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STANDPUNKT/010: Politischer Hungerstreik in türkischen Gefängnissen und in Europa (Rote Hilfe)


Weitergeleitete Pressemitteilung der Kurdischen Studierendenverbände JXK und YXK vom 19. Dezember 2018

Politischer Hungerstreik in türkischen Gefängnissen und in Europa


Seit dem 07. November 2018, also seit nun 42 Tagen, befindet sich die kurdische Politikerin und HDP-Abgeordnete Leyla Güven im Hungerstreik, um auf die derzeitige Lage Abdullah Öcalans aufmerksam zu machen. Sie erklärte dazu in einer Grußbotschaft: "Ich werde meine Aktion fortsetzen, bis ich eine Antwort erhalten habe. Ich weiß, dass dies ein gerechter Kampf ist und wir siegen werden."

Von Abdullah Öcalan, dem Repräsentanten der kurdischen Bevölkerung, der sich seit seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus der griechischen Botschaft im kenianischen Nairobi am 15. Februar 1999 in türkischer Isolationshaft befindet, gibt es seit dem 11. September 2016 kein Lebenszeichen mehr. Bereits seit dem 27. Juli 2011 haben zudem keine Anwaltsgespräche mehr mit dem Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung stattgefunden.

Um gegen das Unrechtssystem in der Türkei zu protestieren, trat die seit Anfang des Jahres wegen ihrer Kritik an der türkisch-faschistischen Militärinvasion in Afrin inhaftierte HDP-Abgeordnete Leyla Güven am 7. November in einen unbefristeten Hungerstreik.

Leyla Güven löste mit ihrer Aktion eine Welle der Solidarität aus: Neben zahlreichen weiteren politischen Gefangenen, die sich am 27. November dem Hungerstreik von Leyla Güven angeschlossen haben, finden nun auch in vielen anderen Orten der Türkei und Nordkurdistans Solidaritätsstreiks statt.

Vor wenigen Tagen hat die Solidaritätswelle auch Rojava (Nordsyrien) erreicht.

Auch in Europa leiteten Kurdinnen und Kurden ab dem 6. Dezember in vielen Städten einen Solidaritätshungerstreik ein. Zahlreiche Aktivist_innen aus Hamburg, Köln, Darmstadt, Hildesheim, Frankfurt, Stuttgart, Berlin, Nürnberg, London, Bern, Wien, Marseille, Athen, Stockholm, Den Haag und Paris beteiligten sich an dem Hungerstreik. Am 17. Dezember 2018 wurde in Straßburg ein unbefristeter Hungerstreik mit 18 Teilnehmenden ausgerufen und wird aktuell fern von der europäischen Öffentlichkeit abgehalten.

Protestform hat einen neuen Höhepunkt erlangt:

Zur Zeit erreichen uns zahlreiche Nachrichten aus türkischen Gefängnissen darüber, dass sich immer mehr kurdische Gefangene dazu entschieden haben, in einen unbefristeten Hungerstreik zu treten, um gegen die Isolation Öcalans und gegen die türkische Invasion in Rojava zu protestieren.

Der Hungerstreik ist die radikalste Aktionsform für politische Gefangene und Aktivist_innen, um auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Sie ist ein selbstloser Akt zur Bekanntmachung von drängenden Missständen und gleichzeitig ein Aufruf an die Gesellschaft, Solidarität praktisch werden zu lassen.

Zuletzt ging der türkische Staat mit zahlreichen Verhaftungen und Foltermethoden gegen aus Solidarität Hungerstreikende vor. In zahlreichen Städten in der Türkei wurden dutzende Hungerstreikende festgenommen. Türkische Polizisten stürmten dafür Vereinshäuser der HDP und private Wohnungen kurdischer Bürgerinnen und Bürger. Die türkische Regierung unternimmt jede Art repressiver Maßnahmen, um den Widerstand gegen Staatsstrukturen zu brechen und zu unterbinden.

Sowohl hinter den türkischen Gefängnismauern, als auch in der aktuellen politischen Lage um Kurdistan wiederholt sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit die Geschichte.

In der Türkei lässt sich, aus kurdischer Sicht, eine den Zeiten des Militärputsches vor 40 Jahren ähnelnde politische Landschaft verzeichnen.

Jegliche politische Aktivität von Kurd_innen wird auf das Terrain der Illegalität gedrängt. Zusätzlich wird versucht, Aktivist_innen durch repressive Methoden einzuschüchtern. Auch hier in der Bundesrepublik erkennen wir dieselben Kriminalisierungsformen, die uns an türkische Verhältnisse erinnern. Um gegen das faschistische, menschenverachtende und gewaltsame Vorgehen des türkischen Staates vorzugehen bzw. diesem ein Ende zu setzen, ist die Beendigung der Totalistolation von Abdullah Öcalan von höchster Bedeutung.

Zum Hintergrund des Hungerstreiks:

Abdullah Öcalan gilt in der Türkei seit Jahrzehnten als Staatsfeind Nummer 1.
Ihm gelang es, die unterdrückte kurdische Gesellschaft zu einem historischen Aufstand zu bewegen und einen kollektiven Widerstand gegen die etlichen Vernichtungs- und Assimilierungsversuche der türkischen Regierung auszurufen, der heute zum Existenzgaranten der Kurdinnen und Kurden wurde.

Öcalan schaffte es, die Kurdinnen und Kurden von der Notwendigkeit einer demokratischen und konföderalistischen Alternative zu überzeugen. Damit wurde die Idee eines eigenen Staates überschrieben und verabschiedet. Er legte zudem die theoretischen und praktischen Grundlagen für die Revolution in Rojava, die Befreiung der Frau, ein ökologisch gerechtes Leben und das HDP-Projekt in der Türkei.

Trotz Gefängnismauern und eingeschränkter Möglichkeiten inspirierte er Millionen Menschen. In Rojava bauten die Menschen nach seinen Ideen eine multiethnische, multireligiöse und demokratische Gesellschaftsalternative auf. Öcalan widmete sein Leben dem Kampf für Demokratie, Frieden und der Lösung der kurdischen Frage. Er initiierte zahlreiche einseitige Waffenstillstände und unterbreitete konstruktive Lösungsvorschläge, um den von der türkischen Regierung erschaffenen Konflikt zu beheben. Auch Regierungen der Türkei suchten oftmals den Kontakt zu ihm und gaben damit deutlich zu verstehen, dass sie Öcalan als Schlüsselrolle für eine Lösung des Konflikts anerkennen.
Zwischen 2012 und 2015 führte selbst die AKP-Regierung Verhandlungen mit ihm. Darin schlug Öcalan einen schrittweisen Friedensplan vor: Von vertrauensbildenden Maßnahmen über einen Waffenstillstand unter internationaler Beobachtung bis hin zu einer dauerhaften politischen Lösung der kurdischen Frage.

Die Verhandlungen wurden im April 2015 (offiziell jedoch schon viel früher) seitens der Türkei abgebrochen und mit blutigen Massakern an der kurdischen Bevölkerung beantwortet. Der türkische Staat zeigte sich bis heute nicht bereit, Lösungen für Konflikte zu liefern oder Vergangenes aufzuarbeiten. Er setzt auf Vergesellschaftung einer rassistischen und hetzerischen Ideologie und auf die systematische Verfolgung, Ausgrenzung und Tötung von ethnischen, religiösen, politischen und sexuellen Minderheiten.

"Feindbild" Öcalan - die Angst vor dem Fortschritt

Öcalans Ideen des demokratischen Konföderalismus, dessen Grundpfeiler die Basisdemokratie, die Frauenbefreiung, Antikapitalismus, Geschlechterbefreiung und ein ausgeprägtes ökologisches Bewusstsein sind, besitzen heute internationalen Charakter und verbreiteten sich weltweit.

Besonders die politische Organisierung, Pluralismus und die Autonomie der Kurdinnen und Kurden, hat für den ethnisch-nationalistischen Staat der Türkei seit Jahrhunderten hohes Gefahrenpotenzial.

Aus diesem Grund richtet sich die totale Isolation von Öcalan nicht nur gegen ihn als Person. Sie betrifft 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger und ebenso die Zukunft der Türkei. Denn zusammen mit der Isolation wurde die Entscheidung zum faschistisch motivierten Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden getroffen.

Der Aufstand der Hungerstreikenden mit seinen Hintergründen muss in einen globalen Kontext gesetzt werden. Menschenrechte dürfen nicht aberkannt und völkerrechtswidrige Verbrechen nicht unbenannt und legitim sein!

Aus diesem Grund bitten wir um eine dringende Berichterstattung und um das Ende der Informations-Abkapslung aus kurdischen Regionen.

Erst das Thematisieren und Zutagetreten der aktuellen Geschehnisse kann zur Sensibilisierung der Gesellschaft für vorliegende Missstände sorgen. Die Forderungen der Hungerstreikenden müssen erhört und publiziert werden.

#KurdsOnHungerstrike

YXK (Verband der Studierenden aus Kurdistan)
JXK (Studierende Frauen aus Kurdistan)

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Quelle:
Bundesvorstand Rote Hilfe e.V.
Bundesgeschäftsstelle, Postfach 32 55, 37022 Göttingen
Telefon: 0551/770 80 08; Fax: 0551/770 80 09
E-Mail: bundesvorstand@rote-hilfe.de
Internet: www.rote-hilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2018

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