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STANDPUNKT/047: Betrachtung zum Pfingstfest - Der letzte Mensch und seine Lüstchen (Ingolf Bossenz)


Passt Religion noch in die »Gesellschaft des Spektakels«? Eine unzeitgemäße Betrachtung zum Pfingstfest

Der letzte Mensch und seine Lüstchen

Von Ingolf Bossenz, 23. Mai 2015


Was wird eigentlich zu Ostern gefeiert, die Geburt oder die Auferstehung Jesu? Diese Frage, die an die bei Fernsehsendern zum Pushen der kostenpflichtigen Anrufe beliebten Ratespiele erinnert, richtete vor Jahren ein Kollege an mich, dessen profundes Wissen auf vielen Gebieten außer Zweifel stand. Aber die Kenntnis der Antwort auf diese Frage gehörte für ihn offenbar zu den sogenannten Trivia, also jenen wissenswerten Belanglosigkeiten, die für ein gelingendes Leben weitgehend unerheblich sind.

Nun zählen Ostern und Weihnachten zu den christlichen Festen, deren Zuordnung in der Regel selbst notorischen Religions-Ignoranten nicht sonderlich schwerfällt. Schwieriger wird es indes nicht nur bei solchen nachgerade exotisch anmutenden Glaubens-Events wie Mariä Lichtmess, Fronleichnam oder Verklärung des Herrn, sondern auch bei dem für dieses Wochenende anstehenden Pfingsten. Während bei einer Umfrage in Deutschland 92 Prozent Weihnachten und 86 Prozent Ostern bedeutungsmäßig richtig zuordneten, waren es bei Pfingsten nur noch 56 Prozent (immerhin 9 Prozent mehr als bei Halloween).

In der Tat ist der Heilige Geist, der laut Apostelgeschichte zu Pfingsten - griechisch pentekosté (50. Tag) - 50 Tage nach Jesu Auferstehung auf die in Jerusalem versammelten Jünger herabkam, eine ziemlich sperrige Angelegenheit. Als sogenannte dritte Person der göttlichen Dreifaltigkeit - gemeinsam mit Gott-Vater und Gott-Sohn - sorgte er über Jahrhunderte zunächst für endlose sophistischtheologische Haarspaltereien und schließlich für die Kirchenspaltung.

Das Schisma zwischen den orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche im Jahre 1054 geht auf die unterschiedliche Beantwortung der Frage zurück, von wem der Heilige Geist denn nun ausgeht: von Vater und Sohn (römisch-katholisch) oder nur vom Vater (orthodox)?

Von diesem Streit ist das Pfingstfest hierzulande gottlob nicht berührt, allerdings ebenso wenig von spürbarer geistlicher Inspiration. In Berlin tanzt und tobt der »Karneval der Kulturen« durch Kreuz(!)berg, was beispielsweise am Karfreitag nicht möglich wäre, dem wohl einzigen religiös regulierten Feiertag, um den es Kontroversen gibt. Herrscht doch an diesem Datum in den meisten Bundesländern rigoroses Tanzverbot, das alljährlich als schleunigst zu schleifende Bastion der Unfreiheit in die Schlagzeilen gerät. Seit Jahren machen kleine Gruppen Unentwegter dagegen mobil. So versammelten sich dieses Jahr an Jesu Todestag im Zentrum Stuttgarts unter dem Motto »Abzappeln gegen das Tanzverbot« rund 25 Anhänger der Piratenpartei, die sich mit den renitenten Rhythmen allerdings gesetzestreu über Kopfhörer speisten. Sehr beliebt als cineastisches Zeichen ungebrochenen Widerstandes gegen kirchlich-religiöse Vereinnahmung ist an diesem Tag auch das demonstrative Abspielen der Monty-Python-Klamotte »Das Leben des Brian«. Wer argumentiert, dieser Feiertag habe in unserer säkularisierten Gesellschaft ohnehin seinen ursprünglichen Charakter weitgehend verloren, hat zweifellos recht (Was auch für Pfingsten gilt). Die naheliegende Konsequenz, dann auch die Abschaffung dieses Feiertags zu fordern, dürfte indes auf wenig Zustimmung stoßen.

Im Gegenteil. Da auch der Islam als zu Deutschland gehörend politisch proklamiert wurde, könnten künftig alle hierzulande Lebenden - ob gläubig oder ungläubig - von neuen, dem Islam zu verdankenden Feiertagen profitieren. Kurz nach Weihnachten hatte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) staatlich anerkannte muslimische Feiertage ins Gespräch gebracht. Es sei durchaus möglich, das Feiertagsgesetz zu ändern »und auch islamische Feste als religiöse Feiertage anzuerkennen«, erklärte er. Ob solche Festtage generell arbeits- und schulfrei werden sollen, ließ Weil offen. Islam-gläubige Schüler in dem Bundesland dürfen sich bereits jetzt zu hohen Feiertagen vom Unterricht befreien lassen.

Apologeten der Islam-Zugehörigkeit können sich prominenter Unterstützung deutschen Denkertums erfreuen. Der Philosoph Friedrich Nietzsche klagte in seiner Streitschrift »Der Antichrist« das Christentum an, die Europäer »um die Ernte der Islam-Kultur gebracht« zu haben: »Die wunderbar maurische Kultur-Welt Spaniens, uns im Grunde verwandter, zu Sinn und Geschmack redender als Rom und Griechenland, wurde niedergetreten.« »Krieg mit Rom aufs Messer! Friede, Freundschaft mit dem Islam«, zitierte Nietzsche »das Genie unter den deutschen Kaisern«, Friedrich II. (1194-1250).

Dass zu den hierzulande geläufigen Trivia mittlerweile eher der Ramadan als Pfingsten gehört, hat natürlich mit der Vermittlung durch die Medien zu tun. Die allfälligen Fragen, wann er beginnt und endet, was ab wann verboten und ab wann wieder erlaubt ist, wie er sich auf Kultur, Politik und Alltag auswirkt, können sich beträchtlichen Publikumsinteresses sicher sein. Zumal der muslimische Fastenmonat Auswirkungen auf Großereignisse hat und beispielsweise im Zusammenhang mit der Fußball-WM 2014 intensiv und ausführlich debattiert wurde.

Inzwischen ist Pfingsten weitgehend sinnentleert, der Ramadan aber ist ein Event.

Der Ramadan ist ein Event, ein Spektakel. Was wohl der Hauptgrund ist, warum er in einer christlich tradierten und zunehmend säkularisierten Gesellschaft eine solche mediale Resonanz erfährt. Auch Pfingsten, das erste zumindest, war ein Spektakel, wenn man der Apostelgeschichte folgt: »Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.« So steht es in der Lutherbibel.

Inzwischen ist Pfingsten weitgehend sinnentleert, Karfreitag und Ostern sind langweilig; Weihnachten ist es im Prinzip auch, aber vorher ist wenigstens ordentlich was los: Weihnachtsfeiern, -märkte, -kaufrausch ... Dass immer etwas »los sein« muss, dass ein »stiller Feiertag« wie Karfreitag auf Widerspruch und Widerstand stößt, hat zutiefst mit einer Entwicklung zu tun, die der französische Kapitalismus- und Konsumismuskritiker Guy Debord »Die Gesellschaft des Spektakels« nannte, wie der Titel seiner bekanntesten, 1967 erschienenen Schrift lautet. Debord charakterisiert darin das Spektakel als »die Sonne, die über dem Reich der modernen Passivität nie untergeht. Es deckt die ganze Oberfläche der Welt und badet sich endlos in seinem eigenen Ruhm.« Es sei »die tatsächliche Diktatur der Illusion in der modernen Gesellschaft«.

Debords verwegen-verschlungene Gedanken aufgreifend, schuf der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa 45 Jahre später eine grandios-pessimistische Bestandsaufnahme der westlichen Kultur. Sein Essayband »La civilización del espectáculo« (dt. Titel »Alles Boulevard«) geißelt die Kultur des Spektakels als »Kultur, in der Unterhaltung das Wichtigste ist, in der Eskapismus und Spaß die alles beseelenden Leidenschaften sind«.

Vargas Llosa bestreitet nicht, dass all das »völlig legitim« ist. »Doch wird diese verständliche Neigung, es sich gutgehen zu lassen, zum höchsten Wert erhoben, bleiben die Folgen nicht aus: Die Kultur wird banal, das Frivole breitet sich aus, und um sich greift ein Journalismus des Klatsches und des Skandals.« Nietzsches »letzter Mensch« lässt grüßen: »Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. 'Wir haben das Glück erfunden' - sagen die letzten Menschen und blinzeln.«

Und die Utopie vom »neuen Menschen«, über viele Jahrhunderte deklariert, kultiviert - und exekutiert mit fatalen Folgen und Opfern? Wird sie auch eher zaghaft weiter propagiert, verworfen ist sie längst nicht. So träumten die LINKE-Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger kürzlich in einer »Zukunftsrede« von »einer völlig neuen Weise des Produzierens, Lebens und Arbeitens«. Es gehe um nicht weniger als »um eine Revolution des Denkens, Fühlens und Handelns«. Darin offenbart sich ein historischer und vor allem anthropologischer Optimismus, der sich - allem Säkularismus zum Trotz - aus tiefer pfingstlicher Zuversicht speist, wie sie der Evangelist Lukas empfand und niederschrieb: »Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.«

Der Theologe Eugen Drewermann erklärte im »nd«-Interview, das Problem der Religion sei, dass diese »identifiziert wird mit einer bestimmten organisierten Traditionsform, oder dass man den Glauben an Gott rein kausal begründet. Aber: Die Tatsache der Welt erfordert keinen Gott. Weder als Schöpfer noch als Beweger.« Religion solle vielmehr »Vertrauen begründen in den Hintergrund der Welt. Es geht um die Vorstellung von einer Güte, die unabhängig von uns vorgegeben ist, jenseits der Gesellschaft.« Diese Darstellung könnte eine Erklärung dafür sein, warum die Religiosität auch im 21. Jahrhundert in immer neuen Formen und Farben existiert - auch wenn die Kirchen leerer werden und viele Menschen nicht mehr wissen, was zu Pfingsten eigentlich gefeiert wird.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Mai 2015
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 23./24.05.2015
https://www.neues-deutschland.de/artikel/972081.der-letzte-mensch-und-seine-luestchen.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2015

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