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INTERNATIONAL/176: Pakistan - Minderheit der Sikh erlebt Rückfall ins dunkle Zeitalter (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. November 2014

Pakistan:
Bedroht, verfolgt und vertrieben - Minderheit der Sikh erlebt Rückfall ins dunkle Zeitalter

von Ashfaq Yusufzai


Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Nordpakistanische Sikh werden in den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung bedroht, angegriffen und vertrieben
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Peshawar, Pakistan, 21. November (IPS) - Balwan Singh, ein Ladenbesitzer in der nordpakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa, hat das Renteneintrittsalter längst überschritten. Doch die Chance, seinen wohlverdienten Ruhestand in Sicherheit und Frieden genießen zu können, ist gering. Denn der 84-Jährige gehört der religiösen Minderheit der Sikh an, die von den Taliban und anderen radikalen Gruppen verfolgt werden.

Die 40.000 Sikh, äußerlich an ihren Turbanen erkennbar, fühlen sich dem 182 Millionen Menschen zählenden Pakistan seit jeher verbunden. Sie betrachten das südasiatische Land als den Geburtsort ihres Glaubensgründers Guru Nanak. Seit dem 17. Jahrhundert leben sie mit den Paschtunenvölkern an der Grenze zu Afghanistan zusammen. Doch im letzten Jahrzehnt ist das Leben in den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) für sie immer schwieriger und gefährlicher geworden. In dem einst sicheren Hafen für verfolgte Sikh ist die religiöse Minderheit zur Zielscheibe von Bedrohungen und Übergriffen geworden.

Der Rückfall ins tiefste Mittelalter hat viele Angehörige der Glaubensgemeinschaft veranlasst, ihr Hab und Gut zurückzulassen und das Weite zu suchen. Auch Balwan Sikh gehört dazu. Der in Khbyer Pakhtunkhwa als Binnenflüchtling anerkannte Senior betreibt in der Provinzhauptstadt Peshawar einen Lebensmittelladen. Er ist einer von 200.000 Menschen, die seit Ankunft der Taliban aus Afghanistan im Jahre 2001 die FATA verlassen haben.


Steuer für Nicht-Muslime

Als "Ungläubige" beschimpft, sahen sich die Sikh plötzlich mit einer Welle der Feindseligkeit konfrontiert. Ihre Geschäfte wurden zerstört und viele Mitglieder der Gemeinschaft entführt. Andere wurden von den islamistischen Gruppen zur Zahlung einer sogenannten Steuer für Nicht-Muslime gezwungen. Nach Polizeiangaben wurden allein in den letzten anderthalb Jahren acht Sikh getötet.

Balwan zufolge würden die meisten vertriebenen Sikh lieber heute als morgen heimkehren. "Doch unsere Pläne werden von den Drohungen der Milizen durchkreuzt", sagt er.

Laut Karan Singh, einem Glaubensbruder aus Khyber, einem der sieben FATA-Verwaltungsbezirke, haben Eingaben bei der Regierung, ihnen eine sichere Rückkehr zu ermöglichen, zu nichts geführt. "Vielleicht will die Regierung die Taliban nicht provozieren", könnte sich der 51-Jährige, der eine Apotheke in Peshawar betreibt, vorstellen. "Die Geschäfte gehen mehr schlecht als recht", wie er sagt. "In Khyber hatten wir recht gut verdient, doch unsere Rücklagen sind inzwischen erschöpft."

Viele Sikh waren in den FATA Unternehmer gewesen, die ihren Beitrag zur Wirtschaft Nordpakistans geleistet hatten. Doch inzwischen wurden hunderte Geschäfte geschlossen. Zahlreiche Sikh sind inzwischen auf Hilfe der Regierung angewiesen. Obwohl eine Durchschnittsfamilie umgerechnet 500 US-Dollar im Monat zum Leben braucht, belaufen sich die staatlichen Hilfszuwendungen auf gerade einmal 200 Dollar.

Die Lage hat sich seit Juni, dem Beginn einer Militäroffensive im FATA-Bezirk Nord-Waziristan, weiter verschlechtert. Die Operation, die die bewaffneten Milizen ein für alle Male besiegen soll, hat eine erneute Massenflucht in Gang gesetzt. Unter den Flüchtlingen in Richtung Peshawar befanden sich auch 500 Sikh-Familien. Sie leben derzeit in provisorischen Unterkünften und sind haben keine Möglichkeit, sich ihren Unterhalt zu verdienen, sich medizinisch versorgen zu lassen und ihre Kinder zur Schule zu schicken.

Während andere Flüchtlingsfamilien die Lager verlassen konnten, um woanders neu anzufangen, klagen Sikh, ständig von den Behörden ignoriert zu werden. "Wir haben bei den von der Regierung eingerichteten Meldestellen vorgesprochen. Doch das war vergeblich", berichtet Karan.

Nazir S. Bhatti, Vorsitzender der christischen Partei Pakistanischer Christlicher Kongress, weiß von 65 christlichen, 15 hinduistischen und 20 Sikh-Familien, die seit ihrer Flucht aus Nord-Waziristan auf ihre Registrierung warten. Solange diese nicht erfolgt, haben die Antragsteller keinen Anspruch auf staatliche Nothilfe.


Religiöse Toleranz derzeit chancenlos

Eine solche Diskriminierung ist Experten zufolge einer pluralistischen Gesellschaft alles andere als förderlich. Nach Aussagen von Muhammad Rafiq, einem Professor des geschichtlichen Seminars an der Universität von Peshawar, stehen die Zeichen für ein religiöses Miteinander und friedliche Koexistenz derzeit sehr schlecht.

Wie er erläutert, werden die Sikh nicht nur von den Taliban, sondern auch von anderen islamischen Fundamentalisten attackiert und als Nicht-Muslime und Gefahr für den Islam verteufelt. Aus den gleichen Gründen werden auch Christen und Hindus diskriminiert, eingeschüchtert, angegriffen und vertrieben.

Die Entführungen von zehn Sikh, für die Lösegelder verlangt wurden, haben viele Angehörige der Glaubensgruppe zur Flucht nach Peshawar und in andere Städte veranlasst. Das berichtet Sardar Bishon Singh, der ehemalige Vorsitzende der Sikh-Vereinigung 'Pakistan Sikh Gurdwara Parbandhak Committee' (PSGPC). Bishons Geschäft in Lahore, der Hauptstadt der Provinz Punjab, war im September ausgeraubt worden. Obwohl die Gangster umgerechnet 80.000 Dollar erbeutet hätten, habe sich die Polizei aus Angst vor den Taliban nicht getraut, seine Anzeige aufzunehmen.

Viele Experten sind der Meinung, dass dem Problem nicht nur religiöse sondern auch politische Ursachen zugrunde liegen. So ist nach Meinung von Javid Shah, einem Anwalt in Lahore, die Diskriminierung bereits politisch angelegt. Ausschließlich Muslime hätten das Recht, Staats- und Regierungschefs des südasiatischen Landes zu werden. Nur Muslime könnten Richter am Bundes-Scharia-Gericht werden, das über die Macht verfügt, Gesetze abzuschmettern, die angeblich unislamisch sind. Solche in der Verfassung festgeschriebenen Bestimmungen sorgten dafür, dass Pakistans Muslime die Angehörigen von Minderheiten als Bürger zweiter Klasse behandelten - mit manchmal tödlichen Folgen.

Am 14. März waren zwei Sikh von Unbekannten im Bezirk Charsadda in Khyber Pakhtunkhwa ermordet worden. Am 6. August tötete ein bewaffneter Motorradfahrer den Sikh-Händler Jagmohan Singh auf dem Marktplatz von Peshawar und verletzte zwei weitere Sikh. "Wir sind mit niemandem verfeindet", meinte Pram Singh, einer der Verletzten. "Das geschieht alles nur, weil die Taliban eine Kampagne gestartet haben, um uns zu vernichten."

Während Zeugenaussagen immer wieder auf Nachlässigkeiten von Seiten der Behörden schließen lassen, gibt es andere, die der Meinung sind, dass die staatlichen Stellen ihr Bestes tun, um die Situation in den Griff zu bekommen. Wie Sardar Sooran Singh, ein Abgeordneter in Khyber Pakhtunkhwa, versichert, liegt der Regierung die Sicherheit der Sikh, die die gleichen Rechte wie Muslime genießen würde, am Herzen.

Der Polizeichef von Peshawar, Najibullah Khanm, betont, dass die Sicherheitskräfte ihre Patrouillen an Stellen verstärkt hätten, wo die Geschäfte von Sikh besonders leicht zur Zielscheibe von Übergriffen werden könnten. "Wir haben den Sikh auch nahelegt, nachts nicht mehr vor die Tür zu gehen und uns sofort zu informieren, wenn ihre Sicherheit gefährdet ist." (Ende/IPS/kb/2014)


Link:
http://www.ipsnews.net/2014/11/pakistani-sikhs-back-in-the-dark-ages-of-religious-persecution/

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IPS-Tagesdienst vom 21. November 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2014