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INTERNATIONAL/015: Balkan - Gefängnisliteratur leugnet Kriegsverbrechen, Menschenrechtler protestieren (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. August 2011

Balkan: Gefängnisliteratur leugnet Kriegsverbrechen - Menschenrechtler protestieren

Von Vesna Peric Zimonjic


Belgrad, 16. August (IPS) - In Serbien boomt, was Soziologen als 'Gefängnisliteratur' bezeichnen. Dass aber ausgerechnet Kriegsverbrecher zur Feder greifen, um sich in ein besseres Licht zu stellen oder die von ihnen begangenen Gräuel schlichtweg zu leugnen, hat bei Menschenrechtsorganisationen einen Aufschrei der Empörung ausgelöst.

In den letzten Jahren sind Dutzende Bücher erschienen, deren Autoren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit von lokalen oder internationalen Gerichten verurteilt wurden. Dazu gehören die Verantwortlichen der im Bosnien-Konflikt von 1992 bis 1995 begangenen Verbrechen. Aber auch andere Kriminelle wie ein Paramilitär, der wegen Mordes an dem serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic verurteilt wurde, und ein Drogenhändler nutzen die Zeit hinter Gittern, um Bücher zu schreiben und herauszubringen.

All diesen literarischen Ergüssen liege "der Wunsch nach Wahrheit" zugrunde, schreibt Milan Lukic, einer der umstrittensten Gefängnisautoren, in seinem Buch 'Tale of the Hague Detainee' (Die Geschichte eines Haager Häftlings'). Der 41-Jährige war 2009 für seine Mitwirkung an der Entführung und Ermordung Dutzender Muslime im Osten Bosniens und für den Verbrennungstod von 120 muslimischen Zivilisten in seiner Heimatstadt Visegrad vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag zu lebenslanger Haft verurteilt worden.


Buchpräsentation in Gemeindehaus von Belgrader Kirche

Die Veröffentlichung seines Buches am 4. August stieß bei Menschenrechtsaktivisten, zivilgesellschaftlichen Organisationen und muslimischen Überlebenden aus zwei Gründen auf heftige Kritik. Zum einen behauptet Lukic, die Verbrechen nicht begangen zu haben, da er nicht vor Ort gewesen sei und die Gräuel auch nicht stattgefunden hätten. Zum anderen wurde das Buch im Gemeindehaus der großen serbischen Sankt-Sava-Kirche in Belgrad vorgestellt, ohne dass irgendjemand Einspruch erhoben hätte. Der Bitte um eine Stellungnahme ist die Kirchenleitung bisher nicht nachgekommen.

"Das war wirklich eine schändliche Veranstaltung und eine Beleidigung für die Opfer", meinte Bakira Hasecic, Leiterin der Organisation 'Frauen als Opfer des Krieges'. "Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Lukic auch die Namen der Menschen aufgeführt hätte, die er bei lebendigem Leib verbrannte, so wie er diejenigen nannte, die angeblich die Stadt Visegrad vor den Muslimen gerettet haben", sagte sie. Hasecic wurde wie viele andere Mitglieder der Frauenorganisation im Bosnienkrieg Opfer von Gruppenvergewaltigungen.

Für den Fonds für humanitäres Recht ist die Veröffentlichung dieses Buches ein "Schlag ins Gesicht der Opfer'. Die Buchpräsentation sei skandalös, trage sie doch zur Verdrehung der Tatsachen bei, sagte der Berater der Organisation, Aleksandar Obradovic. So seien viele Serben bis heute der irrigen Meinung, dass der Krieg in Bosnien den Serben dazu diente, sich vor ihrer Auslöschung durch aggressive muslimische Bosnier zu schützen.


Jedes Jahr ein Buch

Milorad Ulemek 'Legija' hat bereits zehn Bücher geschrieben, seit er wegen des Mordes am demokratischen serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic 2003 zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Erst kürzlich veröffentlichte er das Buch, 'Durch Wasser und Feuer'. Ulemek, berüchtigt für seine paramilitärischen Aktivitäten in den Kriegen im benachbarten Kroatien und Bosnien, nutzt das Buch für eine Lobeshymne auf den "Mut der serbischen Einheiten". In dem Gerichtsurteil hieß es, dass der Mord an Djindjic darauf abgezielt habe, die konstitutionelle Ordnung des serbischen Staates zu zerstören.

Nach Ansicht von Rajko Danilovic, Anwalt der Djindjic-Familie, wird es höchste Zeit, dass der serbische Staat Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Ulemek an Ansehen gewinnt. "Es gilt den Opferfamilien weiteren Schmerz zu ersparen", sagte er. Der Belgrader Anwalt Dragoljub Todorovic schlug vor, sich an anderen Ländern zu orientieren, die Erfahrungen mit Leugnern von Menschenrechtsverbrechen gemacht haben. "Ohne eine Intervention ist das Buch ein Schlag ins Gesicht aller Betroffenen."

Doch Serbiens Staatsanwälte interessieren sich derzeit mehr für die Frage, wer dem einstigen politischen Führer der bosnischen Serbien, Radovan Karadzic, dabei geholfen hat, im Zeitraum 1998 bis 2008 drei Bücher - einen Roman, Gedichte und Märchen - zu verlegen, obwohl er damals vor der Justiz auf der Flucht war.

Auch gewöhnliche Kriminelle wie der Drogenhändler Kristijan Golubovic versuchen sich als Autoren. So hat der 42-Jährige in griechischen und serbischen Gefängnissen eine Autobiographie mit dem einprägsamen Titel 'Ich' geschrieben, in der er sein "abenteuerliches Leben" schildert. Ein Fortsetzungsband steht kurz vor der Veröffentlichung. (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2011