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INTERNATIONAL/118: Chile - Sexueller Missbrauch bei Studentenprotesten, Polizei auf der Anklagebank (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Dezember 2012

Chile: Sexueller Missbrauch bei Studentenprotesten - Polizei auf der Anklagebank

Marianela Jarroud

Diese Polizisten nahmen im Jahr 2011 einen IPS-Fotografen fest - Bild: © Fernando Fiedler/IPS

Diese Polizisten nahmen im Jahr 2011 einen IPS-Fotografen fest
Bild: © Fernando Fiedler/IPS

Santiago de Chile, 12. Dezember (IPS) - Nach den Studentenprotesten in Chile häufen sich die Anzeigen gegen sexuelle Gewalt durch Polizisten. Junge Chilenen geben an, von einzelnen Beamten betatscht worden zu sein. Auch hätten sie sich vor Sicherheitskräften und Mitgefangenen nackt ausziehen und Kniebeugen machen müssen. Am Montag veröffentlichte das Nationale Menschenrechtsinstitut (INDH) seinen Jahresbericht zur Situation der Menschenrechte in Chile. Darin heißt es, die "sexuelle Aggression" in den Reihen der Polizei sei "beunruhigend".

"Sexuelle Belästigungen haben stark zugenommen", heißt es nach Angaben der nichtstaatlichen 'Corporación Humanas', die im INDH-Bericht zitiert wird. Die Organisation erhielt 2012 25 Anzeigen wegen sexueller Gewalt durch die Polizei. Gerade bei den Räumungen studentisch besetzter Bildungsstätten während der Studentenstreiks seien junge Leute begrabscht und gezwungen worden, sich zu entkleiden. Einigen Frauen seien Schläge in den Intimbereich verabreicht worden.

Auch bei den Demonstrationen in der südchilenischen Stadt Aysén im Februar und März dieses Jahres, bei denen die Bürger Sozialreformen forderten, sei es zu Polizeigewalt gekommen, sagte Lorena Fríes, Direktorin des Menschenrechtsinstituts, gegenüber IPS. "In Aysén wurden in vollkommen überzogenen Maße Schusswaffen eingesetzt. Dabei haben mindestens zwei Menschen jeweils ein Auge verloren."

Bei den Studentenprotesten sei die Polizei exzessiv gewalttätig vorgegangen - und zwar nicht nur gegen ebenfalls gewalttätige, sondern auch friedliche Demonstranten.


Wie unter Pinochet

"Ein solches Ausmaß an polizeilicher Gewalt gab es in Chile seit der Militärdiktatur von Augusto Pinochet nicht mehr", sagte Mireya García, Vizepräsidentin der 'Angehörigen von Verschwundenen', gegenüber IPS. Pinochet war von 1973 bis 1990 an der Macht. "Die Gewalt hat sich über alle anderen Formen der Kommunikation - über den Dialog und Verstehen - gesetzt. Mit rationalem Eingreifen hat das nichts zu tun."

Der erste Fall sexueller Belästigung durch die Polizei im Zuge der Studenten- und Schülerproteste wurde im August angezeigt. Eine Gruppe von jungen Leuten hatte in der Stadt Rancagua, 100 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile, protestiert, weil der Bau ihrer Bildungseinrichtung nur sehr langsam voranschritt. Der Anzeige zufolge nahmen Polizeibeamte die Studierenden fest und zwangen sie, sich auf der Polizeiwache zu entkleiden.

In einem anderen Fall wurden drei Jugendliche und ihre Aufsichtsperson durch einen Beamten der Nationalen Polizei dazu gezwungen, sich auf einer Wache in Santiago de Chile vor anderen Gefangenen auszuziehen. Am 23. August mussten eine 15-Jährige und zwei 18-Jährige in der Gemeinde La Florida ihre T-Shirts und ihre BHs hochziehen, die Unterhosen runterziehen und dann Kniebeugen machen. Die INDH stellte daraufhin einen Strafantrag wegen Nötigung und Folter gegen die 15-Jährige.


Keine unabhängige Gerichtsbarkeit

Doch der Fall wurde an das Militärgericht überwiesen. "Auch das verstößt gegen die Menschenrechte - es kann ja gar keine Unparteilichkeit geben, wenn diejenigen den Prozess führen, die für die Taten verantwortlich sind", sagte Fríes. Die Nationale Polizei gehört zu den Streitkräften Chiles und unterliegt der nominellen Kontrolle des Verteidigungsministeriums.

Immerhin hat die Militärpolizei nach vermehrten Klagen seitens der INDH 2011 eine Menschenrechtsabteilung eingerichtet. Das sei "ein Schritt nach vorn", so die INDH damals. Auch wurden in Gefangenentransportern Kameras installiert, um mögliche Menschenrechtsverletzungen nachvollziehen zu können. Und schließlich gewährte die Militärpolizei der Menschenrechtskommission Zugang zu den Gefangenentransporten.

Fríes fordert, Menschenrechtsfragen in die Polizeiausbildung zu integrieren. Außerdem sei es notwendig, das Versammlungsrecht zu reformieren. Das stammt noch aus dem Jahr 1983 und somit aus der Zeit der Pinochet-Militärdiktatur. (Ende/IPS/jt/2012)


Links:

http://www.indh.cl/informe2012/Inf%20Anual%20INDH12%20WEB.pdf
http://www.carabineros.cl/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=102053

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 12. Dezember 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2012