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STANDPUNKT/026: "Historische Kontexte stärker berücksichtigen" (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 7/2008

"Historische Kontexte stärker berücksichtigen"
Ein Gespräch mit dem Islamwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid

Die Fragen stellte Stefan Orth


Für das Verhältnis des Islams zur Moderne ist die Frage entscheidend, inwieweit der Koran interpretiert werden darf. Was sind die Erkenntnisse gegenwärtiger Koranhermeneutik? Und warum werden die Überzeugungen moderater Muslime nicht stärker Allgemeingut? Darüber sprachen wir mit Nasr Hamid Abu Zaid, der in Utrecht Islamwissenschaften lehrt.


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HK: Herr Professor Abu Zaid, vor kurzem haben der Vatikan und schiitische Theologen eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht. Darin heißt es unter anderem, dass für die Interpretation der jeweiligen Heiligen Schriften die adäquate hermeneutische Methode von großer Bedeutung sei. Sie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mit dieser Frage intensiv beschäftigt. Was ist Ihr Ansatz der Korandeutung?

ABU ZAID: Ich versuche, bestimmte Elemente des klassischen wie des modernen muslimischen Denkens weiterzuentwickeln, um die Natur des Korans besser verstehen zu können. Um was für eine Art Text handelt es sich überhaupt? Wir alle wissen, dass in den Heiligen Schriften der verschiedenen Religionen das Göttliche und das Menschliche aufeinandertreffen. In der Geschichte der islamischen Theologie hat man lange Zeit den göttlichen Aspekt überbetont, so dass der menschliche verschattet wurde. In der Frühzeit, vom neunten bis zum zwölften Jahrhundert, wurde viel darüber gestritten, welcher Aspekt bei der Betrachtung des Korans wichtiger ist. Deshalb spielte im klassischen islamischen Denken die Debatte über das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft eine sehr große Rolle. Aber in den Jahrhunderten danach stand vor allem die göttliche Dimension des Korans im Mittelpunkt.

HK: Auch nach dem Ende dieser Blütezeit des islamischen Denkens hat es doch differenzierte religionsphilosophische Überlegungen gegeben...

ABU ZAID: Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Reformversuche, um zur Balance des Anfangs zurückzukehren. Dabei ging es darum, den historischen Kontext, die sozialen Umstände und die sprachliche Gestalt bei der Auslegung wieder stärker zu berücksichtigen. Es wurde unterschieden zwischen der Offenbarung selbst und der Art und Weise ihrer Interpretation wie der Neuinterpretation im Verlauf der wechselvollen Geschichte. Auch mir geht es darum, der Bedeutung des Interpreten zu ihrem Recht zu verhelfen.

HK: Sie haben zu diesem Zweck relativ früh den Austausch mit westlichen Denkern gesucht, um den Islam besser zu verstehen. Welche Ansätze haben Sie dabei als besonders fruchtbar empfunden?

ABU ZAID: Natürlich habe ich viel von der modernen Hermeneutik gelernt. Entscheidend ist die Einsicht in die dynamische Beziehung zwischen den Schriften und ihrer Interpretation, den Charakter des Gesprächs zwischen beiden. Für meine Koranhermeneutik greife ich deshalb auf Hans Georg Gadamer und seinen Traditionsbegriff in "Wahrheit und Methode" zurück. Mit der Hermeneutik und der modernen Linguistik kam ich in den siebziger Jahren in Kontakt. Ich hatte ein Stipendium an der University of Pennsylvania und arbeitete für meine Doktorarbeit über die Hermeneutik von Ibn Arabi, einem der großen Sufi-Denker. Mich interessiert die hermeneutische Diskussion letztlich aber nur insoweit, als sie mir hilft, die islamische Tradition auszulegen.

HK: Die moderne Hermeneutik hat sich nach der linguistischen Wende in der Philosophie intensiv mit der Unterscheidung zwischen Rede und Text beschäftigt. Welche Konsequenzen folgen aus dieser Differenz bei der Auslegung des Korans?

ABU ZAID: Ohne groß darüber nachzudenken, bin ich am Anfang meiner Studien den bis heute vorherrschenden Traditionen des Islam gefolgt, die den Koran einfach als Text verstanden haben. Ich habe diese Überzeugung sogar selbst gegenüber anderen entschieden verfochten. In den siebziger Jahren ging mir dann der Unterschied zwischen Rede und Text auf, der gerade für die Offenbarung des Korans von Bedeutung ist. Jeder weiß, dass der Koran Mohammed nicht als Buch übergeben wurde, wie etwa Moses auf dem Berg Sinai die von Gottes Hand geschriebenen Zehn Gebote. Mohammed wurde der Koran in unzähligen Zusammenkünften offenbart. Das war ein Prozess, der 612 begann und mit seinem Tod mehr als 20 Jahre später endete, ohne dass wir genau wissen, wie oft es dazu kam. Die Art der Rede unterscheidet sich von Mal zu Mal.

HK: Dem Koran wäre demnach auch so etwas wie ein dialogisches Offenbarungsverständnis eigen?

ABU ZAID: Ja, so muss man es sehen - gerade weil der menschliche Aspekt im Prozess der Offenbarung sehr wichtig ist. In diesem sehr komplizierten Dialogprozess gibt es Überredungsversuche, Polemik und Widerspruch. Es ist im Koran selbst sehr offensichtlich, dass auch Mohammeds gesamte Anhängerschaft dabei eine große Rolle spielte. Da gibt es Sätze wie: Sie haben Dich gefragt, Du sagst ihnen. Ich bin deshalb heute davon überzeugt, dass wir den Koran nicht einfach nur als einen Text betrachten dürfen, sondern als eine Sammlung von Reden. Wir müssen aber bei jeder Rede jeweils schauen, wer da gerade spricht. Und wer sind die Zuhörer? Um was für eine Art Rede handelt es sich? Es geht nicht nur darum, zum historischen Text zurückzukehren, sondern auch zu dessen komplizierter Struktur. Mit einem solchen Zugang zum Koran verstehen wir ihn und das, was damals eigentlich passiert ist, besser. Wichtig ist dabei nicht zuletzt die Frage, ob die Art und Weise der Rede unserer Zeit etwas offenbaren mächte oder ob sie einfach dem historischen Kontext der Offenbarung geschuldet ist. Diese Unterscheidung ist keine leichte Aufgabe, auch weil es gar nicht einfach ist, jeweils die einzelnen Reden zu identifizieren.

HK: Warum ist die literarkritische Analyse im Fall des Korans so schwer?

ABU ZAID: Als die Texte des Korans von den frühen Muslimen kanonisiert wurden, um wie die Juden und die Christen ein Buch zu haben, wurde die chronologische Reihenfolge der Reden nicht bewahrt. Es wurden Passagen zusammengestellt, die zu verschiedenen Kontexten gehörten. Sie wurden in Kapiteln arrangiert, und diese wiederum zu einem Buch, das heute der Koran ist. Wissenschaftler, unter Beteiligung einiger aus der westlichen Welt, haben immerhin die Chronologie der Kapitel wieder rekonstruieren können. Heute können wir die Passagen aus der Mekka-Periode von denen der Medina-Periode unterscheiden. Es ist sogar möglich, wenn auch nicht mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit, zwischen der frühen, der mittleren und der späten Phase in Mekka zu differenzieren. Um auch die Chronologie innerhalb der Kapitel wieder herzustellen, muss allerdings noch sehr viel geforscht werden.

HK: Was ist, wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass der Koran auch Menschenwort ist, die göttliche Dimension der Offenbarung? Was lässt sich über das, was Sie "Offenbarung selbst" genannt haben, sagen?

ABU ZAID: Das ist keine leichte Frage. Natürlich geht es um die Botschaft, die Mohammed empfangen hat. In jedem Fall ist der Koran eine Sammlung von Offenbarungen, die im ersten Jahrhundert nach Mohammed abgeschlossen wurde. Inwieweit aber ist auch Mohammed für die Gestalt der inspirierten Reden verantwortlich? Ich habe mich in diesem Zusammenhang viel mit dem arabischen Begriff "wahy" auseinandergesetzt. "Wahy" bedeutet geheimnisvolle Kommunikation. Schon in der vorarabischen Sprache wie dann auch in der Sprache des Korans meint dieser Begriff die nonverbale Kommunikation zwischen zwei Wesen, die von unterschiedlicher Seinsweise sind. Die Araber glaubten beispielsweise, dass übernatürliche Wesen, Dschinn genannt, für die Poesie zuständig sind und die Dichter inspirieren. Die Vorstellung einer Kommunikation zwischen Wesen verschiedener Seinsweisen gab es also auch schon in vorislamischer Zeit. Ausgehend von dieser Vorstellung einer nonverbalen Kommunikation lässt sich erklären, was es bedeutet, dass Mohammed inspiriert war.

HK: Auf welche weitere muslimischen Traditionen können Sie sich beziehen, um für Ihren hermeneutischen Ansatz der Koranlektüre zu werben?

ABU ZAID: Zentral ist der Sufismus, dessen Überzeugungen den Interpretationsprozess der Heiligen Schriften öffnen. Von Anfang an basiert der Sufismus auf der persönlichen spirituellen Erfahrung. Obwohl es bestimmte Regeln gibt, hat nach der Überzeugung dieser Mystiker jedes Individuum seinen eigenen Weg, mit dem Kosmos und dem Göttlichen zu kommunizieren und diese zu interpretieren. Der Koran ist Rede Gottes, aber der Sufi betrachtet diese, als sei sie an ihn selbst ergangen. Sein spezifischer Weg der Lektüre ist von besonderer Bedeutung. Deshalb betont der Sufismus auch, dass es immer eine Vielfalt möglicher Deutungen gibt - ohne den normativen Bedeutungen des Korans, wie sie die Rechtsgelehrten und die Theologen definieren, Gewalt anzutun.

HK: Inwiefern besteht hier kein Gegensatz?

ABU ZAID: Die Sufis akzeptieren die normative Bedeutung, wollen aber die göttliche Rede nicht auf diese eine festlegen. Jenseits der normativen gibt es vielmehr eine Vielzahl an möglichen Sinngehalten, abhängig von der Tiefe der spirituellen Erfahrungen des Einzelnen. So gibt es im Sufismus mindestens vier verschiedene Ebenen der Interpretation. Die erste ist die wörtliche beziehungsweise die normative Auslegung. Darüber hinaus gibt es tiefere Ebenen, die vom Kontakt mit dem Göttlichen herrühren. Nur wenige erreichen die höchste Ebene, wenn der menschliche Geist sich mit dem Göttlichen vereinigt.

HK: Welche Konsequenzen hat die Überzeugung, dass die Kommunikation mit Gott weiterhin möglich ist, für die Sicht der muslimischen Tradition?

ABU ZAID: Dieser hermeneutische Ansatz, bei dem es um die Beziehung des Einzelnen zu Gott geht, bestreitet, dass die Kommunikation zwischen Mensch und Gott an ein Ende gekommen ist. Die muslimische Tradition hat Mohammed als Siegel der Propheten bezeichnet. Sufis würden sagen, dass es möglicherweise keinen neuen Boten Gottes gibt, aber die Kommunikation mit ihm ist ihrer Überzeugung nach nicht abgebrochen. Auf diese Weise bleibt sie ein offener Prozess. In diesem Punkt sind die Sufis der schiitischen Tradition nahe, die davon ausgeht, dass Menschen weiterhin die Fähigkeit haben, göttliche Weisungen zu empfangen. Auch wenn es keinen neuen Propheten gibt, kann der Mensch die Botschaft neu interpretieren, weil er den Geist des Propheten geerbt hat.

HK: Diese muslimischen Traditionen werden heute auch von anderen aufgegriffen. Wen zählen Sie zu den einflussreichsten aufgeschlossenen Denkern der muslimischen Welt?

ABU ZAID: Wichtig sind iranische Gelehrte wie Adolkarim Sorusch oder Mohammed Schabestari. Sie arbeiten an einer Koranhermeneutik, wie ich sie entwickeln möchte, und somit, wenn auch auf andere Weise, am gleichen Ziel. Natürlich gibt es auch moderne, reformorientierte islamische Gelehrte in Indonesien oder in Afrika, deren Schwerpunkt liegt aber nicht auf der Exegese des Korans. Das Problem der so genannten Ankara-Schule besteht darin, dass sie in türkischer und nicht in englischer oder arabischer Sprache publiziert und deshalb weltweit weniger rezipiert wird.

HK: Die muslimische Tradition setzt mit dem Begriff "idschtihad" auf die Möglichkeit, bei der Lösung von Problemen des täglichen Lebens auch die menschliche Vernunft mit einzubeziehen. Das wirkt auf den ersten Blick modern. Warum reicht dieser Ansatz angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen für Sie nicht aus?

ABU ZAID: Der Ansatz von "idschtihad" ist der Versuch, beim Prozess der Meinungsbildung die menschliche Vernunft mit einzubeziehen, um sich nicht allein auf den Text und die Tradition beziehen zu müssen. Aber auch "idschtihad" muss den Text und die Tradition respektieren. "Idschtihad" setzt voraus, dass alle Lösungen aller Probleme explizit oder implizit mit der Tradition gegeben sind. Bestimmte Probleme unseres modernen Alltags können jedoch so nicht gelöst werden. Ich glaube, dass auch die Schrift ihre Grenzen hat. Der Koran ist ein Buch für die moralische, ethische und spirituelle Führung des Menschen. Er hilft mir aber nicht bei der Lösung der Tausenden von Problemen, die sich außerhalb der religiösen Sphäre stellen. Deshalb kritisiere ich zusammen mit Mohammed Arkoun das Konzept von "idschtihad". Ich plädiere dafür, über diesen Ansatz hinauszugehen und auch dort noch auf die Vernunft zu setzen, wo - bei allem Respekt - die Schrift und die Tradition keine Lösungsansätze mehr anbieten. Um diese Kritik der muslimischen Vernunft geht es, nicht zuletzt um der menschlichen Vernunft als solcher willen, die den Dialog und das Miteinander zwischen allen Menschen befördert.

HK: Machen wir eine Probe aufs Exempel: Kritiker bemängeln am Islam den engen Zusammenhang von Religion und Gewalt, der schon von Mohammeds Biographie an gegeben ist. Wie stellt sich das Problem aus der Sicht Ihres Ansatzes dar?

ABU ZAID: Gewalt gegenüber anderen ist nichts, was dem Koran eigen ist - auch wenn die Medien suggerieren, dass dies ein spezifisches Problem des Korans ist. Die Gewaltproblematik gibt es in allen Heiligen Schriften. Das hängt damit zusammen, dass in allen die Beziehung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, zwischen dem Absoluten und der Geschichte zu finden ist. In jeder der Heiligen Schriften wird dabei unterschieden zwischen Gläubigen und Ungläubigen. In diesem Zusammenhang gibt es überall eine Diskriminierung derer, die der Wahrheit nicht folgen - der Koran ist da keine Ausnahme. Dabei ist es aber besonders wichtig, jeweils den historischen Kontext zu beachten.

HK: Wie bewerten Sie diesen im Falle des Islam? Gerade in der Zeit des Wirkens Mohammeds ging es doch recht turbulent zu...

ABU ZAID: Der Islam betont den reinen Monotheismus und kämpft gegen den Polytheismus. In Mekka gab es seinerzeit einige jüdische und einige christliche Araber, vor allem aber Anhänger des Polytheismus. Die Anhänger Mohammeds wurden verfolgt und mussten aus Mekka fliehen. Sie kamen in eine neue Stadt, wo sie einen neuen Stamm bildeten, der keine Blutsgemeinschaft war, weil die Mitglieder aus verschiedenen Stämmen kamen. Die neue Gemeinschaft musste sich in Medina gegen die anderen dominierenden Stämme verteidigen. Daraus ist - als ein historisches Faktum - auch Gewalt erwachsen. Diese spiegelt sich in den frühen Texten, die die neuen Muslime dazu bringen wollten, sich zu verteidigen und für ihren Glauben zu kämpfen.

HK: Wird damit der Versuch, gewalttätige Auseinandersetzung göttlich zu legitimieren, nicht vorschnell gerechtfertigt? Werden damit nicht einfach die sozialen Spannungen zwischen rivalisierenden Gruppen überhöht?

ABU ZAID: Die Konvertiten taten sich schwer damit, gegen Mitglieder ihres alten Stammes vorgehen zu sollen, weil ihre Stammestraditionen ihnen geboten, nicht gegen die eigenen Leute, nicht während heiliger Zeiten zu kämpfen. Das ist der spezifische Kontext der Aufforderungen des Korans, die Ungläubigen töten zu sollen, wo immer man sie findet. Es geht hier darum, die Angst zu überwinden, um dem Propheten und seiner spirituellen und ethischen Botschaft überhaupt folgen zu können. Der Kampf war notwendig, um die neue Gemeinschaft zu verteidigen. Die Frage ist natürlich, ob diese appellative Sprache für alle Zeiten und für alle Gemeinschaften gültig ist. Oder ist diese besondere Art der Rede nur auf den spezifischen historischen Kontext beschränkt? Genau das ist natürlich meine Überzeugung.

HK: Bleibt nicht dennoch ein Problem, dass diese Passagen in der Geschichte des Islam Konsequenzen hatten, angefangen von den ersten Jahrhunderten?

ABU ZAID: Natürlich muss man auch die Wirkungsgeschichte dieser Verse sehen. Aber als die Muslime beispielsweise wieder nach Mekka zurückkamen, haben sie niemanden getötet, solange sie nicht bedroht wurden. Bei den gewaltsamen Eroberungen der Araber und der Errichtung ihres Reiches stand nicht im Vordergrund, den Islam zu verbreiten. In Syrien, Ägypten und dem Irak haben sie die Nicht-Gläubigen deshalb auch nicht getötet, ganz im Gegenteil. Ihnen kam es nur auf die Ausbreitung des eigenen Machtbereiches an. Zu diesem Zweck legten sie die Verwaltung zuerst in die Hände der Leute vor Ort. Sie haben sich darauf berufen, dass Mohammed bei seiner triumphalen Rückkehr nach Mekka die Ungläubigen auch nicht getötet hatte. Das bedeutet doch, dass Muslime bereits damals verstanden haben, dass die Aufforderung zu töten von einem bestimmten Kontext her zu lesen ist. Ähnliches müsste heute für die Vorstellung des "Dschihad" gelten, die während der militärischen Konflikte der Ummayyaden im zweiten Jahrhundert nach Mohammed entstanden ist.

HK: Zuletzt wurde hierzulande heftig darüber gestritten, ob nicht alle monotheistischen Religionen grundsätzlich Gewalt mehr befördern als eindämmen...

ABU ZAID: In allen Heiligen Schriften stößt man auf Gewalt, was einen Prozess der Kontextualisierung erfordert. In nahezu allen Religionen, vielleicht den Buddhismus einmal ausgenommen, verbinden sich in der Gottesvorstellung zwei wichtige Eigenschaften: die der Allmacht und die der Barmherzigkeit. Beide hängen miteinander zusammen. Deshalb basiert die Religion auf Furcht und Liebe, Macht und Schönheit. Die allmächtige Seite Gottes tritt in allen religiösen Traditionen dort zu Tage, wo Gewalt gegenüber den Ungläubigen gerechtfertigt wird. Das gilt auch für das Judentum. Und im Neuen Testament sagt Jesus: Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. All dies ist, wie etwa die christlichen Kreuzzüge, jeweils nur kontextuell zu verstehen. Das andere Gesicht des Göttlichen ist das seiner Schönheit und Liebe: dass alle Kinder Adams seine Kinder sind. Die Spiritualität der Sufis betont diese zweite Seite. Natürlich versteht es sich von selbst, dass hier das Göttliche jeweils mit menschlichen Vorstellungen präsentiert wird - und sich das am Ende der Zeiten anders darstellen wird.

HK: Was folgt aus diesen Überlegungen mit Blick auf das schwierige Verhältnis von Tradition und Wahrheit für einen angemessenen hermeneutischen Ansatz?

ABU ZAID: Überall existiert die Spannung zwischen dem historischen Kontext und der Bedeutung der Heiligen Schriften, die unabhängig von diesem spezifischen Kontext ist. Angesichts dieser Spannung ist es wichtig, einen Mittelweg zu beschreiten. Es ist keine Lösung zu sagen, dass der Koran mit uns heute nichts mehr zu tun hätte und er einfach nur ein historischer Text aus dem siebten Jahrhundert wäre. Auf der anderen Seite darf man den historischen Kontext nicht ignorieren, als ob die Bedeutung des Textes von ihm unabhängig wäre. Ein hermeneutischer Ansatz schaut auf diese Spannung zwischen dem Geschichtlichen und dem Universalen, ohne sich dabei auf eine Seite zu schlagen.

HK: Sind die Auseinandersetzungen über die rechte Koranexegese mit dem 11. September innerhalb der islamischen Gemeinschaft insgesamt einfacher oder eher schwieriger geworden?

ABU ZAID: Das Problem ist weniger das Ereignis selbst als dessen Konsequenzen. Die Ereignisse in New York wären ein guter Ausgangspunkt für tiefere Diskussionen über diese Fragen gewesen. Die Herausforderung besteht ja darin, die Mehrheit der Muslime von jenem Diskurs der Gewalt abzukoppeln. Leider hat diese Frage nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdient gehabt hätte - auch wenn die Beschäftigung mit ihr sehr anstrengend geworden wäre. Der einfachere Weg war der amerikanische "Krieg gegen den Terrorismus". Ein großer Teil der Muslime ist nicht für die Gewalt, fühlt sich aber bedroht und hat Angst. Das führt auch junge Muslime in ganz Europa dazu, sich der Ideologie der Gewalt anzuschließen. Ich rechtfertige das nicht, sondern analysiere es nur.

HK: Was wäre denn die Alternative zu diesem Vorgehen gewesen?

ABU ZAID: Die Konflikte werden immer wieder als theologische angesprochen. Auf diese Weise werden gewissermaßen alle Themen theologisiert. Um sie wieder zu detheologisieren, müsste genauer beobachtet werden, was in unseren Gesellschaften in Europa und in anderen Teilen der Welt passiert. Muslime in Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien, ja selbst in Indonesien, verfolgen sehr genau, was im Nahen Osten passiert. Der 11. September hat diesen Perspektivenwechsel in der Diskussion über den Islam jedoch schwieriger gemacht. Ich habe viele Kritiker, die sagen, nur weil ich bibelwissenschaftliche Erkenntnisse auf den Koran anwende, wäre ich nun Teil der westlichen Welt. In diesem Sinne wird heute die Welt in zwei verfeindete Hälften aufgeteilt.

HK: Gibt es angesichts dieser Situation wachsende Netzwerke moderater Muslime?

ABU ZAID: Sie wachsen vor allem in der virtuellen Welt: im Internet, in Chatrooms - aber nicht in der gesellschaftlichen Realität. Nicht zuletzt in den Gesellschaften, in denen der Zugang zum Internet schwierig ist, stellt das ein großes Problem dar.

HK: Welche Chancen geben Sie dem so genannten Euro-Islam, von dem mit Blick auf die Zukunft der Muslime in Europa oft die Rede ist und der als eine Art Ausweg angepriesen wird?

ABU ZAID: Ich frage mich immer wieder, was der Begriff "Euro-Islam" bedeuten soll. In anderen Fällen werden wir nicht müde, von der weltweiten Globalisierung zu sprechen, in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht. Euro-Islam ist reines Wunschdenken.

HK: Immerhin geht es um den Versuch, den Islam im Kontext pluralistischer Demokratien zu etablieren

ABU ZAID: Mit diesen Fragen setzen wir uns in der ganzen Welt auseinander. Der Koran kennt das Beratschlagen, "shura" genannt, das durchaus als Argument für die Demokratie verstanden werden kann; ich sehe im Islam auch keine Gegenargumente. Die christlichen Kirchen haben ebenfalls sich lange Zeit gegen demokratische Entwicklungen ausgesprochen. Dort wo es eine starke Zivilgesellschaft gab, hat sich das geändert. Das wird auch in muslimischen Ländern der Fall sein, wenn die Zivilgesellschaften stärker werden, als sie es momentan sind. Genau diese wurden aber durch die Entwicklungen nach dem 11. September geschwächt. Das ist der Teufelskreis.

HK: Was müsste getan werden, um aus diesem ausbrechen zu können?

ABU ZAID: Der Terrorismus müsste nicht mit Sicherheitsmaßnahmen, sondern mit intellektuellen Mitteln bekämpft werden. Es wäre wichtig, mehr in die tiefere Erforschung des islamischen Denkens, der islamischen Geschichte und der Interpretation der entscheidenden Texte zu investieren. Immerhin ist man auch in den Vereinigten Staaten inzwischen soweit, verstärkt auf den Dialog mit den so genannten moderaten Muslimen zu setzen. Aber der Dialog muss auch mit den radikalen Gruppierungen geführt werden. Das ist der einzige Weg.


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Der Ägypter Nasr Hamid Abu Zaid (geb. 1943) ist seit 2004 Inhaber des Ibn-Rushd-Lehrstuhls für Humanismus und Islam an der Universität für Humanistik in Utrecht. Studium der Arabistik (BA 1972) und der Islamwissenschaften (MA 1977; Promotion 1981) an der Universität Kairo. Danach dort Lehrtätigkeit, ab 1982 als Assistenzprofessor, ab 1987 als außerordentlicher Professor. 1995 Zwangsscheidung und Emigration in die Niederlande. Bis 2004 Gastprofessor für Islamwissenschaften an der Universität Leiden. Zuletzt erschien: 'Mohammed und die Zeichen Gottes', Freiburg 2008.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 7, Juli 2008, S. 340-344
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2008