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SCHACH-SPHINX/05477: Arg fehlgegriffen (SB)


Sonderbar, aber wahr, unter den Schachmeistern macht sich eine zunehmende Tendenz zur Kunst-Desinteressiertheit breit. Jede Stadt hat ihre Reize, ihre Museen, ihre Galerien, und Schachspieler kommen in der Welt weit herum. Doch für die Werke ihrer Seelenbrüder, die statt der Schachfigur den Pinsel oder Meißel führen, sind sie taub, stumm und blind. Rühmliche Ausnahme aus dem Haufen schachspielender Kulturbanausen ist der FIDE-Weltmeister Anatoli Karpow. Noch nicht lange ist es her, da beklagte er: "Ich habe noch nie einen Kollegen getroffen, der mit mir eine Kunstgalerie besuchen würde." Die Kunst stirbt, hatte vor einiger Zeit auch Viktor Kortschnoj angemahnt, aber er selbst scheint ebenfalls auf einem Bleifuß zu stehen, wenn in der Nähe von Turnierhallen große Maler ausgestellt werden. Das war nicht immer so. Früher, als Allgemeinbildung noch nicht hieß, die Finalisten der letzten fünf Fußball-Weltmeisterschaften auswendig zu kennen oder zu wissen, welche Augenfarbe Tennis-Star Boris Becker hat, war Bildung kein Standard, sondern fortwährende Entwicklung. Der edle Geist scheint der Geschichte anheimzufallen, vernachlässigt von actiongefütterten Hirnen und Hardcore-Tapetenstilisten. "Da gibt die Nacht allem und jedem ihren schwarzen Anstrich", so Artur Schopenhauer. Konjunktur für Pessimisten? Recht lebhaft ging es dagegen beim Turnier in der Gondelstadt Venedig zu. Der millionenschwere Schiffsmagnat Szabados hatte in seine Spendier- und Mäzenatenhose gegriffen und 1953 namhafte Meister eingeladen. Meister Canal trug zuletzt den Siegeslorbeer auf dem Haupt. Nicht immer hatte er jedoch brillant gespielt, manchesmal, wie zum Beispiel gegen den belgischen Meister Dunkelblum, griff er, offenbar im rauschenden Überschwang, arg fehl. Im heutigen Rätsel der Sphinx zog er alsdann mit den schwarzen Steinen 1...De6xe5?? und ärgerte sich hinterher bis zum Grund des Mittelmeeres. Warum, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05477: Arg fehlgegriffen (SB)

Dunkelblum - Canal
Venedig 1953

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Hübners excellentes Rechenhirn und Augenmaß ließen ihn gegen Viktor Kortschnoj sträflichst in Stich. Mit 1.Sf5xg7? schoß er einen Riesenbock. Kortschnoj spielte gelassen 1...Db6-b4+ 2.c2-c3 Db4xb2 3.Ta1-d1 Db2xc3+ 4.Td1-d2 h7-h6! - der Widerlegungszug - und siegte bequem nach 5.Sg7-e8 Sc5-e4. Völlig zerknirscht gab Hübner auf.


Erstveröffentlichung am 07. Juni 2002

17. Mai 2015


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