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MELDUNG/003: Nahost - Palästinensische Kinder im Visier israelischer Sicherheitskräfte (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Juni 2011

Nahost: Palästinensische Kinder im Visier israelischer Sicherheitskräfte

Von Mel Frykberg

Junge in Nabi Saleh (li.), verletzt durch Tränengaskanister, mit denen die israelische Armee eine friedliche Demonstration auflöste - Bild: © Mel Frykberg/IPS

Junge in Nabi Saleh (li.), verletzt durch Tränengaskanister, mit
denen die israelische Armee eine friedliche Demonstration auflöste
Bild: © Mel Frykberg/IPS

Silwan, Ostjerusalem, 20. Juni (IPS) - "Papa, bitte hilf mir. Lass nicht zu, dass sie mich mitnehmen!", weinte der zwölfjährige Ahmed Siyam, als etwa 50 schwer bewaffnete israelische Soldaten und Polizisten den Jungen mitten in der Nacht in Handschellen und mit verbundenen Augen aus seinem Elternhaus abführten.

Agenten des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet hatten sich im letzten Monat um vier Uhr morgens Zutritt zu Ahmeds Haus verschafft. Sie holten den Jungen aus dem Bett und brachten ihn zu einer Polizeistation im russischen Bezirk Westjerusalems. Dort warfen sie ihm vor, israelische Sicherheitskräfte bei Zusammenstößen mit palästinensischen Jugendlichen im Ostjerusalemer Stadtteil Silwan mit Steinen beworfen zu haben.

In Silwan kommt es regelmäßig zu Konfrontationen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen jungen Palästinensern auf der einen Seite und illegalen israelischen Siedlern, Soldaten und Polizisten auf der anderen Seite. Auslöser der Unruhen ist die Vertreibung von hunderten Palästinensern aus ihren Häusern in Ostjerusalem. Dutzende Gebäude wurden bereits zerstört, weitere sind vom Abriss bedroht. Dahinter steckt eine gezielte, nach internationalem Recht illegale Vertreibungspolitik der israelischen Behörden zugunsten israelischer Siedler.


Festnahmen ohne Haftbefehl

Bei dem nächtlichen Überfall der israelischen Soldaten und Polizei hatte Ahmeds Vater vergeblich die Vorlage eines Haftbefehls verlangt. "Sie fragten mich, wo Ahmed steckt. Als ich wissen wollte, was gegen den Jungen vorliegt, verboten sie mir den Mund und schlugen mich", berichtete Daoud Siyam IPS.

Danach drangen sie in Ahmeds Zimmer ein, holten den Zwölfjährigen aus Bett und zerrten ihn in ein vor dem Haus wartendes Polizeiauto. "Sie sagten uns nicht, wohin sie unseren Sohn bringen würden und verhinderten mit Gewalt, dass ich ihn begleitete", erzählte der Vater.

Am nächsten Morgen kostete es unzählige Anrufe, bis die Familie den Aufenthaltsort ihres Jungen herausfand. Erst mit Hilfe eines Anwalts gelang es dem Vater Stunden später, mit Ahmed zu sprechen. "Er war zutiefst traumatisiert und weinte", erinnerte sich der Vater.

"Ich hatte Angst und konnte nicht sehen, wohin wir fuhren. Meine Hände waren mit Handschellen fest hinter meinem Rücken zusammengebunden", so Ahmed gegenüber IPS. "Als ich ihnen sagte, ich sei durstig und müsse mal, traten sie mich. Stundenlang wurde ich ausgefragt und beschuldigt, Steine geworfen zu haben. Das stimmt aber nicht."

Anfang Juni war Ahmeds Cousin, der siebenjährige Ali Siyam, unter ähnlichen Umständen verhaftet worden. Auch diesmal lautete der Vorwurf, israelische Sicherheitskräfte mit Steinen beworfen zu haben. Als Alis Vater Muhammad versuchte, seinen Sohn vor der Verhaftung durch Dutzende israelische Sicherheitskräfte zu schützen, wurde er mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen. Seine Kopfverletzung musste in einem Krankenhaus behandelt werden. Alis Tante, die ebenfalls intervenierte, wurde mit einem Schuss außer Gefecht gesetzt und musste ebenfalls stationär versorgt werden.

Auch Ali wurde in die Polizeistation im russischen Bezirk gebracht. Seiner israelischen Anwältin Lea Tzemel wurde zunächst der Zugang zu ihrem Mandanten verweigert und bei dem Versuch, an den Wachen vorbei zu kommen, wurde sie festgenommen. Erst nach einem heftigen Wortwechsel setzte sie sich durch und konnte ihren minderjährigen Mandanten sehen. Nach Stunden kam er frei.

Der zwölfjährige Ahmed stand nach seiner Freilassung einen Monat unter Hausarrest. Er durfte nicht zur Schule gehen. Im nächsten Monat wird er sich gerichtlich wegen des Vorwurfs verantworten, Steine auf Israels Sicherheitskräfte geworfen zu haben.

Der palästinensischen Sektion des internationalen Kinderhilfswerks 'Defence International for Children' (DCI) zufolge leitete die israelische Polizei zwischen November 2009 und Oktober 2010 1.267 strafrechtliche Verfahren gegen palästinensische Kinder ein, die in Ostjerusalem israelische Sicherheitskräfte und Siedler mit Steinen geworfen haben sollen. Die israelische Menschenrechtsgruppe 'B'tselem' berichtete, dass 31 der betroffenen Heranwachsenden in Silwan zu Hause sind.

Die Hälfte der (1.267) Kinder wurden in Abwesenheit ihrer Eltern oder eines Anwalts verhört. "Viele wurden angeschrieen, bedroht, misshandelt und zu fragwürdigen Aussagen genötigt", betonte der DCI-Rechtsanwalt Gerard Horton. Die meist nachts in Handschellen und mit verbundenen Augen aus ihren Häusern abgeführten Kinder seien zum Zeitpunkt der Verhöre bereits traumatisiert und nicht mehr fähig gewesen, dem auf sie ausgeübten Druck zu widerstehen.

Noch schlimmer ergeht es palästinensischen Kindern, die im Westjordanland ins Visier der israelischen Sicherheitskräfte geraten. Hier sind sie dem israelischen Militärrecht unterworfen und können bis zu acht Tagen in Haft gehalten werden, bis sie einem Militärrichter vorgeführt werden.

"Wir hatten einen Fall, in dem drei Kinder bei einem Verhör von israelischen Soldaten über eine der Siedlungen mit hinter dem Rücken gebundenen Händen mit Elektroschocks gefoltert wurden.", berichtete Horton im IPS-Gespräch. "Anderen drohte man damit, die Häuser ihrer Familien in die Luft zu sprengen oder mit Vergewaltigung."

In den letzten Wochen wurden mehr als 25 palästinensische Kinder in Silwan festgenommen. Im Mai erschoss der Wächter einer israelischen Siedlung den 17-jährigen Milad Ayyash mit der Begründung, der Jugendliche sei in Zusammenstöße verwickelt gewesen.


Opfer zu Tätern, Täter zu Opfer

Im letzten Jahr war auf einer Videoaufzeichnung zu sehen, wie ein junger Palästinenser in Silwan von einem Auto überfahren wurde. Die Aufnahme zeigt, dass der Fahrer, ein israelischer Siedler, gezielt auf sein Opfer zufuhr. Dass ein israelisches Autounternehmen das Bildmaterial verwendete, um für die Widerstandsfähigkeit seiner Fahrzeuge zu werben, löste Empörung aus.

Der Junge, der ebenfals Steine geworfen haben soll, hatte Brüche erlitten und musste im Krankenhaus behandelt werden. Danach wurde er festgenommen. Gegen den Fahrer hingegen wurde keine Anklage erhoben. (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.dci-palestine.org/
http://www.btselem.org/
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=56112

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2011