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BERICHT/112: Tagungsbericht - Religiöse Differenz und soziale Netzwerke (idw)


Universität Trier - 08.09.2010

Religiöse Differenz und soziale Netzwerke


Die Tagung wurde im Rahmen des im Oktober 2005 gegründeten Landesexzellenzclusters der Universitäten Trier und Mainz Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke organisiert. Sie brachte Mitarbeiter des dortigen Teilbereichs II Religiöse Differenz und interkonfessionelle Kooperation mit auswärtigen Kollegen zusammen, die in ihren Forschungen Beziehungsgeflechte in den Blick nehmen, die aus einem Neben- bzw. Miteinander sowohl von polytheistischen als auch monotheistischen Religionen sowie den unterschiedlichen christlichen Glaubensrichtungen erwachsen sind.

Der Untersuchungszeitraum der Tagung umspannte dabei den weiten Bogen von der Antike bis in die Gegenwart. Die Ausgangssituationen in sämtlichen Untersuchungsfeldern stellten gesellschaftliche Umbrüche dar. Aus diesen resultierende Konfliktsituationen führten als turning points entlang einer Linie von religiöser Differenz immer wieder dazu, dass bestehende Strukturen und Hierarchien aufbrachen und sich neue Beziehungsgeflechte zu ihrer Überbrückung oder Markierung herausbildeten. Mit ihrer Hilfe sollten oder sollen die veränderten Lebensverhältnisse bewältigt oder überwunden werden.

So galt es auf der Tagung vornehmlich zwischen folgenden Netzwerktypen zu unterscheiden wie diese auch zu beschreiben: Zum einen gab es Netzwerke der alten Glaubensrichtungen, die mit dem Auftreten neuer Religionen oder Konfessionen in die Defensive gerieten und sich teilweise auch durch diesen äußeren Druck veränderten. Umgekehrt konnten durch diesen Prozess auch neue Beziehungsgeflechte entstehen. In diesem Zusammenhang wurden Netzwerke von religiösen Mehrheiten unter Herrschaftsstrukturen mit andersreligiöser kleiner Führungsschicht geknüpft. Des Weiteren lassen sich Netzwerke beobachten, welche vor dem Hintergrund der Diaspora entstanden und deren Beziehungen sich zwischen den extremen Positionen von Integration und Parallelwelt ausbildeten. So organisierten sich schließlich Netzwerke bestimmter Glaubensrichtungen oder Interessensgemeinschaften innerhalb von Religionen.

RICHARD TRAUNMÜLLER (Universität Konstanz) widmete sich in seinem Vortrag der systematischen empirischen Analyse des Einflusses von Religion auf Sozialkapital in der Bundesrepublik Deutschland. In seiner Untersuchung werden als abhängige Variablen neben der Einbindung in formelle Netzwerke, zivilgesellschaftliches Engagement und informelle Freundschafts- und Verwandtschaftsnetzwerke berücksichtigt. Auch deren identitäts- und statusüberbrückende Potentiale müssen beachtet werden. Es zeigte sich, dass die auf der Datengrundlage des Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) ermittelten Ergebnisse nahelegen, dass sowohl subjektive Religiosität als auch öffentliche religiöse Praxis einen positiven Einfluss auf strukturelle Aspekte der Sozialintegration in Deutschland ausüben. Dabei lassen sich jedoch zum Teil deutliche Unterschiede zwischen den religiösen Traditionen (Katholizismus, Protestantismus, anderen Christen und dem Islam) ausmachen. Während etwa regelmäßiger Gottesdienstbesuch für alle Religionen mit einem größeren Freundschaftsnetzwerk einhergeht und zu häufigerem Treffen mit Freunden und Nachbarn führt, wird die Einbindung in formelle Netzwerke zivilgesellschaftlichen Engagements vornehmlich in christlichen Konfessionen und hier insbesondere im Protestantismus gefördert. Allerdings zeichnet sich keine der betrachteten religiösen Traditionen durch besondere identitäts- oder statusüberbrückende Wirkungen aus.

MARKUS GAMPER (Universität Trier) berichtete vom aktuellen Stand seines neuen Forschungsprojekts "Glaube in Bewegung: Netzwerke im spirituellen Tourismus". Spiritueller Tourismus, der gelegentlich auch als religiöser Tourismus bezeichnet wird, hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Gemäß den Daten der World Religious Travel Association wurden allein im Jahr 2006 über 300 Millionen Reisen unternommen, in denen der Glaube das zentrale Reisemotiv darstellte. Insbesondere die Pilgerreise, als eine der ältesten Formen des spirituellen Tourismus, erlebt einen neuen Boom - gerade auch in "säkularisierten" Gesellschaften wie Deutschland, Frankreich oder Spanien. Neben dem kollektiven Wallfahren, das lange Zeit die dominante Form des religiösen Tourismus ausmachte, sind in den vergangenen Jahren in spürbaren Maße solche Pilger hinzugetreten, die sich unabhängig von kirchlichen Organisationen und konkreten Glaubensüberzeugungen "auf den Weg machen". Während die Geschichte und Brauchtum kirchlicher Wallfahrten recht gut dokumentiert ist, liegen zum neu erwachten eher privat organisierten christlichen Pilgerboom bislang kaum systematische Daten vor, die Rückschlüsse auf Bildung von sozialen Netzwerken, Vergemeinschaftungspraktiken und -formen, Religiosität, Motivstruktur, aber auch die (nachhaltigen) spirituellen Erfahrungen der Pilgernden zuließe. Im Gegensatz zur in der neueren Religionssoziologie häufig anzutreffenden These vom Pilger als Einzelgänger, der in Gestalt des individualisierten Sinnsuchers konzeptionalisiert wird, zeigen erste empirische Fallstudien, dass neben der Außeralltäglichkeit des "Urlaubens" und der körperlichen Grenzerfahrung des Langstreckenwanderns, es vor allem die "authentischen" Begegnungen und sozialen Kontakte mit anderen Pilgern sind, die beim Pilgern eine besondere Rolle spielen und nicht selten als spirituelle Erfahrung gedeutet werden. Die Erfahrung der Einheit in der Differenz - "jeder auf dem Weg hat seine Geschichte, das hat etwas Einendes" - knüpfe ein unsichtbares Band zwischen den Pilgern. Die konkrete Vernetzung bzw. Netzwerkbildung während des Pilgerns und ihre (Be-)Deutung für das spirituelle Erleben bzw. die spirituelle Vergemeinschaftung der Pilger ist eine zentrale Frage der Studie. Diese Untersuchung wird in den kommenden Wochen vom Projektteam anhand von Fragebögen, Auswertung von Pilgertagebüchern und Interviews vor Ort in Santiago de Compostela durchgeführt.

Inwieweit das durch ein Entwicklerteam aus Soziologen, Ethnologen und Informatikern des Exzellenzclusters entwickelte Softwaretool Vennmaker, welches in der Lage ist, soziale Netzwerke zu erheben und darzustellen, auch für die Geschichtswissenschaften von Nutzen sein kann, schilderte anhand seines Pilotprojekts zum Gunpowder Plot JOHANNES DILLINGER (Universität Mainz). Der Vortrag begann mit einer kurzen historischen Einleitung: Im Jahr 1605 ging die Regierung König Jakobs I. von England rigoros gegen eine Gruppe katholischer Adeliger und ihrer Anhänger vor. Enttäuscht von Jakobs Konfessionspolitik hatten diese angeblich geplant, einen Sprengstoffanschlag auf den König und das Parlament zu verüben.

Diese Geschehnisse gingen als sogenannter Gunpowder Plot in die Geschichte ein. Die Debatte um die aufgedeckte Verschwörung bestätigte die protestantische Identität Englands und Großbritanniens und rechtfertigte eine zunehmende Diskriminierung der katholischen Minderheit. Guy Fawkes Day (Pope Day), der Jahrestag der Verhaftung eines Verschwörers, wird bis heute gefeiert und ist damit einer der ältesten politischen Feiertage.

Wegen der anhaltenden Bedeutung von Gunpowder Plot für die politische und konfessionelle Identität Britanniens wurden der Umfang der Verschwörergruppe und ihre Beziehungen zur Regierung kontrovers diskutiert. Die Debatte gipfelte in zu den Fragen, ob man nicht von einer Regierungsverschwörung gegen eine konfessionelle Minderheit sprechen müsse und ob es überhaupt zuverlässige Zeugnisse dafür gebe, dass tatsächlich ein Anschlag auf den König geplant war. Das Projekt Gunpowder Plot klärt nun die Grundlagen der Diskussion neu. Dabei wird die Entstehung der Gruppe der Verschwörer seit 1601 rekonstruiert und untersucht, ob die Behauptungen der Regierung bezüglich der Zusammensetzung und der Organisation der Attentätergruppe plausibel sind. Die Beziehungen der wichtigsten Gegner des Gunpowder Plots zu den vermeintlichen Verschwörern werden dargestellt. Für jede beteiligte Person, auf Seiten des Plots wie auf Seiten der Regierung werden zudem Basisdaten gesammelt und präsentiert. Die visuelle Umsetzung in dynamischen Vennmaker Grafiken schafft eine neue Darstellungsform. Darüber hinaus erlaubt sie einen neuen didaktischen Zugang zum Gunpowder Plot. Es entsteht ein einfaches und zugleich umfassendes Bild der Auseinandersetzung von 1605, das eine komplexe Personenkonstellation überschaubar macht. Wie historische Karten Herrschaftsräume simplifizieren und visualisieren, so ist es mit dem Softwaretool Vennmaker möglich, Grafiken personelle Netzwerke und Gruppenprozesse didaktisch aufzubereiten und anschaulich zu vermitteln.

Unter dem Titel "Nisi in bonis amicitiam esse non posse - Nur unter Guten kann Freundschaft existieren" präsentierte MARCELLO GHETTA (Universität Trier) christliche Korrespondenznetzwerke in der Spätantike vornehmlich des 4. und 5. Jahrhunderts. Einführend wurde nach den Gründen für die erfolgreiche Ausbreitung des Christentums im römischen Reich gefragt.

Unter die wichtigsten Punkte fallen dabei sicherlich die gute Organisation der christlichen Kirche und die Einbettung des Individuums in lokale sowie reichsweite Netzwerke. Besonders in den umfangreichen Briefkorrespondenzen werden die persönlichen Beziehungsgeflechte im Christentum sichtbar. Die Quellenlage dabei ist vorteilhaft: Von vielen bedeutenden Bischöfen und Theologen der Spätantike sind Briefe erhalten, die von Freundschaften und Abhängigkeiten, aber auch Entzweiungen und Gegnerschaften zeugen.

Am Beispiel des einflussreichen Kirchenvaters Hieronymus konnte deutlich gezeigt werden, wie sehr theologischer Konsens bzw. Dissens die persönlichen Beziehungen bestimmte. So ist etwa von Hieronymus ein umfangreiches Briefcorpus erhalten, das seine Freundschaften, aber auch deren Brüche widerspiegelt. Ausgangspunkt der wichtigsten theologischen Kontroverse des 4. Jahrhunderts war die Frage, wie die Natur Jesu zu definieren sei. Daran zerbrach die Freundschaft zwischen Hieronymus und seinem Weggefährten Rufinus von Aquileia, was weitere Lagerbildungen zufolge hatte. In der Folgezeit kam es zum Kontaktabbruch mit Paulinus von Nola, der theologisch eher auf Seiten des Rufinus stand. Aber auch an Paulinus selbst konnte dargestellt werden, wie eine veränderte religiöse Gesinnung den Bruch mit den alten Freundschaften bewirkte. Als Gegenbeispiel diente Augustinus von Hippo, der trotz theologischer Differenzen die persönlichen Kontakte zu bewahren suchte. In einem zweiten Teil des Vortrags wurde der Frage nachgegangen, inwiefern die Methoden der soziale Netzwerkanalyse übernommen werden können, um die weitverzweigten religiösen Netzwerke der Spätantike darzustellen und zu analysieren. Auch der folgende Vortrag blieb der Spätantike verhaftet. Der Vortrag von WOLFGANG SPICKERMANN (Universität Erfurt) behandelte das kulturelle, religiöse und soziale Leben im römischen Nordafrika unter der Vandalenherrschaft. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stand insbesondere das Weiterleben paganer Kulte zur Zeit der Vandalenherrschaft in der ehemals römischen Provinz Africa Proconsularis. Hierbei konnte gezeigt werden, dass bei den verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Vandalen, Berber, Mauren, Provinzialrömer) lange nach der Einführung des Christentums noch im 5. Jahrhundert Relikte paganer Religiosität erkennbar sind. Besondere Beachtung wurde der Rolle des Kaiserkultes und dessen Umdeutung im Vandalenreich geschenkt. Weiterhin wurde erörtert, inwieweit die arianischen Vandalen selbst noch in vorchristlichen Traditionen verhaftet waren. Es konnte gezeigt werden, dass es vor allem auf katholischer Seite Netzwerke gab, die unter der Vandalenherrschaft für ein Weiterbestehen der kirchlichen Organisation sorgten und in Krisenzeiten die Unterstützung von Verfolgten und Betreuung von Gefangenen auch über die Grenzen der Africa Proconsularis hinaus sicherstellten. Es sind sogar gewisse Missionsbestrebung in das vandalisch-arianinische Umfeld hinein erkennbar.

Die Vorträge des ersten Tages beschloss CHRISTIAN NITSCHKE, M. A. (Universität Trier) mit seinen Betrachtungen über "Netzwerkmanagement im Ostgotenreich". Den Rahmen schuf dabei die Religionspolitik Theoderichs des Großen in Italien. Die Toleranz des Gotenkönigs gegenüber Andersgläubigen in seinem Reich wertet NITSCHKE in Einklang mit der neueren Forschung als Ausdruck eines gesteigerten Bewusstseins für politische Notwendigkeiten. Toleranz sei in diesem Sinne nicht nur Ideal gewesen, sondern als Zustand zu deuten, der durch aktive Steuerungsversuche habe bewahrt werden müssen, um ein fragiles soziales Gleichgewicht in einer Welt aus verschiedensten Völkerschaften, gesellschaftlichen Schichten und Interessen zu bewahren und zu festigen.

Ob nun solche Steuerungsmaßnahmen des Königs auch in den sozialen Verflechtungen der römischen Aristokratie nachzuweisen sind, sollte am Beispiel einer netzwerkanalytischen Betrachtung der Konflikte rund um den römischen magister officiorum Boethius veranschaulicht werden; Ereignisse, die nach älterer Forschungsmeinung eine Spätphase der Intoleranz im Ostgotenreich Theoderichs einläuteten. Es zeigte sich, dass dem vor allem als Philosoph bekannten Senator eine zentrale Stellung in seinem strukturellen Umfeld zukam, die ihn aber in Opposition zu genau den Kräften gebracht habe, die Theoderichs Toleranzpolitik vorantrieben. Seine Entfernung aus den sozialen Strukturen dagegen habe es anderen, dem Königshaus näher stehenden Elementen ermöglicht, die entscheidenden Mittlerpositionen zu besetzen. Diese Ergebnisse sollen helfen, die umstrittenen Geschehnisse von der religiösen Sphäre losgelöst zu betrachten und auf diese Weise realpolitischen Erklärungsversuchen mehr Gewicht zu verleihen.

Der zweite Tag stand dann im Zeichen des Mittelalters und der Neuzeit. RICHARD ENGL (Universität Trier) eröffnete den Tag mit seinem Vortrag "Das Ende der Muslime im mittelalterlichen Italien: Überlegungen zu einer hundertjährigen Forschungsfrage". Das Mittelalter wurde, abgesehen vom Judentum, durch die zwei großen monotheistischen Religionen geprägt: Christentum und Islam. Angehörige dieser beiden Großreligionen traten im Nahen Osten, in Spanien und - nicht zu vergessen - in Süditalien in engen Kontakt. Im Süden Italiens waren die Muslime im 11. Jahrhundert dabei unter christliche Herrschaft geraten. Ihre Religion durften sie aber weiterhin frei ausüben und sich partiell selbst verwalten. Ihre hohe Kultur beeinflusste das christliche Königreich Sizilien sogar intensiv. Im Jahr 1300 allerdings wurden sie zerstreut und Großteils in die Sklaverei verkauft. Über die Ursachen dieses Endes der Muslime im mittelalterlichen Italien streitet die Forschung seit einem Jahrhundert. Einige Thesen gehen davon aus, dass entweder königlicher Geldbedarf oder etwa religiöser Eifer dafür verantwortlich waren. Mit Hilfe der sozialen Netzwerkanalyse konnte ENGL eine alternative Erklärung vorschlagen, die historische Quellenaussagen erstaunlich gut abzubilden vermag: Eine genaue Betrachtung der Beziehungen innerhalb wie außerhalb der Religionsgruppen ergibt, dass eine Veränderung von Netzwerkkonstellationen entscheidend für den Untergang muslimischen Lebens im Königreich Sizilien gewesen sein dürfte.

Ein solcher Wandel führte zu Konflikten in der muslimischen Gemeinschaft bis hin zu Tumulten, welche die christliche Herrschaft zu destabilisieren drohten. Erst in dieser Situation eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten reagierte der christliche König mit religiös verbrämter Härte gegen seine zuvor geschätzten muslimischen Untertanen. Eine Epoche Italiens und eine Ära christlich-muslimischer Beziehungen gingen zu Ende; der diesbezüglichen Ursachenforschung konnte der Vortrag dabei neue Impulse geben.

"Kommunikationswege und soziale Netzwerke am Beispiel des Waldkircher Ritualmordverfahrens (1504/05)" zeigt KATHRIN GELDERMANS-JÖRG (Universität Trier). Anschuldigungen gegenüber Juden, religiös motivierte Straf- und Greueltaten begangen zu haben, sind bis in das 20. Jahrhundert nachzuweisen. Auch nach der Mitte des 14. Jahrhunderts und den grausamen Verfolgungen weiter Teile der europäischen Judenschaft zur Zeit des Schwarzen Todes waren entsprechende Verleumdungen weit verbreitet. Der per se widersinnige, da von der Verinnerlichung der christlichen Transsubstantiationslehre ausgehende Vorwurf der Hostienschändung und die zumeist unter Bezugnahme auf das Auffinden ermordeter christlicher Knaben ausgesprochene Beschuldigung des Ritualmordes stellen religiös motivierte Formen von Antijudaismus dar. Das innerhalb des Beitrags besprochene Ritualmordverfahren zog ausgehend von einem Mordvorwurf gegen in der Stadt Waldkirch im Breisgau ansässige Juden die Gefangennahme von Juden im weiteren oberrheinischen Raum einschließlich des Elsass nach sich. In diesem Zusammenhang sind umfangreiche Korrespondenzen zwischen Städten der Vorderen Lande sowie zwischen diesen und christlichen Herrschaftsträgern bis hin zu Kaiser Maximilian überliefert, anhand derer sich weitverzweigte Netzwerke nachvollziehen lassen. Das Auffinden einer Kindsleiche im Umfeld der Osterfeiertage des Jahres 1504 war Auslöser der weiteren Vorkommnisse und Konstellationsbildungen, wobei bestehende Kontakte - wie etwa zwischen den Stadtgemeinden der Vorderen Lande - genutzt, neue Verbindungslinien ad hoc geschaffen oder aber Kontakte abgebrochen, eingestellt und Netzwerkverbindungen gelöst wurden. Das im Zentrum der Untersuchung stehende Akteurset zeigt hierbei untereinander eine Fülle von Relationen auf, von denen etwa herrschaftliche (z.B. um Schutz und Steuer; gerichtliche Zugehörigkeiten), wirtschaftlich-ökonomische (Ressourcenaustausch) und kommunikative Beziehungen (Informationsaustausch) genannt wurden. Darüber hinausgehend wurden auch jene Verbindungslinien aufgezeigt, die ausschließlich auf der Basis von Gerüchten, Verleumdungen oder aber von unter Folter erzwungenen Aussagen - die sich ihrerseits bevorzugt an der umlaufenden fama orientierten - konstruiert wurden und somit als "fiktive Netzwerke" bezeichnet werden könnten.

Um Apostaten und Spione, sprich um "Konversionsagenten in Rom im 17. Jahrhundert" handelte der Vortrag von RICARDA MATHEUS (Deutsches Historisches Institut Rom). Er zeigte einen speziellen Aspekt von religiöser Differenz auf, der seit dem 16. Jahrhundert in weiten Teilen Europas verbreitet war: Der konfessionellen Differenz. Somit zeigte sich, dass nicht die jeweilige Religion ausschlaggebend war, sondern die Organisation der Kirche. Die inhaltliche Auslegung des Glaubens und die kulturelle Ausgestaltung des Christentums standen zur Disposition: Mehrere Konfessionen bzw. konfessionelle Strömungen stritten um den Anspruch, den wahren Glauben zu verkünden, die allein selig machende Kirche zu repräsentieren. Parallel zu den sich im Rahmen von Konfessionalisierungsprozessen ausformenden und verfestigenden Bekenntnisse und (Staats-)Kirchen wurden etliche Versuche zu Bewältigung bzw. Überwindung dieser konfessionellen Differenzen unternommen.

Konversionen stellen eine besondere Form der Überwindung religiöser, konfessioneller Differenz dar. Inwiefern für das Verständnis und die Untersuchung von frühneuzeitlichen Konversionen soziale Netzwerke über konfessionelle Grenzen hinweg eine Rolle spielen konnten, stand im Mittelpunkt der Ausführungen. Nach einem allgemeinen Überblick über das Konversionsphänomen in der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Rom wurden anschließend zwei Ego-Netzwerke vorgestellt. Dabei handelte es sich um die beiden deutschen Konvertiten Kaspar Schoppe und Lukas Holstenius, die im 17. Jahrhundert in Rom agierten und durch ihr Wirken entlang bzw. über konfessionelle Grenzen hinweg Konversionen von Protestanten zum katholischen Glauben förderten, begleiteten und absicherten. Frau MATHEUS untersuchte, ob und inwiefern Netzwerkforschung für die Untersuchung des frühneuzeitlichen Konversionsphänomens fruchtbar gemacht werden kann. Im Rahmen der Darstellung konnten methodische Probleme und Grenzen dieses Ansatzes für die Konversionsforschung benannt und zur Diskussion gestellt werden. Um "Netzwerke katholischer Kirchen- und Katholizismusforscher" ging es im letzten Beitrag von OLAF BLASCHKE (Universität Trier). In seinem bereits abgeschlossenem Projekt stand insbesondere die Teilinstitutionalisierung des Netzwerkes in der Kommission für Zeitgeschichte im Mittelpunkt der Untersuchung. Die 1962 bei der Katholischen Akademie in Bayern gegründete Kommission hat seit 1965 mehr als 100 Forschungsbände und über 50 Quelleneditionen herausgebracht. Es entstand der Eindruck, als sei "Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung" einzig eine Angelegenheit dieser Kommission, doch, so zeigte BLASCHKE auf, gab es in Wirklichkeit auch stets Katholizismusforscher außerhalb von ihr. Ihre Vorherrschaft verdankte die Kommission einem teils bewusst durch Einschluss und Ausschluss wichtiger Akteure gesteuertem Netzwerk. Dessen Genese seit den späten 1950er Jahren wurde nun analysiert. Bereits die Auswertung der Danksagungen und Referenzen der Kommissionsbände aus dem ersten Jahrzehnt offenbarte bestimmte Beziehungen untereinander und etwa zu einigen Bischöfen, vor allem jedoch gewisse Knotenpunkte. Diese Akteure hielten die Schlüsselpositionen der Katholizismusforschung auch außerhalb der Kommissionsarbeit über Jahrzehnte besetzt. Durch die Lektüre des Reihe "Forschungen" der Kommission für Zeitgeschichte (100 Bände), die Erfassung jener Referenzen anhand der Vorworte, eine zentrifugale Datenerfassung der Autorenpopulation, Erforschung wichtiger katholischer Verlage, aber auch durch Expertengespräche und Interviews wurde der Genese dieser Verflechtungen nachgegangen und durch Netzwerkgraphiken eindrucksvoll visualisiert werden.


Veranstalter: Exzellenzcluster der Universitäten Trier und Mainz
Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke, Teilbereich II
"Religiöse Differenz und interkonfessionelle Kooperation"
Datum, Ort: 24.-25. Juni 2010, Trier
Leitung: Prof. Dr. Lukas Clemens (Universität Trier)
Tagungsbericht: Daniel Bauerfeld, M.A. (Universität Trier)

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution103


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Trier, Peter Kuntz, 08.09.2010
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2010