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INTERNATIONAL/079: Pakistan - Taliban nehmen Zivilisten als Schutzschilde, Flüchtlinge berichten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. Juni 2012

Pakistan: Taliban nehmen Zivilisten als Schutzschilde - Flüchtlinge aus Khyber Agency berichten

von Ashfaq Yusufzai

Wenigen gelingt die Flucht - Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Wenigen gelingt die Flucht
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Peshawar, Pakistan, 5. Juni (IPS) - Seit Beginn des Militäreinsatzes gegen die Taliban im Verwaltungsbezirk Khyber im Westen Pakistans berichten die in Peshawar ankommenden Flüchtlinge über Versuche der Taliban, den Exodus der Menschen aus den Kampfzonen zu verhindern. Demnach sollen Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht werden.

Viele Mitglieder der 55.000 Familien, die seit der Intensivierung der Kämpfe im März zwischen der pakistanischen Armee und den bewaffneten Milizen aus Khyber Agency geflohen sind, berichten von großen Schwierigkeiten, bis Peshawar durchzukommen. Peshawar ist die Hauptstadt der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, die an Khyber angrenzt, eine von sieben Verwaltungseinheiten (Agenturen) der Stammesgebiete unter Bundesverwaltung (FATA).

"Zwei Monate lang hatten wir versucht, unsere Heimat zu verlassen, wurden aber immer wieder von den Taliban gestoppt", schildert Rehan Gul aus der Ortschaft Aka Khel in Bara in Khyber seine Odyssee, die der 49-Jährige zusammen mit seiner Frau und seinen sieben Kindern unternommen hatte. Seit dem 24. April harrt die Familie im Jalozai-Lager in der Nähe von Peshawar aus. Wie Gul berichtet, werden Familien zu Hunderten an der Flucht gehindert. "Dabei wollen sie sich alle nur in Sicherheit bringen."

Die Militäroffensive gegen die Taliban-Kämpfer in den FATA bringt die dort lebende Bevölkerung in Lebensgefahr. Diejenigen, denen die Flucht gelang, sind in Auffanglagern oder bei Verwandten untergekommen.


Flucht mit Hindernissen

"Die Strom- und Wasserversorgung und auch das Bildungssystem sind zusammengebrochen. Aufgrund der Kämpfe ist es kaum noch möglich, an Nahrungsmittel zu kommen. Dort zu bleiben macht also keinen Sinn", sagt Zameer Shah aus der Stadt Usmanabad. "Wir sind seit dem 28. März hier. Wir haben den Taliban erklärt, dass wir unsere kranke Mutter nach Peshawar in eine Klinik bringen müssen. Deshalb ließen sie uns ziehen."

"Wir hatten uns im Dunkeln nach Peshawar aufgemacht", berichtet Rashid Khan aus dem Dorf Ghareebabad. "Zwei Mal wurden wir von den Taliban angehalten, denen wir erzählten, dass meine Schwester hohes Fieber habe und sterben müsse, falls wir sie nicht schnell ins Krankhaus brächten", sagt er. Auch wenn es im Flüchtlingslager von Jalozai an vielem fehle, zumindest sei man sicher.

"Es ist eine gängige Strategie der Taliban, Menschen als lebende Schutzschilde einzusetzen", betont der Informationsminister von Khyber Pakhtunkhwa, Mian Iftikhar Hussain. Diese Strategie sei bereits in den Agenturen Waziristan, Bajaur und Kurram in den FATA sowie in Malakand in Khyber Pakhtunkhwa angewandt worden. Die Umtriebe der Rebellen hätten ein Viertel der zwölf Millionen Menschen veranlasst, die FATA dauerhaft zu verlassen.

"Am 12. März konnten wir in ein Fahrzeug einsteigen, dass uns nach Peshawar bringen sollte. Doch die Taliban hielten uns an und zwangen uns zur Umkehr", so Ghafoor Ali. "Am darauffolgenden Tag brachen wir zu Fuß auf und kamen 13 Stunden später hier an. Der Weg war zwar beschwerlich, doch musste es sein."

Nach ihrer Vertreibung 2001 aus Kabul durch internationale Truppen unter Führung der USA sind die Taliban in Pakistans gesetzlosen FATA an der Grenze zu Afghanistan untergetaucht. 2005 startete die pakistanische Regierung eine FATA-weite Militäroffensive, nachdem die Taliban Regierungsgebäude, Polizei und Armee unter Beschuss genommen hatten. Die FATA ist ein 47.000 Quadratkilometer großes Gebiet in der Nähe der afghanischen Grenze.

In vielen Krisengebieten wie Orakzai, Khyber und Süd-Waziristan verhindere die Präsenz von Zivilisten, dass die Armee nicht gegen die Taliban durchgreifen könne, meint Muhammad Jamil aus der Stadt Mardan. "Die Taliban haben die Menschen mit Lautsprechern zum Bleiben aufgefordert. Sie drohen ihnen mit Konsequenzen, sollten sie das Gebiet verlassen", berichtet Musafar Waheed aus der Agentur Mohmand.

Das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) hat 687.550 Vertriebene aus den FATA gezählt. Jeden Tag werden 30.000 neue Flüchtlinge aus der Konfliktzone Khyber Agency registriert. Die Regierung hat mit dem UNHCR für die Menschen in Not fünf Auffanglager eingerichtet.


Kämpfe weiten sich aus

"Es zeichnet sich bislang kein Ende des Militäreinsatzes ab. Die Kämpfe greifen inzwischen auf andere, bislang ruhige Gebiete über, meint der Beamte Umar Farooq, der den Militäreinsatz für die Massenflucht verantwortlich macht. "Nun geht die Regierung in Nord-Waziristan gegen die Kämpfer vor. Doch sind wir nicht vorbereitet, den Flüchtlingsstrom aus dieser Region aufzunehmen."

Die Militäroperationen von 2005 hätten nicht den ersehnten Frieden gebracht. Stattdessen nehme die Militanz immer weiter zu. "Militäraktionen sind keine Lösung", sagt er. "Sie verschlimmern das Problem." (Ende/IPS/kb/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2012