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STANDPUNKT/104: Die unterschlagene Enzyklika - Wollte Pius XI. der Judenverfolgung wirklich Einhalt gebieten? (Gerhard Feldbauer)


Die unterschlagene Enzyklika

Wollte Pius XI. der Judenverfolgung wirklich Einhalt gebieten?

von Gerhard Feldbauer, 8. Februar 2019


Wollte der am 10. Februar 1939 verstorbene Achille Ratti alias Pius XI. am Ende seines Lebens der Judenverfolgung unter der faschistischen Herrschaft in Deutschland und Italien Einhalt gebieten? Dafür könnte sprechen, dass er im Juni 1938, nach der Übernahme der Rassengesetze des "Dritten Reiches" durch Mussolini, den amerikanischen Jesuitenpater John La Farge beauftragte, den Entwurf einer diesbezüglichen Enzyklika (päpstliches Rundschreiben) auszuarbeiten. Es sollte zu Nationalismus, Rassismus und Judenverfolgung Stellung beziehen und "Humani generis unitas" (Einheit des Menschengeschlechts) benannt werden.

Zwei Belgier, der Benediktinerpater Georges Passelecq, Vizepräsident der Nationalen Belgischen Kommission der katholischen Kirche für die Beziehungen zum Judentum, und der Straßburger Historiker Bernard Suchecky, entdeckten in den USA eine Kopie des von La Farge angefertigten Entwurfs. Das Ergebnis ihrer Recherchen veröffentlichten sie 1997 in einem Buch im Hanser Verlag München-Wien.

Pius XI. hatte sofort nach seinem Amtsantritt am 6. Februar 1922 nicht nur aktiv zum Machtantritt Mussolinis im Oktober des Jahres beigetragen, sondern ihm zusammen mit dem Industriellenverband Confindustria auch über die existenzielle sogenannte Matteotti-Krise 1924/25 hinweggeholfen. [1] Das Hausblatt des Papstes L'Osservatore Romano lobte die "feste Haltung" Mussolinis und wandte sich gegen antifaschistische Aktionen. Nach Unterzeichnung der Lateranverträge am 11. Februar 1929 hob Pius XI. ausdrücklich die "persönlichen Verdienste" Mussolinis am Zustandekommen der Verträge hervor und nannte ihn "einen Mann, mit dem uns die Vorsehung zusammenführte". [2]

Am 20. Juli 1933 schloss er mit Hitler das Reichskonkordat, das die deutschen Katholiken verpflichtete, sich hinter die "nationale Regierung" zu stellen. Am 15. Mai 1931 hatte er das Rundschreiben "Quadragesimo anno" (Im Vierzigsten Jahr) erlassen [3], das gegenüber den Kommunisten "eine schonungslose Unterdrückung" forderte und die Untätigkeit bestimmter Regierungen ihnen gegenüber scharf verurteilte. Sie ebneten "auf diese Weise den Weg zum Umsturz und zum Ruin der Gesellschaft". Unzweideutig brachte Pius XI. zum Ausdruck, dass die Rettung im Faschismus liege. Ignazio Silone nannte "Qadragesimo anno" ein "Manifest des katholischen Faschismus, der sich als Retter der kapitalistischen Zivilisation auf die Kandidatenliste setzt" (Ebd. S. 247).

Nach der Eroberung Äthiopiens (damals Abessinien) im Mai 1936, bei der 275.000 Einwohner umgebracht wurden, glorifizierte der Vatikan Mussolini als "einen wunderbaren Duce, der das Kreuz Christi in alle Welt trägt." Der Mailänder Kardinal Ildefonso Schuster feierte im Dom der Stadt die barbarische Eroberung als einen "Evangelisationsfeldzug und als ein Werk christlicher Zivilisation zum Wohl der äthiopischen Barbaren". [4]

Im September 1938 übermittelte La Farge den Entwurf an seinen Vorgesetzten Wladimir Ledóchowski, Generaloberer des Jesuiten-Ordens, nach Rom. Der zur Gruppe der fanatischsten Unterstützer des Faschismus gehörende Ledóchowski habe den Entwurf, wie Passelecq/Suchecky schreiben, dem Papst vier Monate lang unterschlagen. Pius XI. soll das Dokument erst kurz vor seinem Tod erhalten haben. Als bisher einziger Papst hat Johannes XXIII. Anfang Februar 1959 anlässlich des 20. Todestages von Pius XI. die unterschlagene Enzyklika erwähnt und geäußert, dass dieser an einer Rede gearbeitet habe, die er zum 10. Jahrestag der Lateranverträge habe halten wollen. Über "Ruhe und Frieden" habe er sprechen wollen.

Trotz der zwiespältigen Ausrichtung des Enzyklika-Entwurfs betrachteten die reaktionärsten Kleriker im Vatikan ihn als einen Affront gegen Mussolini und befürchteten eine Schwächung seiner Position. Der französische Kardinal Eugène Tisserant äußerte, der "Duce" habe Pius XI. ermorden lassen, um die Eröffnung eines Sonderkonklave am 11. Februar 1939, auf dem der Papst zur Enzyklika habe sprechen wollen, zu verhindern. Fakt ist, dass der Papst in der Nacht zum 11. Februar von dem Arzt Dr. Francesco Pettaci, Vater der Geliebten Mussolinis, Clara Pettaci, eine Spritze erhielt und darauf um 5.31 Uhr verstarb. Wie nicht wenige mysteriöse Papst-Tode ist auch dieser bis heute nicht aufgeklärt.

Nachfolger Pius XII. zerstreute alle Bedenken über Diskrepanzen des Vatikans mit dem Faschismus. Als erstes stellte er sich nach seinem Amtsantritt am 2. März hinter die mit aktiver Unterstützung Hitlers und Mussolinis als auch seines Vorgängers erfolgte Niederschlagung der Spanischen Republik, der während des von der klerikalfaschistischen Reaktion entfesselten Bürgerkrieges fast eine Million Menschen zum Opfer gefallen waren. Während nach dem Sieg Francos in Spanien die Mordkommandos wüteten, schickte Pius XII. dem Gaudillo eine Botschaft, in der es hieß: "Die von Gott als wichtigster Diener der Evangelisation der Neuen Welt und als uneinnehmbares Bollwerk des katholischen Glaubens auserwählte Nation hat soeben den Anhängern des materialistischen Atheismus unseres Jahrhunderts den erhabenen Beweis dafür geliefert, dass über allen Dingen die ewigen Werte der Religion und des Geistes stehen." Ein Glückwunschtelegramm erhielt auch Hitler, dem der Heilige Vater "mit besten Wünschen den Segen des Himmels und des allmächtigen Gottes übermittelte".

Zum Nutzen der Nazipropaganda

Die Enzyklika hätte gegen die Rassengesetze ein Zeichen setzen können. Doch dem entsprach der widersprüchliche Entwurf, besonders was die Haltung zum Judentum betraf, in keiner Weise. Er wies den "Rassenbegriff" als biologisch abgeleitet zurück, war aber vor allem ein Mix aus einer verbalen Verurteilung des Antisemitismus mit der antijudaistischen Haltung der Kurie. Obwohl von einer "erbarmungslosen Kampagne gegen die Juden", von Millionen von Menschen, "die auf dem Boden ihres eigenen Vaterlandes der elementarsten Bürgerrechte und Privilegien beraubt werden", ihnen "das Brandmal des Verbrechens aufgedrückt" wird, die Rede war, folgten dem die bekannten Vorwürfe gegen die "eigensinnigen Juden", die "von weltlichem Gewinn und materiellem Erfolg verblendet", zum "Stein des Anstoßes für alle übrigen Völker" wurden. "Dieses unglückliche Volk, das sich selbst ins Unglück stürzte, dessen verstockte Führer den göttlichen Fluch auf ihre eigenen Häupter herabbeschworen", scheine dazu verurteilt, "ewig über die Erde zu irren" (S. 261-71).

Solche Passagen, wäre die Enzyklika veröffentlicht worden, hätten der Nazipropaganda eher Vorschub geleistet. Hatte doch auch Hitler, ohne auf Widerspruch im Vatikan zu stoßen, gegenüber dem Osnabrücker Bischof Hermann Wilhelm Berning geäußert: "Die katholische Kirche hat die Juden 1500 Jahre lang als Schädlinge angesehen, sie ins Ghetto gewiesen. Ich gehe auf das zurück, was man 1500 Jahre lang getan hat. Ich sehe die Schädlinge in den Vertretern dieser Rasse für Staat und Kirche, und vielleicht erweise ich dem Christentum den größten Dienst." [5]

Quelle: Georges Passelecq, Bernard Suchecky: Die unterschlagene Enzyklika. Der Vatikan und die Judenverfolgung. Hanser Verlag München-Wien 1997.


Anmerkungen:

[1] Benannt nach dem Sozialistenführer Giacomo Matteotti, der den Terror des Mussolini-Regimes zu den Scheinwahlen im April 1924 öffentlich entlarvt hatte und daraufhin ermordet wurde, was zu einer Protestwelle führte, die drohte, den Diktator zu stürzen.

[2] Marco Palla: Mussolini e il Fascismo, Florenz 1993, S. 60.

[3] Enzyklika Papst Leo XIII. von 1891, die "jede Form des Sozialismus" als "Pest" brandmarkte und forderte, "wenn sich die Massen von üblen Doktrinen hinreißen lassen, darf der Staat nicht zögern, mit starker Hand zuzufassen". Die Enzyklika wurde "zur konterrevolutionären Waffe im Schoße der Massen", schrieb Ignazio Silone in seinem Werk "Der Faschismus", Frankfurt/Main 1984 (Reprint der Erstausgabe von 1934), S. 242.

[4] Karlheinz Deschner: Mit Gott und dem Führer, Köln 1988, S. 88.

[5] Uli Weyland: Strafsache Vatikan - Jesus klagt an, München 1994, S. 438.

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2019

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