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FORSCHUNG/023: Gott im Gehirn? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz 10/2006
Monatshefte für Gesellschaft und Religion

Gott im Gehirn?
Religiosität als neurowissenschaftlicher Forschungsgegenstand

Von Hans-Ferdinand Angel


Neurotheologie ist ein Begriff, der in jüngster Zeit in erheblichem Maße mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Am damit gemeinten Sachverhalt entzündeten sich schnell heftige und grundsätzliche Diskussionen.


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"Neurotheologische" Publikationen finden höchst eigenartige Formulierungen. Andrew Newberg, Eugene d'Aquili und Vince Rause setzen die Frage "Eine Fotografie Gottes?" über das erste Kapitel ihres Buches "Der gedachte Gott" (München 2003), in dem das Experiment mit einem jungen Mann namens Robert vorgestellt wird. Robert ist praktizierender Buddhist und Newberg möchte mittels einer SPECT-Kamera herausfinden, was sich in Roberts Gehirn während einer Meditation abspielt. SPECT (= Single Photon Emission Computed Tomography) ist ein so genanntes bildgebendes Verfahren, mit dessen Hilfe man die Durchblutung des Gehirns abbilden kann und das deswegen Rückschlüsse zulässt, in welchen zerebralen Regionen verstärkte Aktivität zu verzeichnen ist.

Newberg, der an der University of Pennsylvania lehrt, ist gegenwärtig der wohl prominenteste Neurowissenschaftler, der mit dem Ausdruck Neurotheologie in Verbindung gebracht wird. Von ihm (und seinem unlängst verstorbenen Partner d'Aquili) erschien neben der schon genannten Veröffentlichung auch das noch nicht ins Deutsche übersetzte "The Mystical Mind" (1999), in dem das Konzept einer "Neurotheology" vorgestellt und erörtert wird.

Die Wortneuschöpfung "Neurotheologie" geht wohl auf James B. Ashbrook vom Garret-Evangelical Theological Seminary in Evanston zurück, der im Jahr 1984 einen Beitrag für das amerikanische Wissenschaftsjournal "Zygon" mit "Neurotheology" überschrieben hatte (Neurotheology. The Working Brain and the Work of Theology). Seither kursierte der Terminus unter Fachleuten. Die Tatsache jedoch, dass er mittlerweile zu den Modewörtern zählt, hat die Situation verändert.


Mehr Verwirrung als Klarheit

Im allgemeinen Sprachgebrauch produziert der Ausdruck "Neurotheologie" nämlich mehr Verwirrung als Klarheit. Anders als der Name vermuten lässt, geht es der Neurotheologie nicht um Theologie im eigentlichen Sinn, sondern um das Erforschen bestimmter "religiöser" Erfahrungen mittels moderner neurobiologischer Techniken (vgl. Hans-Ferdinand Angel und Andreas Krauss, Der interdisziplinäre Gott, in: Geist & Gehirn Nr. 4, 2004,68-72). Deswegen ist es geradezu kontraproduktiv, dass der Terminus von Newberg/d'Aquili aufgegriffen und in der mittlerweile erfolgten Weise populär gemacht wurde.

Die Absicht von Newberg/d'Aquili ist es hingegen, ein Konzept von "Neurotheologie" zu entwickeln, das sich aus einer neurowissenschaftlichen Perspektive auf die Theologie bezieht. Theologen müssten, so ihre Meinung, bei der menschlichen Erfahrung von Religion ansetzen. In diesem Sinne sehen sie bei religiösen Ritualen und bei Meditationspraktiken ähnliche neuropsychologische Mechanismen im Spiel (The Mystical Mind, 15).

Inhaltlich gibt es verschiedene Ansätze. Einer der "traditionellen" Schwerpunkte ist die neurowissenschaftliche Erforschung der "Meditation" - wobei bislang übrigens vor allem buddhistisch geprägte Meditationspraktiken untersucht werden. Zu den bekannteren Forschern sind hier neben Newberg James Austin und Richard Davidson zu zählen. Die mehr als 800 Seiten umfassende Publikation des Neurologen Austin (Zen and the Brain, 1998) gehörte mit zu den Auslösern des aktuellen "neurotheologischen" Booms. Austin hatte in den Jahren 1974 und 1975 während eines Forschungsaufenthalts in Kyoto Bekanntschaft mit Zen gemacht. Seinem Zen-Lehrer Kobori-roshi hörte er fasziniert zu, als dieser etwa über "inneres Wetter" redete.

Mit dieser Formulierung wollte Kobori-roshi zum Ausdruck bringen, dass es eine Art "Großwetterlage" gibt, die unser Denken, Fühlen und Verhalten beeinflusst. (290). Es gibt Tage, an denen einfach alles grau in grau erscheint und andere, an denen man die Welt wie im Sonnenschein sieht: Was einen gestern massiv gestört hätte, ärgert einen nun relativ wenig. Austin wäre nicht Neurologe gewesen, hätte er diese Weisheit nicht auch mit Theorien seiner Fachdisziplin in Verbindung gebracht.

Wie wirkt sich das "innere Wetter" auf unsere Wahrnehmung, unser Denken aus - und welche Spuren hinterlässt es in unserem Gehirn? Die Frage nach der Verbindung von neurologischen Prozessen und Meditation sollte ihn nicht mehr loslassen. Wie kann es möglich sein, dass die inneren, durch Meditation aktivierten Kräfte geradezu von Begierden oder Sorgen befreien können?

Möglicherweise ist Richard Davidson, der an der University of Wisconsin lehrt, hier auf einer wegweisenden Spur. Wie er in den "Proceedings of the National Academy of Science" (101 [2004]) mitteilt, konnte er bei Untersuchungen mit meditierenden tibetischen Mönchen feststellen, dass deren Gammawellen eine höhere Aktivität als diejenigen der Kontrollgruppe aufwiesen und zudem noch synchronisiert waren. Die Folge eines solchermaßen getakteten Neuronenfeuers ist ein subjektives Erleben von Einheit.


Hängen Gotteserfahrungen mit elektrischer Instabilität im Schläfenlappenbereich zusammen?

Ein anderer "neurotheologischer" Forschungsschwerpunkt kommt aus der Neuropsychopathologie, näherhin der Epilepsieforschung. Der Zugang zum Phänomen des Religiösen geschieht hier - wie häufig in Medizin und Psychologie - gewissermaßen durch die Hintertür, nämlich durch die Beobachtung von Störungen und Anomalien. So waren schon in den sechziger Jahren im Zusammenhang mit religiösen Bekehrungserlebnissen epileptische Störungen in den Blick geraten, die vor allem im Temporallappenbereich ihre Ursache hatten. Der Epilepsie hatten schon die antiken Ärzte spezielle Aufmerksamkeit geschenkt - die hippokratische Schule nannte sie sogar 'hiera nosos' (heilige Krankheit). Gerade sie eröffnete nun einen überraschenden neuropsychologischen Blick auf religiös anmutende Verhaltensweisen, die klinisch bisweilen sogar als "Hyperreligiosität" bezeichnet werden.

Zu den bekanntesten Vertretern dieses Zugangs zählt Michael Persinger, der als Physiologe und Psychologe an der kanadischen Laurentian University in Sudbury tätig ist. Schon 1987 hatte Persinger Ergebnisse von Untersuchen bei Patienten, die an einer so genannten "Temporallappen-Epilepsie" litten, veröffentlicht (Neuropsychological Bases of God Beliefs, New York 1987).

Erst im Sog des aktuell gestiegenen neurotheologischen Interesses wurde auch eine breitere Öffentlichkeit darauf aufmerksam. Persinger hatte festgestellt, dass bei epileptischen Anfällen ein spezieller Bereich des Gehirns, eben die Temporallappen, besonders involviert ist. Er wollte herausfinden, ob man umgekehrt auch "religiöse" Erfahrungen provozieren kann, wenn man die Aktivität in den Temporallappen künstlich hervorruft. Hierfür entwickelte er einen speziell präparierten Helm, mit dem es ihm gelang, die Schläfenlappen seiner Probanden elektromagnetisch zu stimulieren (siehe Geist & Gehirn Nr. 2, 2002, 10). Tatsächlich gaben viele der Probanden das, was sie erlebt hatten, anschließend in traditionell religiöser Sprache zu Protokoll.

Im Eigenversuch probierte der Wissenschaftler seinen "Gotteshelm" sogar selbst aus - und erlebte zum ersten Mal in seinem Leben die "Anwesenheit Gottes", wie er es später formulierte. Persinger folgert daraus, dass Gotteserfahrungen mit vorübergehenden elektrischen Veränderungen im Schläfenlappenbereich zusammenhängen.


Ein genetisch festgelegtes Gottesmodul?

Als Vilayanur Ramachandran, Direktor des Center of Brain and Cognition an der University of California in San Diego, von diesem Selbstversuch durch den Anruf einer Kollegin erfuhr, kam diese Information für ihn nicht völlig überraschend. Lernt doch jeder Medizinstudent, dass Patienten mit epileptischen Anfällen, die in diesem Teil des Hirns entstehen, während der Anfälle oft intensive spirituelle Erfahrungen haben und sich manchmal auch in den Zeiten zwischen den Anfällen eingehend mit religiösen und moralischen Fragen beschäftigen.

Ramachandran hatte selbst schon einmal die Frage gestellt, ob es in unserem Gehirn Schaltkreise gibt, die auf die Gottesfrage spezialisiert sind: "Tragen wir ein 'Gottesmodul' im Kopf?" Und falls es einen solchen Schaltkreis geben sollte, wäre er Ergebnis der natürlichen Selektion, ein menschliches Merkmal also, das im biologischen Sinn so natürlich ist wie die Sprache oder stereoskopes Sehen? Oder ist da "ein tieferes Geheimnis" im Spiel, wie Philosophen, Erkenntnistheoretiker oder Theologen vielleicht meinen würden?

Ramachandran begann, seine Hypothesen durch verschiedene Methoden zu überprüfen, in dem er etwa die galvanische Hautleitfähigkeit nutzte. Als Ergebnis seiner bisherigen Forschungen kann er feststellen, dass wir noch weit von einem Nachweis entfernt sind, dass es im Gehirn ein genetisch festgelegtes "Gottesmodul" gibt. "Trotzdem bin ich fasziniert von der Idee, dass wir überhaupt damit beginnen können, Fragen nach Gott und der Spiritualität naturwissenschaftlich anzugehen" (Vilayanur Ramachandran und Sandra Blakeslee, Die blinde Frau, die sehen kann, 3. Aufl., Reinbek 2002, 304).

Es sind im Übrigen nicht nur die Neurowissenschaften, die sich religiösen Erfahrungen zuwenden. So haben in jüngster Zeit erneut Forschungen aus der Molekularbiologie von sich reden gemacht. Vor allem Dean Hamer beschäftigte sich mit der Frage, ob es nicht ein oder mehrere Gene geben könnte, die für religiöse Erfahrungen des Menschen verantwortlich sind. Er sieht, wenn auch noch nicht Beweise, so doch starke Anhaltspunkte dafür, dass religiöse Erfahrungen auch mit genetischen Faktoren zu tun haben (The God Gene. How Faith Is Hardwired into Our Genes, New York 2004).

Was ist von den neurowissenschaftlichen Forschungen - wenn man einmal von der Etikettierung "Neurotheologie" absieht - zu halten? Der Aachener Theologe Ulrich Lüke konstatiert, dass die "Neurotheologen" offensichtlich das Gehirn bei religiösen Erfahrungen beobachten, um den "ultimativen Gottesbeweis" zu finden. Die große Mehrheit der Neurobiologen ist freilich auf die "entgegengesetzte Hoffnung" aus: "auf eine vollständige Naturalisierung, auf die entnumisierende, neurophysiologische Entzauberung des Gottesgedankens".

Der Berliner Philosoph Dominik Perler ordnet die Neurotheologie einer naturalisierten Religionsphilosophie zu. Insbesondere stößt er sich am Titel von Newbergs "Why God won't go away", der eine Art neurobiologischen Gottesbeweises insinuiere. Demgegenüber verweist er darauf, dass ein Denken an/über Gott nicht als Beweis für Gott als transzendentes Wesen zu nehmen sei.

Offensichtlich wird die "Neurotheologie" von theologischer Seite markant unter dem Thema "Gottesbeweis" wahrgenommen. "Gibt es einen neurobiologischen Gottesbeweis?" fragt auch Friedrich Wilhelm Graf (Brain me up! in: Christian Geyer [Hg.]: Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt 2004, 142-147). Er brandmarkt die überzogenen Deutungsansprüche von Neurotheologen, die meinen, Seriöses über "das Absolute", "die Transzendenz", "das Seinsganze" oder die "Einheit der Wirklichkeit" sagen zu können.

Um die erstaunliche Verve der Reaktionen zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass die philosophische und theologische Rezeption neurotheologischer Aussagen nicht vor einem neutralen Hintergrund erfolgt. Vielmehr kreisen die aktuellen wissenschaftlichen (und in ihrem Gefolge gesellschaftlichen) Kontroversen um Fragen des Verhältnisses von Geist und Gehirn (brain-mind), um Verständnis und Rolle der Evolution, um Reduktionismus und Naturalismus. Einzelne, von den Neurowissenschaften angestoßenen Positionen und Themen sind dabei besonders prekär, wie die Debatte um das Ende des "freien Willens" gezeigt hat.


Persönlichkeitstypologische Unterschiede für religiöse Offenheit?

Das unlängst veröffentlichte Manifest von elf Neurowissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen (Gehirn & Geist Nr. 7/8, 2005) und die ihm entgegengebrachte Kritik zeigt deutlich, in welchem Ausmaß gegenwärtig neurowissenschaftlicher Geltungsanspruch postuliert (und abgelehnt) wird.

Unübersehbar ist, dass die Bezeichnung "Neurotheologie" offensichtlich der gesamten am Phänomen des Religiösen interessierten neurowissenschaftlichen Forschung eine massive Schlagseite verpasste. Dadurch entging der theologischen und philosophischen Wahrnehmung jedoch die Tatsache, dass es zahlreiche naturwissenschaftliche Forschungsinteressen gibt, die im Nahbereich des Religiösen angesiedelt sind, ohne in irgendeiner Weise mit der Theologie in Verbindung zu sein. Es genügt, hier etwa die relativ breit gestreute seriös arbeitende ESP-Forschung (Extrasensory Perception/Außersinnliche Wahrnehmung) zu nennen. Auch lässt der "neurotheologische" Zugang etwa übersehen, dass Meditation auch ohne religiöses oder gar theologisches Erkenntnisinteresse erforscht werden kann. Es wird sogar grundsätzlich in Frage gestellt, dass ein "religiöser" Aspekt für Meditation konstitutiv ist (Amy B. Wachholtz und Kenneth I. Pargament, Is spirituality a critical ingredient of meditation?, in: Journal of Behavioral Medicine 2005, 369-384).

Umso interessanter ist es, dass aus der Meditationsforschung Hinweise darauf kommen, dass es womöglich markante persönlichkeitstypologische Unterschiede für religiöse Offenheit gibt - was auf Konvergenzen zu den Erkenntnissen von Dean Hamer hinzuweisen scheint. Ulrich Ott (Bender Institute for Neuroimaging in Gießen) wies auf dem Kongress "Neurowissenschaft und Religiosität" an der Universität Graz im November vergangenen Jahres (vgl. www-theol.uni-graz.at/neuro) darauf hin, dass es auch von der Absorptionsfähigkeit von Neurotransmittern abzuhängen scheine, warum manche Individuen eher zu mystischen Erfahrungen befähigt sind als andere.

Auch Peter Brugger vom Institut für Neurologie am Universitätsspital Zürich macht Unterschiede in der Persönlichkeit für die Bereitschaft von Personen verantwortlich, aus einem Haufen von Punkten, die von einem Projektor an die Wand geworfen werden, Sinn (Gesichter, Bäume oder ähnliches) herauszulesen. So sind manche Personen mehr als andere in der Lage, Verbindungen zwischen nicht in Zusammenhang stehenden Phänomenen herzustellen oder Bedeutung in Muster hineinzulegen, die vom Muster selbst nicht vorgegeben sind. Mit dieser Fähigkeit spielen Kinder, wenn sie etwa in sich auftürmenden Wolken herangaloppierende Pferde oder Drachen zu erkennen glauben. In der Wissenschaft hat sich für dieses Phänomen der Ausdruck Apophänie eingebürgert. Diese Fähigkeit ist möglicherweise auch beim Glauben an so genannte paranormale Phänomene wirksam. Brugger steht nicht allein mit seiner Vermutung, dass diese in bestimmten Hirnarealen "entstehen". Er sieht diese Fähigkeit sogar in Zusammenhang mit menschlicher Kreativität.


Das naturwissenschaftliche Interesse an religiösen Phänomenen stärker würdigen

Der Schnittbereich "Neurowissenschaft und religiöse Erfahrungen" wird sicher weiterhin von sich reden machen. Zumal es bislang erst sehr wenig experimentelle Befunde gibt. Gegenwärtig scheint sich sogar eine stärkere Vernetzung abzuzeichnen, was dazu führt, dass so disparate Phänomenbereiche wie Todesnaherfahrung, Halluzination, Besessenheit oder Prophetie in den Blick der "Neurotheologie" geraten (vgl. Rhawn Joseph, Neurotheology. Brain, Science, Spirituality, Religious Experience, San Jose 2002).

Dass sich über die Neurowissenschaft ein neuer Trend naturwissenschaftlichen Interesses an religiösen Phänomenen anbahnt, wird in der bisherigen, meist kritischen Rezeption der "Neurotheologie" viel zu wenig positiv gewürdigt. Da sich hier Forschungstraditionen und Wissenssphären begegnen, die kaum mehr rudimentärste Berührung miteinander haben, braucht es nicht zu überraschen, wenn die Kommunikation von Irritationen begleitet ist und ungelöste historische Problemlagen erneut an die Oberfläche treten. Immerhin war die Jahrhunderte währende Beziehungsgeschichte zwischen Naturwissenschaft und Theologie tendenziell häufig genug konfliktuös, begleitet von Verdächtigungen und Missverständnissen.

Kontroversen entzündeten sich an falschen Begriffen, aufgrund ungenügender Kenntnisse der jeweils anderen Seite oder infolge überzogener Interpretationen richtiger Einsichten. Dazu litt die Kommunikation immer wieder an einer mangelnden Sensibilisierung und Klarheit bezüglich der je eigenen Implikationen, an Fehldeutungen der je anderen Intention. Erschwert wurde der Dialog durch missverständliche Formulierungen infolge von Popularisierungen oder infolge der Funktionalisierung von Forschungsergebnissen für wissenschafts- oder machtpolitische Ziele. Die hierbei (negativ) auffallenden Akteure finden sich in beiden Lagern.

Spannungsreich werden die grundlegenden Themen bleiben, etwa das Verhältnis von Erkenntnisinteresse und Wahrheit, von Wissen und Weisheit. Zunehmend brisant werden auch im neurowissenschaftlichen beziehungsweise "neurotheologischen" Bereich ethische Fragen, da technologische Fortschritte immer mehr Manipulationsmöglichkeiten (in positiver wie negativer Absicht) eröffnen. Angesichts eines globalen Wettbewerbs, in dem Wissensvorsprung Wettbewerbsvorteil bedeutet, werden gerade kritische Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler auf Grauzonen und Gefahren der Forschung und erst recht der daraus ableitbaren Optionen aufmerksam machen müssen. Mit ihnen ein konstruktives Kommunikationsklima zu pflegen, ist unverzichtbar.

Das unter "Neurotheologie" subsumierbare Forschungsfeld "Neurowissenschaft und religiöse Erfahrung" ist bislang wissenschaftlich äußerst unpräzise gefasst. Allerdings wäre es sinnvoll, auf die Bezeichnung "Neurotheologie" völlig zu verzichten. Das wäre auch für die Neurowissenschaft entlastend, die nicht "theologisch" vereinnahmt werden kann, selbst wenn sie sich religiösen Phänomenen zuwendet. "Neurotheologie" wäre sinnvoll als "Neurobiologie oder Neuropsychologie der Religiosität" zu decodieren.

Das ist bislang jedoch bedauerlicherweise weder die Sehweise der beteiligten Wissenschaftler noch ihrer Kritiker. Ein Großteil der gegenwärtigen Irritationen würde jedoch mit einer solchen Präzisierung des Forschungsgegenstands verschwinden. Während es für die theologische Reflexion kaum bedeutsam ist, welche Prozesse im Hirn bei religiösen Erfahrungen ablaufen, wären eben diese für ein besseres Verständnis von Religiosität durchaus interessant, oder mehr noch: sich abzeichnende differentialdiagnostische Unterschiede bei der Religiosität von Persönlichkeiten wären geradezu von zentraler Bedeutung für jegliche religiösen Vermittlungsprozesse - auch in Schule oder Gemeinde.

Mit der Forderung, "Neurotheologie" als "Neurobiologie der Religiosität" zu entwickeln, tut sich allerdings ein völlig anderes Problemfeld auf: Es existiert nämlich gegenwärtig so gut wie keine tragfähige Theorie der Religiosität. Ulrich Hemel bringt die Problemlage auf den Punkt, wenn er bezüglich Religiosität das "Paradox einer großen Selbstverständlichkeit des alltäglichen Sprachgebrauchs ohne besondere fachwissenschaftliche Reflexion und Diskussion in Theologie, Philosophie und Religionspädagogik" diagnostiziert. (Art. Religiosität, in: Folkert Rickers und Norbert Mette, Lexikon der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 2001, Band 2, 1839-1844).

Diese Situation ist Folge der europäischen Geistesgeschichte (vor allem seit Reformation und Aufklärung): Der Fokus des Interesses lag auf "Religion", was sich unschwer an zahlreichen Disziplinen ablesen lässt (Religions-wissenschaft, Religions-philosophie, Religions- geschichte, Religions-psychologie, Religions-pädagogik usw.). Demgegenüber gibt es keine Disziplin, die Religiosität als Bestandteil enthält. Aus diesem Grund ist das Interesse der Neurowissenschaft an religiösen Erfahrungen eine exzeptionelle Chance.

Das Erstarken einer "Neurobiologie oder Neuropsychologie der Religiosität" wäre - abseits der neurowissenschaftlichen Einsichten - in erster Linie ein Impuls, eine für neuro- und humanwissenschaftliche Ansätze tragfähige Theorie der Religiosität zu entwickeln (vgl. Angel, Das Religiöse im Fokus der Neurowissenschaft. Die Emergenz von Religiosität als Forschungsgegenstand, in: Angel u. a., Religiosität, Stuttgart 2006). Wenn der Mensch religiöse Erfahrungen macht, wenn er die Stimme Gottes vernehmen kann, dann deswegen, weil er so ausgestattet ist, dass die Ausprägung von Religiosität zu seinen Möglichkeiten gehört.


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Hans-Ferdinand Angel (geb. 1955) ist seit 1997
Professor für Katechetik und Religionspädagogik
an der Karl-Franzens-Universität Graz.
1988 Promotion; 1994 Habilitation.

Weiterführende Literatur

- Angel, Hans-Ferdinand:
Neurotheologie - Die Neurowissenschaften
auf der Suche nach den biologischen Grundlagen
menschlicher Religiosität, in:
Religionspädagogische Beiträge 49 (2002) 107-128

- Angel, Hans-Ferdinand u.a.:
Religiosität, Stuttgart 2006.

- D'Aquili, Eugine und Andrew Newberg:
The Mystical Mind. Probing the Biology
of Religious Experience, Minneapolis 1999.

- Geyer, Christian (Hg.):
Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt 2004

- Joseph, Rhawn: NeuroTheology. Brain, Science,
Spirituality, Religious Experience, San Jose 2002

- Linke, Detlef B.:
Religion als Risiko. Geist, Glaube und Gehirn,
Reinbek 2003

- Neuner, Peter (Hg.):
Naturalisierung des Geistes -
Sprachlosigkeit der Theologie, Freiburg 2003

- Andrew Newberg, Eugine D'Aquili und Vince Rause:
Der gedachte Gott, München 2003

- Ramachandran, Vilayanur und Sandra Blakeslee:
Die blinde Frau, die sehen kann, 3. Aufl., Reinbek 2002


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
60. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2006, S. 513-518
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2007