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INTERNATIONAL/456: Mexiko - Ranghohe Militärs im Fall der 43 verschwundenen Studenten mitverantwortlich (Philipp Gerber)


Wahrheitskommission Mexiko:
Ranghohe Militärs im Fall der 43 verschwundenen Studenten mitverantwortlich

82 Haftbefehle gegen mutmaßliche Täter im Fall der Verschwundenen von Ayotzinapa, darunter 20 Militärs. Angehörige fordern weitere Aufklärung

von Philipp Gerber, 28. August 2022


Mexiko-Stadt. Ranghohe Militärs waren direkt für die Repression gegen die Studenten von Ayotzinapa in Iguala im September 2014 mitverantwortlich. Dies gab Unterstaatssekretär Alejandro Encinas Rodríguez am 26. August auf einer Pressekonferenz [1] im Präsidentenpalast in Mexiko-Stadt bekannt.

Encinas ist Vorsitzender der Wahrheitskommission zum Fall Ayotzinapa (Covaj), die Präsident Andrés Manuel López Obrador 2019 per Dekret einsetzte.

Der damalige Oberst José Rodríguez Pérez, zur Zeit der Ereignisse Kommandeur der 27. Infanteriebrigade mit Sitz in Iguala, ordnete laut Encinas die Hinrichtung und das Verschwindenlassen von sechs Studenten aus Ayotzinapa an, die zu den 43 Verschwundenen gehörten. Diese sechs jungen Männer sind laut der Wahrheitskommission noch Tage nach der Nacht der geballten Repression von Polizei, Mafias und Militär vom 26. auf den 27. September 2014 am Leben gewesen.

"Es ist zu vermuten, dass sechs der Studenten bis vier Tage nach den Ereignissen noch am Leben waren und dass sie auf Befehl des sogenannten Oberst, mutmaßlich des damaligen Oberst José Rodríguez Pérez, getötet wurden und verschwanden", sagte [2] Encinas.

Der Schlussbericht der Wahrheitskommission erwähnt, dass in den Textnachrichten von Akteuren der organisierten Kriminalität eine Person namens "El Coronel" ("Der Oberst") am 30. September 2014 Bescheid gab, "dass sie sich um die Aufräumarbeiten kümmern würden und dass sie sich bereits um die sechs Studenten gekümmert hätten, die in einem Lagerhaus am Leben gelassen worden waren". Mit dieser Anschuldigung gegen Rodríguez Pérez klagt [3] erstmals eine Bundesbehörde explizit einen hohen Militär der Verbrechen von Iguala an.

Rodríguez Pérez hat gemäß der Wahrheitskommission seinen Vorgesetzten, General Alejandro Saavedra Hernández, damals Kommandeur der 35. Militärzone mit Sitz in Chilpancingo, Guerrero, über die Ereignisse in Iguala genau in Kenntnis gesetzt. Gegen beide Männer wurde Haftbefehl erlassen [4].

Im Zuge der 82 neu ausgestellten Haftbefehle gegen mutmaßliche Täter im Fall Ayotzinapa werden nun insgesamt 20 Militärs angeklagt.

Damit wird eine Kehrtwende in der Aufarbeitung des Falls Ayotzinapa vollzogen. Der damalige Verteidigungsminister, General Salvador Cienfuegos Zepeda, nahm die Truppe kollektiv in Schutz. Cienfuegos behauptete, die in Iguala kasernierten Soldaten hätten von den Ereignissen auf den Straßen der Stadt nichts mitgekriegt. Er verhinderte auch die Suche nach den 43 Verschwundenen in Militäreinrichtungen oder Zeugenaussagen von Soldaten.

Ein Jahr nach den Ereignissen von Iguala wurde Rodríguez Pérez zum Brigadegeneral befördert. Auch General Saavedra Hernández machte [5] weiter Karriere, wurde Divisionsgeneral und kommandierte eine Militärregion. Im letzten Regierungsjahr von Präsident Enrique Peña Nieto war Saavedra der Stabschef der Nationalen Verteidigung. Nach dem Amtsantritt von López Obrador empfahl General Cienfuegos den General Saavedra als seinen Nachfolger für den Posten des Verteidigungsministers, was López Obrador ablehnte. Saavedra bekam jedoch die Führung des Sozialversicherungsinstituts der Streitkräfte, bis er 2021 in Pension ging.

Gegen den vergangene Woche verhafteten ehemaligen Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam, der für den Fall Iguala zuständig war, ist inzwischen Aklage wegen "der Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens, der Folter und des Verstoßes gegen die ordnungsgemäße Rechtspflege im Fall Ayotzinapa" erhoben [6] worden.

Einige Tage nach dem am 17. August veröffentlichten Schlussbericht der Wahrheitskommission zu Ayotzinapa gaben [7] auch die Angehörigen der 43 verschwundenen Studenten ihre Position dazu bekannt. Sie begrüßen die Fortschritte bei der Aufklärung der Verbrechen und das klare Benennen der kriminellen Zusammenarbeit von lokalen Behörden, Mafias und Militärs. Doch dass nur drei der 43 Verschwundenen identifiziert werden konnten und es von weiteren 40 keine Spur gibt und es keine Indizien gibt, sie noch lebend zu finden, ist ein herber Schlag für Familien.

Sie wollen sich nicht mit der Aussage abfinden, dass ihre Söhne tot sind: "Wir Mütter und Väter brauchen unbestreitbare wissenschaftliche Beweise für das Schicksal unserer Kinder. Wir können nicht mit vorläufigen Hinweisen nach Hause gehen, die nicht vollständig klären, wo sie sind und was mit ihnen geschehen ist".

Am 26. September 2022 wird sich die blutige Nacht von Iguala zum achten Mal jähren, in der nicht nur 43 Lehramtsstudenten verschwanden, sondern auch drei Studierende und drei weitere Zivilisten ermordet wurden. Unter den Verletzten, die die Repression überlebten, befindet sich Aldo Gutiérrez Solano, der aufgrund seiner Hirnverletzung seither im Koma liegt. Insgesamt wurden bei diesem mutmaßlichen Staatsverbrechen 50 Leben zerstört.

Fast acht Jahre nach der Nacht von Iguala "hält die Dunkelheit an, die Morgendämmerung erscheint nicht am Horizont. Es ist, als wäre die Zeit in jener regnerischen und dunklen Nacht des 26. September stehen geblieben", schreiben die Angehörigen von Ayotzinapa.


Anmerkungen:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=iBcgr6M7GDA
[2] http://https://www.sinembargo.mx/26-08-2022/4243822
[3] http://https://www.jornada.com.mx/2022/08/27/politica/003n1pol
[4] https://www.jornada.com.mx/2022/08/27/politica/003n1pol
[5] https://www.sinembargo.mx/23-08-2022/4241184
[6] https://www.elsoldemexico.com.mx/mexico/sociedad/caso-ayotzinapa-jesus-murillo-karam-enfrenta-juicio-por-verdad-historica-sobre-43-normalistas-8767736.html
[7] https://www.tlachinollan.org/entre-el-dolor-y-la-esperanza-8-anos-de-lucha-por-la-verdad/


Erstveröffentlicht auf amerika21:
https://amerika21.de/2022/08/259775/mexiko-iguala-militaers-verantwortlich

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Quelle:
© 2022 by Philipp Gerber
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 30. August 2022

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