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STANDPUNKT/088: Der gute Mensch von Sachsen (Ingolf Bossenz)


Der gute Mensch von Sachsen

Karl May war in seinen Werken unermüdlicher Missionar und Moderator des interreligiösen Dialogs

Von Ingolf Bossenz, Februar 2017


»Ich möchte der Menschheit meinen Glauben geben, meine Liebe, meine Zuversicht, mein Licht, meine Wärme, meinen - - - Gott!«
(Karl May an Prinzessin Wiltrud von Bayern)
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Mehr Licht, mehr Licht! Die Finsternis / Lässt mich nur zagend vorwärts gehn ...« Als Karl May im Jahr 1900 diese Zeilen in seinem (einzigen) Gedichtband »Himmelsgedanken « veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, dass 116 Jahre später eine westdeutsche Illustrierte seine geliebte Heimat Sachsen als »das dunkelste Bundesland« schmähen würde: der »Stern«, dessen publizistische Leuchtkraft bereits vor Jahrzehnten erlosch bei dem Versuch, mit dubiosen Diarien die Fabulierkunst eines Karl May rechts zu überholen. Hingegen könnte die jüngste Version sächsischer Kunst-Erziehung, Unbotmäßige durch Busse Buße zu lehren, durchaus einem Roman des Radebeulers entstammen - auch, wenn dessen Protagonisten eher Planwagen bevorzugten, auf denen sie gern einmal ihren Agitationsgelüsten in schlichter Manier die Zügel schießen ließen.

Deutschland 2017: ein buntscheckiges Babylon der zerbröckelnden Gewissheiten. Auf der Suche nach Orientierendem wird tief hineingegriffen in die Kiste mit vergangenen Verkündern. Karl Marx? Aber sicher! Karl May? Mit dem Ersteren zusammen ein geradezu unschlagbares Paar. Während der eine die Basis, die politisch-ökonomische vornehmlich, entschleiert und entlüftet, nimmt sich der andere den Überbau vor, den im Religiösen gründenden vornehmlich. Denn der an diesem Sonnabend vor 175 Jahren, am 25. Februar 1842, im erzgebirgischen Ernstthal geborene Schöpfer von Old Shatterhand und Winnetou, von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar war nicht nur ein begnadeter Erfinder und Erzähler abenteuerlicher Geschichten, sondern auch ein konsequenter Kämpfer für den Kern des Wahren und Guten, in dem für May besonders das Christentum, aber letztlich jedes religiöse Bekenntnis wurzelte, und den es galt, zu wohltätigem Wirken zu bringen.

»Der Glaube«, so ließ May sein Alter Ego Kara Ben Nemsi verkünden, »trägt eine festere Überzeugung in sich, als das stolzeste Gebäude menschlicher Logik sie zu geben vermag.« Ein Satz, der zugleich paradigmatisch für die innerste seelische Verfasstheit des Autors steht. Die Festigkeit, ja, Unerschütterlichkeit des christlichen Glaubensgebäudes ist bei May nicht die Folge kindheitlich-klerikaler Indoktrination zur Herrichtung bieder-bigott konditionierter Untertanen. Auf dem felsigen Weg aus den Elendsgründen von Deutschlands Armenhaus über Jahre der Schuld und Sühne bis zum von Millionen gelesenen und verehrten Schriftsteller hatte May über schwere Zweifel und Verzweiflungen zu einem Gottvertrauen gefunden, das sein Leben ebenso prägte wie seine Werke. Ein Gottvertrauen fernab jeder dogmatischen Engführung. »Ich bin Christ, weiter nichts. Confession giebt es für mich nicht«, so der 63-Jährige 1905 in einem Brief. »Karl May war, von einer jugendlichen Phase des Glaubenszweifels abgesehen, zeitlebens ein überzeugter, wenn auch wenig orthodoxer Christ, protestantisch getauft und erzogen, später innerlich zum Katholizismus neigend und zuletzt ein überkonfessionelles, 'befreites' Christentum predigend«, schrieb der Literaturwissenschaftler Dieter Sudhoff (1955-2007) in dem vom Karl-May-Verlag herausgegebenen Essayband »Zwischen Himmel und Hölle«, der das Thema »Karl May und die Religion« in der bislang wohl wissenschaftlich eingehendsten und zugleich menschlich einfühlsamsten Weise behandelt. *

Religion war für Karl May das, was ihr Karl Marx in seiner »Opium«-Sentenz ebenfalls bescheinigte: »der Seufzer der bedrängten Kreatur«. »Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will«, bemerkte der Philosoph Ernst Bloch, für den May »einer der besten deutschen Erzähler« war, zum weit gespannten Werk des kleinen Mannes (1,66 Meter) mit der großen Fantasie. Und zu diesem Traum gehörte für May der an die Kraft der Nächstenliebe, an die Verbrüderung der Nationen, an die Zukunft des Menschengeschlechts«. Bemerkenswert an diesen Worten aus »Mein Glaubensbekenntnis« ist, dass der Autor sie zu einer Zeit, 1906, formulierte, als sein Glaube »an das Gute im Menschen, an die Kraft der Nächstenliebe« schon seit Jahren auf die bedrückendste Probe gestellt worden war. Es waren die Jahre der Auseinandersetzungen um seine frühen Kolportageromane, des Niedergangs der ersten Ehe, der öffentlichen Zernichtung der Identifikation Mays mit seinen Bücherhelden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, des Bekanntwerdens seiner lange zurückliegenden kleinkriminellen Vergehen und mehrjährigen Haftzeit, des Beginns end- und freudloser juristischer Streitigkeiten ...

Doch eben diese Schläge bestärkten May in dem Willen, hier und jetzt, im Angesicht von Wahn und Widrigkeiten, seine »eigentliche« Berufung zu erfüllen: Ein Werk zu schaffen, das sich weit über sein bisheriges erhob. Und das eine religiös-philosophische Botschaft transportierte, die nichts weniger zum Ziel hatte, als die Menschheit besser zu machen, friedfertiger, edler. Er wolle »erst anfangen, jetzt, in diesem Alter!«, schrieb er im April 1909 - drei Jahre vor seinem Tod - an Prinzessin Wiltrud von Bayern. »Ich möchte der Menschheit meinen Glauben geben, meine Liebe, meine Zuversicht, mein Licht, meine Wärme, meinen - - - Gott!« Ein erstaunliches Bekenntnis in einer Zeit, die geprägt wurde von dem besonders durch das philosophische Werk Friedrich Nietzsches katalysierten Kulturpessimismus des Fin de Siècle, in dem sich bereits die geistigen Bruchlinien der 1914 über Europa einbrechenden Katastrophe abzeichneten. In der Tat folgte im Jahr 1909 die Veröffentlichung von Mays wichtigstem Spätwerk, dem zweibändigen symbolistischen Roman »Ardistan und Dschinnistan«.

Während der gut anderthalb Jahre nach May geborene Sachse Nietzsche (sein Geburtsort Röcken gehörte damals zur preußischen Provinz Sachsen) in verheißungsvollen Farben die Freiheit nach dem Tod Gottes, womit er vornehmlich den christlich geformten meinte, kündete, verhieß der Sachse May seiner Leserschaft aus dem Munde seines Alter Ego Old Shatterhand: »Ich bin erst an fünfter, sechster Stelle Westmann, zunächst aber Christ.« Da May das religiöse Element in seinen Reiseerzählungen stets über eine spannend-abenteuerliche Handlung transportierte, fühlte ich mich als jugendlicher Leser bisweilen irritiert, aber nie missioniert. Dabei war die Mission das große, ja, das eigentliche Thema aller Schriften, Erzählungen, Romane und - am Lebensende - Vorträge des Mannes, der mit einer weltweiten Auflage von 200 Millionen noch heute zu den meistgelesenen Schriftstellern deutscher Sprache gehört. Enthält doch schon der erste Satz von Band 1 der Gesammelten Werke, die Reiseerzählung »Durch die Wüste« des sechsbändigen Orient-Zyklus, die geballte brisante Ladung aus Glaube, Dogma und Mission: »Und ist es wirklich wahr, Sihdi, dass du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, der verächtlicher ist als ein Hund und widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frisst?«, fragt der Muslim Hadschi Halef Omar voller Skepsis seinen Begleiter, den Christen Kara Ben Nemsi. Ein Romananfang, der zu den berühmtesten der Literaturgeschichte zählt und bisweilen mit dem Beginn von Leo Tolstois »Anna Karenina « verglichen wird: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.«

Die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam ist zweifellos die wichtigste und zugleich wirkmächtigste Komponente Mayscher Religionsrhetorik. »Vor allem«, sagte er kurz vor seinem Tod in einem Interview, »erstrebe ich eine Aussöhnung des Morgenlandes mit dem Abendlande.« Zwar sieht er die anderen Religionen als »Stufen, auf denen die Menschheit zum Christenthum emporsteigen wird«. Und er schildert mit Drastik auch das Dunkle und Inhumane in islamischer Konvention und Geschichte. Darstellungen, die - gebrochen und gefiltert durch Mays Menschen- und Menschheitsbild - auf der Höhe der Fachwissenschaften seiner Zeit stehen und, wie Orientalisten bescheinigen, durchaus in großen Teilen noch heute gültig sind. So thematisiert May in der Mahdi-Trilogie die Rechtfertigung der Sklaverei durch den Koran und die islamische Tradition. Murad Nassyr, ein türkischer Kaufmann, nennt »die Sklaverei eine geheiligte Einrichtung«. Egon Flaig, ein deutscher Althistoriker, nennt in seiner 2009 erschienenen und heiß diskutierten »Weltgeschichte der Sklaverei« die Kultur des Islam das »größte und langlebigste sklavistische System«. Gewiss ist es platte Propaganda, wenn Kara Ben Nemsi behauptet: »Der Christ kennt keine Sklaverei; er ist ein Sohn der ewigen Liebe und befleißigt sich der Geduld, Sanftmut, Freundlichkeit und Barmherzigkeit.« Aber eine theologische Rechtfertigung, ein aus den religiösen Lehren resultierendes rohes Handeln, wie es die Sklaverei darstellt, existiert - im Unterschied zum Islam - im Christentum nicht. Da muss man May (und auch Flaig) recht geben. Dem totalitären, von fundamentalistischem Messianismus getragenen Wahnstreben des Mahdi nach Weltherrschaft des Islam und Vernichtung der Europäer stellte May die christliche Botschaft der Nächstenliebe entgegen. Ein ebenso grandioses wie historisch immer wieder grandios gescheitertes Konzept der Konfliktlösung.

Der immer wiederkehrende Widerspruch zwischen Lehre und Tat, zwischen Wort und Wirklichkeit, zwischen Sakralem und Profanem war es, der May im Alter zunehmend umtrieb. Voller realistischer Resignation konstatierte er: »In den bisher auf Erden geführten Kriegen sind fast 2000 Millionen Menschen abgeschlachtet worden und wir können leider nicht behaupten, daß es besser geworden ist, seitdem es Christen giebt«, so May 1905 in einem Brief. Und: »Wer ein guter Christ sein will, der hat vor allem dafür zu sorgen, ein guter Mensch zu sein.«

Letzteres ein zentraler Satz, der sich durch Mays Leben, Streben und Schreiben zog. Ein guter Mensch sein - das war seine Vision, sein Traum, ja, seine Besessenheit. So war es denn ein Schluss wie in einem klassischen Karl-May-Roman, dass der letzte öffentliche Auftritt des Schriftstellers, wenige Tage vor seinem Ableben am 30. März 1912, ein Vortrag in Wien war, der den Titel trug: »Empor ins Reich der Edelmenschen«.



Anmerkung:

* Christoph F. Lorenz (Hrsg.):
Zwischen Himmel und Hölle.
Karl May und die Religion.
Karl-May-Verlag Bamberg-Radebeul.
544 S., geb.,
24,90 EUR.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Februar 2017
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 25./26.02.2017
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1043000.der-gute-mensch-von-sachsen.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2017

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