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BERICHT/121: Heikle Machtbalance - Muslime als Hüter der Schlüssel zur Jerusalemer Grabeskirche (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. August 2012

Nahost: Muslime als Hüter der Schlüssel zu Christus - Heikle Machtbalance in Jerusalems Grabeskirche

von Pierre Klochendler


Adeeb Joudeh mit dem Schlüssel zur Grabeskirche in Jerusalem - Bild: © Pierre Klochendler/IPS

Adeeb Joudeh mit dem Schlüssel zur Grabeskirche in Jerusalem
Bild: © Pierre Klochendler/IPS

Jerusalem, 1. August (IPS) - "Ein Gebet klopft an, bis sich die Tür öffnet", singt ein Sänger vor der Grabeskirche in Jerusalem. Drinnen humpelt ein griechisch-orthodoxer Mönch zur Tür, vorbei an dem Stein der Salbung, wo der Überlieferung nach die Leiche von Jesus für die Bestattung vorbereitet wurde. Er öffnet das Guckloch, um zu sehen, wer Einlass begehrt.

"Ismail Somrei", stellt sich der Sänger vor. Der Mönch schiebt eine Leiter durch die Luke. Somrei lehnt sie gegen die Steinmauer und klettert hinauf. Er braucht nur noch die Schlüssel, den ihm Adeeb Jawad Joudeh reicht. Der Hüter der Schlüssel der Grabeskirche stammt aus einer angesehenen palästinensischen Familie - und ist Moslem.

"Seit 1187 sind die Schlüssel in unserer Obhut", erzählt Joudeh. "Meine gesamte Familie steht mit mir an dieser Tür. Dies ist mein zweites Zuhause." Somrei, auch er ein Moslem, ist Joudehs Helfer. Den "Bodyguard der Schlüssel", nennt er ihn scherzhaft.

Die Aufgaben sind genau verteilt. Dabei ist der Schlüsselwächter nicht unbedingt derjenige, der aufschließt. Nachts betätigt sich Somrei zwar auch oft als Türöffner, doch tagsüber lässt normalerweise Wajee Nuseibeh Besucher hinein und hinaus. "Wir haben dieses Amt vom Vater auf den Sohn, von Generation zu Generation weitervererbt", sagt Nuseibeh, der ebenfalls einer bekannten palästinensischen Familie entstammt. Er entscheidet auch, für wen die zwei Vorhängeschlösser geöffnet werden.

Die beiden muslimischen Familien bekamen die Aufgabe, Schlüssel und Tür zu bewachen, weil es innerhalb der Kirche Streitigkeiten gab, die auch heute noch nicht überwunden sind. "Wir kämpfen manchmal gegeneinander, wie Brüder" gesteht der Generalobere der armenisch-apostolischen Kirche, Samuel Aghoyan. "Da die Kirchen nicht miteinander auskamen, wurden die Schlüssel der dominierenden Kirche weggenommen und einer neutralen monotheistischen Glaubensgemeinschaft übergeben - dem Islam."

Die Grabeskirche ist der heiligste Ort des Christentums, an dem Jesus wiederauferstanden sein soll. Viele Pilger sehen die Kirche daher als ihr wichtigstes Ziel. Dem Glauben nach wurde das Bauwerk auf dem Hügel Golgatha errichtet, wo Jesus gekreuzigt wurde, und über der Höhle, in der er begraben wurde.


Kirche von drei christlichen Gruppen bewacht

Vertreter von drei christlichen Glaubensrichtungen wachen über die Kirche. Den größten Teil übernimmt die griechisch-orthodoxe Kirche, die als die mächtigste gilt. Den Franziskanern wird der größte Wohlstand nachgesagt, die armenisch-apostolische Kirche gilt als am wenigsten privilegiert. "Wir verhalten uns zueinander so brüderlich, wie es geht", sagt Pater Aghoyan.

Der Einfluss bemisst sich danach, welche Glaubensrichtung für welchen Teil der Kirche zuständig ist. Abwechselnd weisen die Griechisch-Orthodoxen, die Franziskaner und die Vertreter der armenisch-apostolischen Kirche Pilgern den Weg zu dem Heiligen Grab.

Hinter der Krypta auf der entgegengesetzten Seite der Rotunde schließt Adel Masri ein eisernes Gittertor auf. "Dies ist der heilige Kopf des Grabes", erklärt er. Die aus Ägypten stammenden christlichen Kopten, die wie arme Verwandte der Kirchenwächter wirken, werden bald ihre liturgische Feier an dem Altar abhalten.

"Alles wird nach dem Status quo verwaltet", sagt Pater Aghoyan. So ist das bereits seit 1853, als beschlossen wurde, dass das Gelände der Kirche im Einvernehmen von der christlichen Bruderschaft verwaltet werden sollte. Ein Konsens wird allerdings nur selten erreicht. Fortgesetzte Unstimmigkeiten haben wichtige Renovierungsarbeiten, unter anderem an der Rotunde, verhindert.

Auch Auseinandersetzungen sind eine Realität. Erst vor vier Jahren kam es während des Festes des Heiligen Kreuzes zu einer Konfrontation zwischen griechisch-orthodoxen und armenisch-apostolischen Mönchen. Die israelische Polizei muss häufig einschreiten, um die Streithähne zu trennen.


Komplizierte Vereinbarungen

Der Status quo hat nicht nur komplizierte Vereinbarungen zwischen, sondern auch innerhalb der christlichen Gruppen und muslimischen Familien notwendig gemacht. So wurde unter anderem festgelegt, dass Joudeh die Schlüssel verwaltet und die Familie Nuseibeh das Recht hat, die Türen tagsüber auf- und abzuschließen.

"Der Hüter des Schlüssels darf die Tür nicht anrühren", sagt Nuseibeh. "Er muss vor der Kirche auf mich warten." "Ich gebe ihm die Schlüssel, und er öffnet und schließt die Tür", erklärt Joubeh. "Dann gibt er mir die Schlüssel wieder zurück."

Beobachter stellen fest, dass die Kirchentür, die Schlösser und die Schlüssel ein Spiegel der Machtbalance innerhalb der Kirche sind. Die Fehden, die am Heiligen Grab die ökumenischen Beziehungen zwischen den Kirchen belasten, würden auch das ansonsten brüderliche Verhältnis zwischen den beiden Sprösslingen der beiden bedeutenden palästinensischen Familien belasten - wenn es nicht den Status quo gäbe. (Ende/IPS/ck/2012)


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http://www.ipsnews.net/2012/07/and-how-muslims-hold-the-key-to-christ/

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IPS-Tagesdienst vom 1. August 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2012