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SCHACH-SPHINX/06590: Moralfreie Gedanken (SB)


Der österreichische Angriffskünstler Rudolf Spielmann hatte den Laienspielern einen einfachen, aber ungemein wirksamen Rat gegeben, nämlich während einer Partie nicht quälend lange darüber nachzusinnen, was der beste aller Züge sein könnte, sondern unter dem Angebot mehrerer guter Züge einen auszuwählen. Seit Siegbert Tarrasch spuckt der Gedanken in den Köpfen der Schachspieler herum, daß es in jeder Stellung ein Nonplusultra geben müsse, einen Zug, der gleichsam in die verborgendste Tiefe hinabführt und solchergestalt sei, daß er den Sieg mit unbestechlicher Authentizität herbeizwingt. Wir alle haben irgendwann einmal in unserer Entwicklung in Tarraschs Lehrbüchern die Nase hineingesteckt und fühlten uns umschmeichelt von der Möglichkeit, diesen geheimnisvollen Zug finden zu können. Und unversehends waren wir dadurch in die Moralpranke des deutschen Großmeisters geraten, dessen schulmeisterlicher Charakter fast schon sprichwörtlich geworden ist. Moral? fragt man sich, kann es denn so etwas auf dem Schachbrett geben. Freilich nicht, aber das anerzogene Denken, immer nur das Richtige machen zu müssen, steckt tiefer im Menschen, als man es sich bewußt machen möchte. Wie leicht gehen Anfänger der Schachkunst in die Falle! Da zergrübelt man sich den Kopf nach diesem richtigen Zug, der alle anderen aussticht, so, als gäbe es irgendwo ein unveräußerliches, unantastbares, heiliges Gesetz, das gewissermaßen eine Graduierung der Ideen vornimmt. Kein Zug ist falsch, der einer Stringenz folgt, und noch gibt es keinen Schachmeister, der sagen könnte, was wahr und was falsch ist in den Regionen der Gedanken. Im heutigen Rätsel der Sphinx spielte Weiß nun das aussichtsreiche Opfer 1.Ld3xf5 e6xf5 2.Tf1xf5!?, ein Zug, den Tarrasch vielleicht getadelt und durch 2.Sd6xf5 ersetzt hätte. Aber Weiß hatte sich eben seine eigenen, moralfreien Gedanken gemacht, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/06590: Moralfreie Gedanken (SB)

Crepan - Dizdar
Bled 1994

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Königsgambit, das bedeutet fast immer Kampf wie ein blindwütig sich verzehrendes Feuer, und Rodriguezs Zug 1...Se4-d2! war in der Tat danach, das Spiel des Weißen zu ersticken, aber dieser hatte in 2.Sd3- b4! einen rettenden Einfall. Nun scheiterte 2...Sd2xf1? an 3.Da7-a8+ Sd7-b8 4.Sb4-c6! Kc8-d7 5.Ld1-a4 mit heftigem weißen Angriff. Rodriguez brauchte jedoch nicht zu bangen, denn mit 2...Sd2xf3+ 3.Tf1xf3 Dh5-h2+ 4.Kg1-f1 Dh2-h1+ 5.Da7-g1 Dh1xg1+ 6.Kf1xg1 löste sich alles in Wohlgefallen auf. Nach dem Rückgewinn des geopferten Bauern (g3) wäre die Stellung völlig ausgeglichen gewesen.


Erstveröffentlichung am 12. Juni 2005

9. Juni 2018


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