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STANDPUNKT/087: Zur Problematik multireligiöser Räume (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 10/2010

Jenseits der Religionen?
Zur Problematik multireligiöser Räume

Von Albert Gerhards


Seit einiger Zeit werden zunehmend Räume der Stille eingerichtet, die nicht mit einer konkreten Religion oder Konfession identifiziert werden. Wie sind diese vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussionen über das Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen zu bewerten?


"Schmerzvoller Abschied vom Multikulti" war ein Zeitungsartikel überschrieben, der sich angesichts der "Causa Sarrazin" mit der sozialdemokratischen Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte auseinandersetzte - ein notwendiger Abschied, da die Basis die Politik der Vordenker nicht mehr mitträgt.

Was hier in Bezug auf das gesellschaftliche Leben insgesamt gilt, hat eine Entsprechung im Bereich der Religionen. Auch hier lässt sich eine Entwicklung von einer Offenheit gegenüber dem Anderen hin zu einer stärkeren Profilierung des Eigenen und der Abgrenzung vom Anderen feststellen. Die Frage ist, ob die Stärkung der Identität notwendig mit der Verteufelung anderer Überzeugungen einhergehen muss, oder ob sie viel mehr dazu beitragen kann, von einem gefestigten Standpunkt aus Schritte des Dialogs auf andere Religionen und Weltanschauungen zu wagen.


Die Diskussionen um Moscheebauten der vergangenen Zeit haben die Bedeutung sakraler Räume in unserer Gesellschaft wieder bewusst gemacht, zumal zur gleichen Zeit die Entwidmung und Umnutzung beziehungsweise der Abbruch von christlichen Kultgebäuden in breiterem Umfang diskutiert wurde. Tatsächlich wird an Gebäuden und Räumen manches manifest, was in den Köpfen der Menschen und in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen vorgeht: Sakrale Räume und Zeichen sind Ausdruck religiöser Werteorientierung, die nicht nur für die kleiner werdende Zahl der Kirchensteuerzahler von Belang ist. Dies beweisen das große Interesse am Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden oder das breite Engagement für vom Verfall bedrohte Kirchen in den östlichen Bundesländern.

Neben den von den einzelnen Religionsgemeinschaften getragenen Sakralräumen werden seit einiger Zeit zunehmend Räume der Stille eingerichtet, die nicht mit einer konkreten Religion oder Konfession identifiziert werden, sondern als multireligiöse Räume allen gleichermaßen zur Verfügung stehen (vgl. HK, September 2007, 433 ff.). Bei der Planung und Einrichtung dieser Räume entsteht oft eine Diskussion darüber, ob und in welchem Maße die Symbole einzelner Religionen dort ihren Platz finden sollen. Man findet solche Räume inzwischen an unterschiedlichster Stelle: in Parlamenten, Stadien, Krankenhäusern und Alteneinrichtungen, Schulen, Firmen, Einkaufszentren und Behörden, selbst in Polizeipräsidien. Inzwischen gibt es kunsthistorische und theologische Untersuchungen über dieses Phänomen, die sich um eine Klassifizierung solcher Orte bemühen.


Eine Kapelle von Peter Zumthor in der Eifel

Die 14. Internationale Theologisch-Kunsthistorische Studienwoche im Franz-Hitze-Haus in Münster befasste sich jetzt unter dem Thema "Oratorien, Kapellen, Räume der Stille. Orte der Frömmigkeit und Feier außerhalb der Kirchenräume" mit diesen Fragen. Ausgangspunkt waren die klassischen Frömmigkeitsorte wie liturgisch genutzte Nebenräume frühchristlicher Kirchen, mittelalterliche Grab- und Andachtskapellen, Krankenhauskapellen, Bildstöcke und Wegkreuze. Auch bestehende Kirchenräume können als Orte der Stille dienen. Dazu ist es vor allem notwendig, dass sie auch geöffnet sind. Neue Dimensionen gewann das Themenspektrum in Münster mit dem Blick auf Abschiedsräume der Trauer und Klage sowie Künstlerkapellen des 20. Jahrhunderts.


So wurde im Mai 2007 am Nordrand der Eifel eine Feldkapelle eingeweiht, die alsbald zu Weltruhm gelangen sollte. Die Erbauer, das Ehepaar Hermann-Josef und Trudel Scheidtweiler, hatten sich in den Kopf gesetzt, als Architekten für ihre dem Schweizer Nationalheiligen Nikolaus von der Flüe gewidmeten Kapelle keinen Geringeren als den Schweizer Stararchitekten Peter Zumthor zu verpflichten. Tatsächlich kam die Liaison zu Stande, ein ähnlich Zeit raubendes Unterfangen wie die parallel in Köln errichtete Museumsarchitektur Kolumba. Die Bauherren waren bereit, den weiten Weg von der Vorstellung einer der Tradition verhafteten konventionellen Andachtskapelle bis hin zum realisierten beispiellosen Bauwerk mitzugehen.

An einem Punkt geriet das Projekt jedoch in die Krise, nämlich als der Architekt statt einer Andachtskapelle einen unspezifischen Raum der Stille vorschlug. Die Konfliktlinie war klar: auf der einen Seite die von der katholischen Landvolkbewegung geprägte Vorstellung einer Votivkapelle, auf der anderen Seite die Suche nach architektonischen Formen, die ohne explizit religiöse Bindung das Gefühl von Sakralität vermitteln. Die Aufgabe lag aber gerade darin, zwischen den beiden Positionen zu vermitteln. Dies bedeutete einerseits eine klare religiöse oder auch konfessionelle Verortung, andererseits eine Offenheit, die Andersgläubigen oder religiös nicht Festgelegten die Luft zum Atmen lässt.

Am 6. Juli 2002 schrieb ich an Peter Zumthor: "Die Idee, einen ganz neuen Zugang zu diesem Thema zu finden, hat mich sofort fasziniert. An Ihrem Entwurf gefällt mir neben der zu erwartenden Wirkung innerhalb der Voreifel-Landschaft die Dichte und Offenheit des Raumkonzepts, wie es für unsere Zeit sicher angemessen ist. Nur so kann eine Kapelle auch für die zunehmende Zahl der Mitmenschen einladend wirken, die keine konfessionelle oder religiöse Prägung mehr mitbekommen haben, gleichwohl aber auf der Suche nach spirituellen Räumen sind. (...) So sehr mich das Gesamtkonzept gerade in seiner Offenheit anspricht, so sehr habe ich doch Bedenken, auf jede Konkretisierung [in Bezug auf christliche Inhalte und Symbole] zu verzichten.

In Ihrem Zeit-Interview hatten Sie von dem zweifachen Bedürfnis gesprochen, sich neu zu formulieren und sich in eine Tradition hineinzubegeben. Zu Recht weisen Sie Kopien zurück. Nun sucht aber Volksreligiosität Konkretes und will Vertrautes wiedererkennen. Im klassischen Sinn war dies immer die Ausrichtung auf ein Bild oder ähnliches. Eine erklärende Inschrift an der Außenseite oder im Eingangsbereich kann dies wohl kaum leisten. Möglicherweise würde eine Offenheit, die keinen Referenzpunkt hat, mit Beliebigkeit verwechselt werden, was ja nicht gemeint sein kann. Meines Erachtens besteht die Aufgabe darin, Tradition (in diesem Fall die einer Andachtskapelle) zu übernehmen und zugleich zu transformieren. Dies sehe ich im Prinzip bei Ihrem Entwurf in hohem Maße gegeben, meine aber doch, Herrn Scheidtweiler in seinem Anliegen unterstützen zu sollen, eben jene Konkretisierung angemessen umzusetzen."


Wie auch immer die Entscheidung zu Stande gekommen sein mag - die letztendlich gefundene Lösung ist überzeugend. Der Baukörper erinnert in keiner Weise an einen christlichen Sakralbau. Erst das kleine griechische Kreuz über dem dreieckigen Eingang weist das Gebäude als ein christliches aus. Auch das Innere ist nur sehr verhalten als christlicher Raum gekennzeichnet, eigentlich nur Kennern unmittelbar zugänglich. Das bronzene Meditationsrad des Nikolaus von der Flüe an der dem Eingang gegenüberliegenden Seite ist erst wahrnehmbar, nachdem sich die Augen an das gedämpfte Licht gewöhnt haben. Eine damit in Korrespondenz stehende Halbfigur auf einer Stele (ein Bronzeguss des Schweizer Künstlers Hans Josephsohn) ist ikonographisch nicht festgelegt.

Nur aus dem Gesamtkontext heraus kann man sie als eine Darstellung des Schweizer Nationalheiligen deuten. Eine kleine Sitzbank neben dem Kerzenständer bringt den Betrachter in dieselbe meditative Ausrichtung wie die Figur, wobei die Vertikale im Raum durch die Lichtöffnung in der Decke beherrschend bleibt. Wer möchte, kann die zunächst offene Situation der Meditation durch Gebetshilfen in Form von Faltblatt und Stundenbuch konkretisieren. Die zahlreichen Einträge in das Gästebuch zeugen von der Offenheit dieses Konzepts, das zugleich die Möglichkeit der christlichen Deutung in Richtung der ursprünglichen Intention der Kapelle enthält.

Bei der Bruder-Klaus-Kapelle handelt es sich also nicht um einen multireligiösen Raum im eigentlichen Sinne, auch wenn die christliche Symbolik darin auf ein Minimum reduziert ist. Nicht zuletzt wird der durch die feierliche Einsegnung markierte kirchliche Charakter durch gelegentliche Gottesdienste zum Ausdruck gebracht. Dennoch ist dieser Raum offen für die Gottesbeziehung anderer Religionen, und wer sich als Christ dessen bewusst ist, kann dies durchaus als Bereicherung für sein eigenes Beten erfahren.


Beten im Angesicht anderer Religionen

Das kürzeste Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Erklärung über die nicht-christlichen Religionen "Nostra aetate", war zugleich eines der folgenreichsten. Es hat das Verhältnis der katholischen Kirche zu allen anderen Religionen grundlegend neu bestimmt und darüber hinaus Impulse für die christliche Ökumene im Hinblick auf den interreligiösen Dialog gegeben. Die Konzilserklärung trug einige Jahre später ihre Früchte in der Neufassung der Karfreitagsfürbitten, in denen nun nicht mehr für die Bekehrung der "ungläubigen Juden" gebetet wird, sondern, dass Gott sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen bewahre, "damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will".

Infolge der Neubestimmung des Verhältnisses der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, insbesondere zu den beiden anderen monotheistischen Religionen, hat vor allem Johannes Paul II. den Kontakt zu den anderen Religionen gepflegt, der im interreligiösen Weltgebetstreffen für den Frieden am 27. Oktober 1986 in Assisi einen Höhepunkt erfuhr, das Maßstäbe setzte und zugleich kontroverse Diskussionen auslöste.

Im September 1986, also kurz vor dem Assisi-Gebet, fand in Aachen der 89. Deutsche Katholikentag statt. 1987 wurde eine Auswahl exemplarischer Gottesdienste veröffentlicht, darunter ein "Hoffnungsgang von Juden und Christen", ein "Weltgebet der Religionen für den Frieden" sowie eine "Christlich-jüdische Gemeinschaftsfeier". Das Weltgebet der Religionen war nach dem Modell der Gastgeber organisiert in Anlehnung an Assisi 1986. Im Eröffnungsgebet hieß es: "Schöpfer der Welt, Gott voller Barmherzigkeit und Liebe. Du Quelle des Lebens, Du Urgrund alles Seienden; wir rufen Dich an mit Deinen vielen Namen: Gott unser Vater, unsere Mutter, Allah, Parmeshwar, Satichdandand, Ahura Mazda, Adonai Elohenu" (Albert Gerhards u. a.: Feier-Formen. Impulse für Gottesdienstgestaltung vom Aachener Katholikentag 1986, Aachen 1987, 127).

An den Gottesnamen wird deutlich, dass keine Trennungslinie zwischen den drei so genannten monotheistischen Religionen und den asiatischen Religionen Indiens und Persiens gezogen wurde. Dennoch gab es kein Miteinander-Beten im ausdrücklichen Sinn.


Heute erscheint vieles von dem, was vor rund 20 Jahren noch möglich war, kaum mehr möglich. Das zweite (und bisher letzte) Treffen von Repräsentanten der Weltreligionen in Assisi im Jahr 2002 konnte den Standard des ersten nicht mehr halten: Man betete gleichzeitig, aber an getrennten Orten.

Die Regression hat verschiedene Gründe. In erster Linie ist wohl die Politisierung der religiösen Frage unter dem Eindruck der pseudo-religiösen Legitimation von Gewalt und Terror zu nennen. Nicht von ungefähr bezieht sich die Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz von 2003 auf den 11. September 2001. Zum anderen hat die pluralistische Religionstheologie in den christlichen Kirchen inzwischen eine Gegenbewegung hervorgerufen, die die Unterschiede wieder stärker betont. So lautete ein Artikel der Zeitschrift "Communio": "Schluss mit den 'drei Monotheismen!'" (36 [2007] 98-113).

Rémi Brague wendet sich darin gegen die Methode, "gemeinsame Elemente herauszufiltern, über die man einig ist, um einen friedlichen Dialog zu ermöglichen." Damit werde mehr Verwirrung als Klarheit geschaffen und das Gegenteil von dem Erhofften erreicht. "In der Tat sollte man damit beginnen, den anderen zu respektieren, wenn man einen wahrhaften Dialog anstrebt. Dies impliziert auch, seine Worte so aufzufassen, wie er sie gebraucht, die anfängliche Situation der Uneinigkeit zu akzeptieren, um zu versuchen, aus dieser Situation heraus zu einem besseren Verständnis zu gelangen" (113).

Damit ist die Aussage des Konzils, dass Juden, Christen und Muslime zu einem und demselben Gott beten, nicht außer Kraft gesetzt. Das Wissen um die Gemeinsamkeit des Gottesgedankens kann den Respekt für die anderen Religionen und zugleich das Verständnis der eigenen stärken. Aus Respekt und Selbstgewissheit heraus erscheint es möglich, bei entsprechendem Anlass multireligiös zu beten. Freilich bewegt man sich hier noch auf einem theologisch gesicherten Terrain. Stärkere Differenzierungen sind nötig hinsichtlich der fernöstlichen Religionen wie Buddhismus und Hinduismus sowie der so genannten Naturreligionen. Doch stellt sich im Horizont der Erklärungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und unter Berücksichtigung der seitdem fortgeschrittenen Entwicklung verstärkt die Frage, ob Multireligiosität und konfessionelle Identität einander ausschließende Gegensätze oder doch Polaritäten sind, die miteinander in Beziehung gesetzt werden können.


Zur Klassifizierung multireligiöser Räume

In einem Beitrag "Multireligiöse Andachtsräume - eine Problemanzeige. Theologische und interreligiöse Perspektiven" im Themenheft "Multireligiöse Gebetsräume" der Zeitschrift "Kunst und Kirche" (Nr. 2/ 2010) nimmt Karl-Josef Kuschel eine Klassifizierung multireligiöser Räume vor. Ausgangspunkt sind die Gebetsräume im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York von 1957 sowie im Deutschen Bundestag in Berlin von 2007. Eigenart beider Räume ist, dass sie von Menschen aller religiösen Überzeugungen und spiritueller Bedürfnisse gleichzeitig und gleichberechtigt genutzt werden können und sollen. Damit unterscheiden sich diese Räume von erstens ökumenisch offenen kirchlichen Räumen, zweitens von monotheistisch konzentrierten Räumen, drittens von Räumen ohne religiöse Symbole und viertens von so genannten "offenen und identitätssichernden" Räumen.

Letztere sind zweigeteilt. Neben einem Zentrum mit universal-religiöser Bedeutung gibt es für unterschiedliche Religionen je eigene Ecken oder Nischen, in denen die spezifischen Symbole und Handlungen der Religionen einen Ort haben. Ein solcher Raum existiert zum Beispiel im Seemannsclub des Hamburger Hafens, wobei das Christentum hier die gastgebende Religion ist.

Demgegenüber sind multireligiöse Räume ungeteilt, programmatisch konzipiert für Menschen aller Religionen. Dabei wird auf religiöse Symbole nicht verzichtet, wohl aber werden solche gewählt, die von Menschen aller Religionen verstanden werden. Ein Charakteristikum ist die Stabilität der Einrichtungen gegenüber wechselnden Ausstellungen.

Universalreligiös deutbare Symbole sind zum Beispiel: "die Nutzung der Gleichzeitigkeit von Licht - Schatten - Dunkelheit (...) kubische Blöcke, die im Wandel der Zeiten Dauer, Solidität, Zuverlässigkeit symbolisieren; ungegenständliche Bilder, die ein Vielfaches an eigener Produktion und Freiheit der Assoziationen erlauben; der Einsatz von elementaren Dingen, die zu All-Symbolen werden: Wasser, Stein, Hocker, Kerze, Kreis, Blume und ähnliches" (10).


Die aufgezählten Elemente Kuschels lassen sich fast vollständig in der Bruder-Klaus-Kapelle in der Eifel wiederfinden, was erklärt, warum dieser Raum auf so breite Akzeptanz stößt. Doch unterscheidet sich die Feldkapelle von multireligiösen Räumen durch ihre wenn auch zurückhaltende christliche Signatur. Selbst ein eher skeptischer katholischer Besucher wird ohne große Probleme in diesem Raum beten können, obwohl er die ihm gewohnten Symbole und Identitätsmarker für einen katholischen Andachtsraum nicht oder nur in sehr geringem Maß aufweist.


Wie aber verhält es sich mit wirklich offenen, das heißt multireligiösen Räumen? Die Kunsthistorikerin und Architektin Sabine Kraft stellte auf der Münsteraner Tagung solche Räume vor, insbesondere das "Haus der Stille" in einer neuen Studentenwohnanlage der Universität Frankfurt. Ist die Mehrdeutbarkeit der dort möglicherweise vorhandenen Symbole, der Verzicht auf ein Kreuz, ein Marienbild oder eine andere christliche Darstellung ein unüberwindliches Handikap? Müsste nicht im Sinne der so genannten "offenen und identitätssichernden Räume" wenigstens in einer Nische ein christliches Symbol angebracht sein?

Auch gegen den von Günther Uecker gestalteten Andachtsraum im ehemaligen Reichstagsgebäude wurde Kritik laut, da dieser kein fest installiertes Kreuz aufweist. Kuschel plädiert demgegenüber für eine kritisch-selbstkritische Differenzierung: Die Existenz multireligiöser Räume ist zum einen eine Reaktion auf und eine Herausforderung für einen ästhetisch und spirituell oft flachen eindimensionalen Säkularismus. Es geht dabei um ein ganzheitliches Menschenbild gegen die politische und ökonomische Reduzierung des Menschen. Hier gibt es eine weltweite Koalition religiöser Menschen, die bei der Gegenseite nicht selten auf Verwunderung stößt, etwa wenn die Kirchenleitungen den Bau von Moscheen samt Minaretten befürworten. Damit ist im Grunde die Debatte um das Sakrale im säkularen Kontext angesprochen.

Die Existenz multireligiöser Räume ist aber zum anderen auch eine Reaktion auf und eine Herausforderung für einen kirchlichen Traditionalismus. Hier geht es um eine Offenheit, die gleichwohl nichts mit Relativismus, wohl aber mit der Sehnsucht nach Symbiose und Empathie zu tun hat - angesichts des Reichtums religiöser Erfahrungen. Diese Haltung steht im Widerspruch zu einer, wie Kuschel sagt, Überkomplexität von Lehren, Riten und Regeln, die Menschen abstoßen, nicht geistig-geistlich bereichern.


Das gemeinsam Mögliche tun

Multireligiöse Räume und monoreligiöse Räume sind schließlich nicht gegeneinander auszuspielen, können sich vielmehr komplementär ergänzen. Diese Maxime richtet sich gegen einen polemisch abwertenden Dualismus und einen alles Gewordene überspringenden mystischen Universalismus gleichermaßen. Mit der Figur der Komplementarität wird die "chalkedonische Formel" formuliert für das Verhältnis von multireligiösen Räumen als "spirituell-religiöse Kontaktstellen" und monoreligiösen Räumen als "spirituelle Heimatorte".

Sie haben unterschiedliche Funktionen, die einander ergänzen: "Spirituelle Kontaktstellen sind multireligiöse Räume gerade auch durch ihre Konzentration auf elementare und universale Symbole, ihre Verwendung offener Bilder, ihren bewussten Verzicht auf das Wort und damit auf heilige Texte; auf spezifische Riten und damit auf Liturgien; auf heilige Handlungen und damit auf Sakramente. Monoreligiöse Räume aber sind Räume, verpflichtet einer konkreten Glaubensgemeinschaft und Glaubensgeschichte, in denen das Universal-Religiöse (Gott als Geheimnis der Welt) sich in der Konkretion einer Geschichte Ausdruck verschafft und die Erinnerung daran wach gehalten wird durch Schriftlesung, Liturgie und Spendung heiliger Zeichen" (11).


Damit sind auch einige Anhaltspunkte für die Beurteilung des Gebets in solchen offenen Räumen gegeben. In jedem Fall ist eine konfessionelle Verankerung der Verantwortlichen Voraussetzung, wozu auch die Beheimatung in monoreligiösen Räumen gehört. Damit ist auch bei bestimmten Anlässen an ein interreligiöses Gebet in solchen Räumen nach dem Modell von Assisi 1986 zu denken.

Ein solches Gebet unterscheidet sich jedoch grundlegend von den je eigenen Traditionen des Gottesdienstes. Das ist eines der von Kuschel formulierten Kriterien für die Unterscheidung zwischen multireligiösen und monoreligiösen Räumen. Dem persönlichen Beten in multireligiösen Räumen steht grundsätzlich nichts entgegen. Das Gebet ist nicht an bestimmte Zeichen und Räume gebunden, sondern ist an jedem Ort möglich. An einem Ort mit religiöser Symbolik, wie sie für multireligiöse Räume vorgesehen ist, sollte dies besonders leicht fallen. Zu Recht weist Kuschel darauf hin, dass die Komplementarität von multi- und monoreligiösen Räumen und der jeweiligen geistlichen Vollzüge darin nicht zu einer Verflüchtigung des Monoreligiösen führen muss, sondern Anlass zu Konkretisierung und Vertiefung sein kann.

Das Bewusstsein darum, dass auch Menschen anderer Religionen beten, opfern, tanzen, singen, Feste feiern, Heilszeichen kennen, Rituale praktizieren, kann die eigene Glaubenspraxis bereichern. Leider wird dies innerhalb der christlichen Liturgie fast nicht thematisiert. Auch die erneuerte Fürbitte am Karfreitag "Für alle, die nicht an Christus glauben" wertet die Gottesbeziehung der Mitglieder anderer Religionen nicht eigentlich positiv. Immerhin wird die Glaubenspraxis anderer Religionen nicht mehr als Idolatrie bezeichnet wie in der älteren Form, die durch die Freigabe des "älteren Usus" allerdings wieder in Geltung ist.


So bleibt ein zwiespältiges Bild, das der gegenwärtigen Praxis entspricht, die kaum auf einen Nenner zu bringen ist. Im Hintergrund steht die Angst vor Identitätsverlust. Ängstlich ist man bemüht, jeglichen Berührungspunkt im Bereich der Religionsausübung zu vermeiden. Allenfalls in karitativen und sozialen Bereichen arbeitet man zusammen. Demgegenüber gilt auch hier das Wort aus der Erklärung zu den nicht-christlichen Religionen: "Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist" (NA 2).

Ähnlich wie im Bereich der christlichen Ökumene gilt aber auch hier das Prinzip, einerseits die Grenzen anzuerkennen, andererseits alles zu tun, was an Gemeinsamem möglich ist. Im Bereich der Religionen ist die Schnittmenge natürlich wesentlich kleiner als innerhalb der christlichen Ökumene. Hinter das Zweite Vatikanische Konzil und hinter Assisi 1986 muss man aber nicht mehr zurückgehen - auch nicht bei der Gestaltung von Räumen der Stille.


Albert Gerhards (geb. 1951) ist seit 1989 Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Von 1984 bis 1989 war er Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum. Zahlreiche Publikationen besonders in den Bereichen Geschichte, Theologie und Praxis der Liturgie.


Literatur
Die Deutschen Bischöfe: Leitlinien für multireligiöse Feiern von Juden, Christen und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe, 25. Januar 2003 (Arbeitshilfen 170)
Die Friedensgebete von Assisi. Einleitung von Franz Kardinal König. Kommentar von Hans Waldenfels, Freiburg 1987
Albert Gerhards, Eine Kapelle für Bruder Klaus, in: CIG im Bild 18 (2007) 90-93
Sabine Kraft, Räume der Stille, Marburg 2007
Karl Josef Kuschel: Multireligiöse Andachtsräume - eine Problemanzeige. Theologische und interreligiöse Perspektiven, in: Kunst und Kirche 73 (2010) 5-11
Michael Ulrich: Juden, Christen und Muslime rufen den einen Gott an und die christlichen Bekenntnisse über Gott-Vater, Sohn und Heiligen Geist, Münster 2005

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2010, S. 526-530
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2010