die Reformpädagogik, ob Kindesmissbrauch vielleicht auf ein systemisches Problem hinweise, ist hier aus systematischen Gründen völlig undenkbar. Kann das Amt keine Schuld haben, bleibt nur die Person als Zufluchtsort des Bösen. Das Böse kann per definitionem nicht in der Kirche, sondern nur außerhalb lokalisiert werden. Es war also die böse Gesellschaft, bzw. das Böse in der Gesellschaft, die 68er, die eine Person so negativ beeinflusst haben, dass der Überwältigungsprozess durch das Amt nicht gut geklappt hat. Im Durchlaufen dieser Defensivstrategie mit dem Ausblenden der Opfer sieht man peinlicherweise die intakten Amtsträger der katholischen Kirche befasst. Die öffentliche Glaubwürdigkeit der Institution ist dramatisch eingebrochen.
Anders der Fall Käßmann. Hier liegt streng genommen nichts vor. Nach dem Pfarrdienstrecht hätte ein Dienstvorgesetzter nicht einmal das Recht, sie zu einem dienstaufsichtlichen Gespräch vorzuladen. Der Promillewert ist nicht das Ergebnis eines Kampfsaufens und liegt unterhalb der Grenze zum Straftatbestand. Margot Käßmann war allerdings den Weg gegangen, die protestantische Einverleibung des Amtes durch die Person konsequent unter den Bedingungen der Mediengesellschaft zu gestalten. Die Mediengesellschaft setzt ganz auf die Person, also eigentlich ein Glücksfall für das protestantische Modell. Die für die Mediengesellschaft interessante Person muss aber erst einmal konstruiert werden, sie ist nicht deckungsgleich mit dem Individuum Margot Käßmann. Nennen wir dieses auf die Interessen der Mediengesellschaft hin entwickelte Wesen in Anlehnung an das antike Theater eine persona. Sie ist eine Personifizierung gesellschaftlicher Ideale, Wünsche und Träume und spielt eine definierte Rolle. Nur ein solches Konstrukt kann wirklich die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie ein Model und so zu einer Medien-Ikone werden. Margot Käßmann ist diesen Weg ziemlich konsequent gegangen, von den umfangreichen Zahnkorrekturen bis zu den Auftritten und Publikationsstrategien. Sie hat ihre privaten Negativerfahrungen wie Scheidung und Krebserkrankung aus dem Bereich ihrer privaten Person so in den Bereich ihrer persona transferieren können, dass das protestantische Modell zum ersten Mal mediengerecht funktionierte. Sie war zu einer positiven Identifikationsfigur geworden. Das öffentliche Image der Institution hat davon profitiert. Die evangelische Kirche hatte in der Öffentlichkeit ein neues, ein weibliches Gesicht und war mit Themen, Positionen und moralischen Haltungen verbunden, an der sich das ganze gesellschaftliche Spektrum positiv und negativ abarbeiten konnte. In der Krisis, dem Auseinanderbrechen von Amt und Person, war die Doppelung auf Seiten der Person, die Existenz einer individuellen Person und einer persona, ein Glücksfall. Die individuelle Person Margot Käßmann war zwar irgendwie die Ursache der Krisis, sie hatte aber die Möglichkeit, das Problem auf der Ebene der persona öffentlich zu bearbeiten und zur Darstellung zu bringen. Die zu erwartende öffentliche Häme gab es nur bis zum Auftritt ihres Rücktritts, danach war deutlich, dass sie die Krisis von Amt und Person aufgrund der Darstellungsebene persona in einen Triumph ummünzen konnte. Die Person war gescheitert, die persona hatte noch im Abhängen des Titels mediengerecht gewonnen und die Sympathien der Öffentlichkeit auf ihre Seite gezogen. Sie blieb eine positive Medien-Ikone. Das passende Bild lag bereit und war auf allen ersten Seiten der Tages- und Wochenpresse zu finden. Die persona mit geschlossenen Augen und geheimnisvollem Lächeln, eine Vorlage aus der ZEIT-Magazin Serie "Ich habe einen Traum". Was sagt dieses Bild? Eine Tote, ja, aber das Amt lebt. Vor allem auf dem Spiegelcover tritt durch Überschärfe das Künstliche und Plastifizierte in den Vordergrund und läßt Mme Tussauds assoziieren. Darunter der Titel "Mensch Käßmann". Das heißt so viel wie: Du bist eine von uns. Und: Was hast du da gemacht, musste das sein? Medienlogisch ist die persona damit gesteigert präsent, als lebende Tote. Folgerichtig sind Freund und Feind damit beschäftigt, wann sie zurückkehrt.


Eine Phase der Erholung

Die wirkliche Person Margot Käßmann wird sich von dieser anspruchsvollen und anstrengenden Konstruktion erholen müssen. Und auch das Amt des/der Ratsvorsitzenden der EKD darf sich von den beiden letzten Amtspersonen erholen und für eine Weile wieder das sein, was es ist: Das Amt des Vorsitzenden eines kirchlichen Dachverbands, der seine Arbeit macht, ordentlich und in Verantwortung vor Gott und den Menschen.
Sah es seit dem Tod des polnischen und der Wahl des deutschen Papstes lange Zeit so aus, als hätte die katholische Kirche schon durch ihren Mummenschanz die evangelische in puncto Medienkonformität hoffnungslos abgehängt, so hat die evangelische Kirche durch den Fall Käßmann deutlich aufgeholt. ob es insgesamt verheißungsvoll ist, diesen Weg in der Mediengesellschaft weiter zu verfolgen, daran darf man zweifeln. Zu viel theologische Substanz bleibt dabei auf der Strecke.

Dietrich Neuhaus
Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Bornheim und
Dekan des Dekanates Frankfurt am Main Mitte-Ost


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INHALTSVERZEICHNIS - JUNGE.KIRCHE 2/2010

Focus: Evangelisches Profil

- Der Kern des evangelischen Glaubens / Klara Butting
- Profilierung: Die Entstehung des Problems / Matthias Kaiser
- Wo evangelisch drin ist, muss es nicht drauf stehen / Gerard Minnaard
- Der Fall Käßmann / Dietrich Neuhaus
- Wir bauen immer noch / Armin Mack und Jutta Weiß
- Evangelisches Profil oder protestantisches Prinzip? / Hans-Martin Gutmann
- Evangelische Schulen / Pro: Ingo Reuter, contra: Ina Korter
- Die Bibel der Juden in der evangelischen Kirche / Bertold Klappert
- Der Gottesdienst als Qualitätsprodukt / Julia Rabel
- Minarette und Datenklau / Peter Winzeler
- Glaube und Kunst/Evangelische Offenheit
- Profile entwerfen? Probleme anpacken! / Martin Stöhr

Forum

- Auf dem Weg zu gerechtem Frieden - Ökumene wagen? / Bärbel Wartenberg-Potter

Den Glauben ins Leben ziehen

- Aber man schafft es doch nicht immer / Magdalene L. Frettlöh
- Eine Spiritualität des Zuhörens, der Großzügigkeit und der gerechten Gastfreundschaft / Nyambura Njoroge
- Eine Antwort auf den Klimawandel / Christian Reiser
- Religiös globalisierte Dörfer / Oliver Dürr

Film-Betrachtung

- Gran Torino/Hans-Martin Gutmann

Predigt

- Judas - einer von uns / Magdalene L. Frettlöh

Sozialgeschichtliche Bibelauslegung

- Ohne Christus wären wir Atheisten / Wolfgang Raupach


Buchseiten, Veranstaltungen, Impressum und Vorschau


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Quelle:
Junge Kirche, 71. Jahrgang, Nr. 2/2010, Seite 9-10
Herausgeber: Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung
Redaktion: Junge Kirche, Luisenstraße 54, 29525 Uelzen
Tel. & Fax 05 81/77 666
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Internet: www.jungekirche.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2010