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REZENSION/008: Karsten Müller & Jonathan Schaeffer - Man vs Machine (SB)


Karsten Müller & Jonathan Schaeffer


Man vs Machine

Challenging Human Supremacy at Chess



Das Schachspiel gilt als Ausdruck hoher geistiger Tätigkeit. Strategische Pläne der Vorausschau und taktische Elemente des Kampfes virtuos miteinander zu verknüpfen und beides systematisch über die Dauer einer Partie fortzuentwickeln, haben dem Schach gegenüber allen anderen Brettspielen, vielleicht mit Ausnahme des japanischen Go, einen exklusiven Stellenwert in der Geistesgeschichte gesichert. Dies wohl auch, weil sich im Schach die Fähigkeit zu denken am klarsten widerspiegelt. Spätestens seit 2006 ist dieser hohe Anspruch des Menschen, auf dem Felde des Schachspiels einen Siegeszug fortzuschreiben, den er über viele Jahrhunderte mit ungebrochener Überzeugungskraft für sich reklamiert hatte, zum historischen Pathos verklungen.

Mit dem Aufkommen der Schachprogramme begann das allein dem Menschen zugesprochene Attribut der Vernunftbegabtheit erst langsam, dann aber im Zuge des digitalen Fortschritts immer rascher zu verblassen. Der Mensch schien sich selbst ins Abseits zu schieben, indem er einen Apparat ersann und allmählich perfektionierte, der die Denk- und Mustererkennungsvorgänge im Schachspiel ungleich präziser zu adaptieren verstand. Die Annahme, daß der Mensch auf seinem ureigenen Felde überflügelt worden sei, setzt freilich voraus, daß er eine denkende Maschine, quasi einen Homunkulus erschaffen habe, der Schachzüge auf der Basis einer universalen Denkfähigkeit generiert. Dabei wird völlig außer acht gelassen, daß Schach im Grunde nichts anderes ist als ein festgefügtes Regelwerk mit einer daraus resultierenden Logik und klar definierten Erfolgsparametern. Dies in eine binäre Sprache zu übersetzen und algorithmisch zu unterfüttern, war das ganze Kunststück der Programmierung. Am Anfang stand jedoch die gesellschaftliche Verklärung eines Brettspiels hin zu einer Ausdrucksform des Denkens, dessen Sonderstellung seit jeher gespeist war von der Befolgung sozialer Regeln in einer auf Gegenseitigkeit organisierten Ordnung menschlicher Existenz.

Ohne diesen Hintergrund und zugleich die Ausweitung der Automation in die Arbeitswelten mit ins Blickfeld zu nehmen, wird man die selektive Erfolgsgeschichte der Schachprogramme nur unzureichend begreifen. Als der seinerzeit höchste Vertreter der Schachkunst, der damalige Weltmeister Garry Kasparow, 1997 ein Vergleichsmatch gegen den IBM-Computer Deep Blue verlor und damit das von ihm medial beschworene Vorhaben zur Ehrenrettung der Menschheit brachial scheiterte, bestand dennoch Hoffnung, daß der Mensch dank seiner kreativen Findigkeit der Rechengewalt der Schachprogramme noch einige Zeit trotzen würde. Und tatsächlich konnten die Meister des Schachbretts, zuletzt Ruslan Ponomariow, der 2005 ein Schachprogramm unter Turnierbedingungen bezwang, noch eine Gnadenfrist herausschinden. Das Menetekel war unterdessen nicht mehr von der Wand wegzuwischen. Das Jahr 2006 geriet schließlich zur unumkehrbaren Zäsur, als Vladimir Kramnik, die letzte Bastion der Menschheit und Nachfolger von Kasparow auf dem Schachthron, in einem Match über sechs Partien gegen Deep Fritz 10 ruhmlos unterging. Die Zeit der Mensch-Maschine-Wettkämpfe war damit zu einem Ende gekommen, die Geschichte hatte ihr Urteil gesprochen. Kein Großmeister kann es heutzutage mit einem arrivierten Schachprogramm aufnehmen. Selbst abgespeckte Versionen auf Smartphones schlagen starke Klubspieler leicht. Die Dominanz liegt voll und ganz auf seiten der Elektronengehirne.

Doch wie kam es zu dieser Wachablösung an der Front schöpferischer Denkleistungen und dem Fall des Menschen unter das Regiment der Künstlichen Intelligenz? Was sich über einen längeren Zeitraum gestaltete, war gekennzeichnet von verschiedentlichen Episoden und Meilensteinen der Innovation. Jedoch fehlte lange eine Gesamtschau auf die Entwicklung moderner Denkapparate und ihres auf dem Terrain des Königlichen Spiels ausgetragenen technologischen Streits mit dem Homo sapiens. Diese Lücke haben zwei Kenner der Szene und Wegbegleiter dieses im Grunde ungleichen Kräfteringens im letzten Jahr mit ihrem Werk "Man vs Machine - Challenging Human Supremacy at Chess" akkurat geschlossen. Der Hamburger Großmeister Karsten Müller, weltweit bekannt als Endspielexperte und Autor diverser Fachbücher, und der kanadische Professor für Informatik, Jonathan Schaeffer, der auf dem Gebiet der KI-Algorithmen für Schach, Dame, Poker und andere Computerspiele als Autorität anerkannt ist, haben diese Geschichte akribisch aufgearbeitet und dabei den Schwerpunkt auf die Chronologie der Anfänge, Rückschläge und Durchbrüche gelegt.

Immer schon war der Verstand des Menschen fasziniert von der Vorstellung einer Mechanik, welche die Muskelkraft vieler Menschen in ein physikalisches Moment bündelte. Daraus resultierende Seilzüge und Hebelsysteme halfen beim Bau von Kathedralen, Wehrburgen und Schlössern. Einmal geweckt und aus der Flasche entlassen war dem menschlichen Erfindungsgeist keine Grenze mehr gesetzt. Als der Mensch lernte, die Beschleunigungswirkung von Explosionen auf Geschosse zu übertragen, markierte dies eine neue Ära im Kriegshandwerk mit all ihren grauenerregenden Konsequenzen. Wesentlich einschneidender mit Blick auf zukünftige Anpassungsprioritäten war das rasante Tempo der industriellen Revolution, die den Menschen in immer kürzeren Zeitabschnitten der Unumkehrbarkeit tiefer sozialer Abhängigkeiten unterwarf. Als rauchende Schlote und dampfgetriebene Lokomotiven die Landschaften seiner Kindheit zerteilten und Smog und Gestank jeden Atemzug zur Qual machten, übte man sich in den Bürgerstuben weiterhin beflissen im Schachspiel. Schließlich waren die Gedanken ja frei.

Einen wenn auch erschwindelten Vorgriff auf die Geschichte selbständig schachspielender Maschinen bedeutete Wolfgang von Kempelens Schachtürke, ein pittoreskes Spielzeug im Grunde, das der österreichisch-ungarische Hofbeamte 1769 konstruiert hatte. Eine lebensgroße Figur in osmanischer Tracht und mit einem Turban auf dem Kopf führte dabei über einen mechanisch bewegten Arm Schachzüge auf einem Brett aus und ließ so den Eindruck entstehen, daß eine Puppe aus totem Material gegen menschliche Kontrahenten Schach spielte. Der Türke erregte bei seinen Auftritten großes Aufsehen, zumal sich nicht erkennen ließ, wo sich im Inneren der Apparatur ein Mensch versteckt hielt und nach welchem Funktionsprinzip die oft siegreiche Mechanik auf die Gegenzüge antwortete. Kempelen war zweifelsohne ein genialer Spielzeugmacher, aber er kann vor den Augen der Geschichte nicht als Pionier der Robotik bestehen.

Es vergingen fast anderthalb Jahrhunderte, bis Leonardo Torres y Quevedo 1912 mit der Entwicklung einer elektronischen Schachmaschine die Tür in eine schwindelerregende Zukunft öffnete, auch wenn El Ajedrecista noch damit rang, mit König und Turm gegen König mattzusetzen. Die ersten Gehversuche waren holperig, aber der Gedanke war damit in die Welt gekommen, eine Apparatur mit einer dem Menschen vergleichbaren Denkfähigkeit zu bauen. Gleichwohl begreift das Autorengespann El Ajedrecista nur als Vorwehe zur Geburtsstunde der Künstlichen Intelligenz, die im Jahre 1941 einsetzte, als Konrad Zuse einen nach heutigen Maßstäben funktionstauglichen Computer erfand und das Schach explizit zum Experimentierfeld seiner Forschung auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz machte.

Einen Epochenschritt auf diesem Gebiet vollzog der britische Mathematiker, Kryptoanalytiker und Informatiker Alan Turing, dem es im Zweiten Weltkrieg gelang, die Verschlüsselungsmaschine Enigma der Nazis zu knacken. Turing machte sich nachdrücklich Gedanken darüber, wie man Schach für Computer applizieren kann. Später formulierte Claude Shannon die Grundsätze für eine Programmierung, die bis heute Geltung haben. In diese Pionierzeit hinein fällt auch die erste Schachpartie zwischen Mensch und Computer aus dem Jahre 1952, als Turing gegen eine Computersimulation antrat. Vier Jahre später schrieben Forscher in Los Alamos das erste Schachprogramm für einen Großrechner. In der Testphase wurden drei Partien ausgetragen, in der letzten gewann das Programm erstmals in der Historie gegen einen Menschen, wenngleich es sich dabei nur um eine Anfängerin handelte.

Müller und Schaeffer erzählen die Geschichte der Künstlichen Intelligenz in einem leicht verständlichen Englisch, ohne ins Triviale abzugleiten, und sie verschweigen auch die immensen Schwierigkeiten und Selbstzweifel nicht, die Forschende dabei hatten, einer Maschine beizubringen, Schach auf einem höheren Level zu spielen. Zwischenzeitlich schien es ihnen leichter zu sein, eine Kaffeemaschine in die Geheimnisse des Schachspiels einzuführen, als Programmen die strategische Befähigung zu Schachkalkulationen zu implementieren. Das menschliche Denken, das es zu adaptieren galt, erwies sich zunächst als Buch mit sieben Siegeln. Computer können in die Tiefe rechnen, es sind reine Berechnungsmaschinen, aber dafür, Stellungen auf dem Brett strategisch zu beurteilen, fehlte ihnen lange Zeit einfach das Verständnis.

Das Buch ist in einzelne Kapitel gegliedert, die die wichtigsten Etappen in der Entwicklung Künstlicher Intelligenz wiedergeben und zugleich die Pannen und Fortschritte im Duell gegen menschliche Gehirne dokumentieren. In den Text hinein sind Kästchen eingebaut mit zeitgenössischen Stellungnahmen und Prognosen namhafter Personen aus der Computerbranche und Meister der Schachkunst. Eingestreute Interviews runden die Zeitbilder lehrreich ab. So erlebt der Leser den Rückblick auf die turbulenten Perioden im Fortgang des Computerschachs beinah wie ein Zeitzeuge mit. Und er erfährt, wie Computer mit Unterstützung der Großmeister, die die Programme auf Herz und Nieren prüften und Verbesserungsvorschläge einbrachten, auf dem Wege ihrer letztlich weltumspannenden Dominanz voranschritten. In den 1970er Jahren besaßen Schachprogramme schon eine Spielstärke von bis zu Elo 2000, was der eines guten Klubspielers entspricht. 1977 gelang dem Programm Chess ein Sieg in einer Blitzpartie gegen den englischen Großmeister Michael Stean und wenig später in einer Schnellpartie gegen Robert Hübner. 1978 mußte mit David Levy der erste Internationale Meister in einer klassischen Partie gegen ein Schachprogramm kapitulieren.

Die Zeit ließ sich nicht mehr zurückdrehen. Als die Informatikerlegende Ken Thompson, der das Betriebssystem UNIX erfand, mit der Einführung der ersten Endspieldatenbank und des Eröffnungsbuchs einen wegweisenden Durchbruch erzielte, zeichnete sich allmählich ab, daß der Vorsprung des Menschen im Schach bald schon versiegen würde. Mitte der 1980er Jahre schlug das Programm Hitech erstmals einen Großmeister in einer klassischen Partie. Der Unterlegene war der in die Jahre gekommene Arnold Denker, aber als Deep Thought 1988 den Weltklassespieler Bent Larsen vom Brett fegte, lag der endgültige Triumph der Maschine nicht mehr fern. So begannen die Schachprofis denn auch in den 1990er Jahren, verstärkt Computer in ihre Turniervorbereitung einzubeziehen, was zur Abschaffung der Hängepartien führte. Zwar besaß die Menschheit in Kasparow auf diesem Testfeld noch einen Garanten für den evolutionären Unterschied, aber 1994 mußte sich der Weltmeister gegen Fritz im Blitz und einige Monate später gegen Chess Genius im Schnellschach geschlagen geben. Die letzte Hürde nahm Deep Blue 1996, als das IBM-Rechenungetüm erstmals eine klassische Partie gegen Kasparow gewann und im Jahr darauf sogar sensationell ein Match gegen den menschlichen Champion für sich entschied. Die Jahre bis 2006 bangten die Großmeister um ihre Reputation, aber dann fiel auch Kramnik der neuen Zeit zum Opfer.

All diese Phasen, von der Geburt der ersten Schachmaschine bis zum Kollaps der menschlichen Spezies, haben Müller und Schaeffer mit der Genauigkeit eines Chronisten erstmals in ganzer Tiefe zum Leben erweckt und einem interessierten Publikum in Buchform vorgelegt, wofür ihnen höchster Dank gebührt. Natürlich kommt im Buch die Kommentierung einer hohen Zahl auserlesener Partien aus der Titanenschlacht Mensch versus Maschine nicht zu kurz, als Streiter wie Bobby Fischer, Michail Botwinnik oder Loek van Wely, um nur einige zu nennen, das Banner der Menschheit hochhielten und damit untermauerten, daß der Genius von Kreativität und Intuition, der tief im Schachspiel schlummert und hier und da aus seinem Schlaf erwacht, stets dem Menschen zugewandt bleibt.

16. November 2019


Karsten Müller & Jonathan Schaeffer
Man vs Machine
Challenging Human Supremacy at Chess
Russell Enterprises Inc., Milford 2018
480 Seiten, 34,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-941270-96-7


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