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SCHACH-SPHINX/05960: Flüchtigkeit des Fassens (SB)


Die Gedanken sind es, die den Charakter verraten, so urteilen die Moralisten. Die Psychologen sind da anderer Meinung. Ihr Blickfeld richtet sich auf das Verhalten. Und irgendwo dazwischen vermuten beide Disziplinen den Menschen, jeder auf seine Art. Auch unter den Schachmeistern gibt es sowohl Moralisten als auch Psychologen. Der Moralist versteift sich und predigt: So spielt man nicht, das führt zu nichts. Seine Bibel ist die Enzyklopädie. Der psychologisch gesinnte Spieler scheint da geschickter zu sein. Er betrachtet die Stellungen und glaubt deren Eigentümlichkeit zu erkennen. Also setzt er sein Vertrauen und Gelingen in die vermeintliche Vorhersagbarkeit der gegnerischen Schritte. Ein gordischer Knoten in beiderlei Fällen. Bloß, wer wird Alexander sein? Blaise Pascal setzte beides zusammen: "Zwei Arten von Menschen gibt es: Die einen sind gerecht und halten sich für Sünder; die anderen sind Sünder und halten sich für gerecht." Facetten desselben Irrtums also? Gehen wir einen Schritt zurück. Was bleibt, sind Figuren auf dem Brett. 16 auf jeder Seite. Strenggenommen sind es 17. Und hier liegt auch der Knackpunkt des Ganzen. Irgendwo in dieser um Zusammenhalt ringenden Position von wechselnder Farbe und Richtung steckt der Spieler selbst. Aufmerksamkeit ist ein nettes Wort. Es klingt so umfassend, so gänzlich lückenlos. Doch hat man den Bauern da links im Eck wirklich im Auge? Oder den Springer, der lustlos auf seinem Schandfleck hockt? Partiell wie alles Denken, verteilt sich der menschliche Geist auf dem Brett, und in dieser Flüchtigkeit des Fassens ist er mal hier, mal dort. Ein Schachmeister hat einmal gesagt, daß die Kunst darin bestünde, immer dort zu sein, wo der andere es am wenigsten vermutet. Also, Wanderer, kann es Sünder ohne Gerechte geben? Versündigt hatte sich im heutigen Rätsel der Sphinx jedenfalls Meister Belsitzmann an seiner Stellung, so daß sein Kontrahent Rubinstein, mit Schwarz am Zuge, zum gerechten Matt kam!



SCHACH-SPHINX/05960: Flüchtigkeit des Fassens (SB)

Belsitzmann - Rubinstein
Warschau 1917

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Ob aus Glas oder Stahl, der Schlag aufs Kinn legte Meister Marshall auf die Bretter: 1.Dh5xh6! g7xh6 2.g6xf7+ Kg8-h7 3.f7-f8S+ Kh7-h8 4.Tg1-g8#


Erstveröffentlichung am 27. September 2003

16. September 2016


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