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FORSCHUNG/104: Transgenderism - Geschlechtergrenzen flexibel denken (ROSA)


ROSA:39 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - September 2009

Transgenderism: Geschlechtergrenzen flexibel denken

Von Willemijn de Jong


Forschungen zu Transgenderism zeigen, dass die Grenzen zwischen Geschlechtern durchlässig sind. Auch wenn duale Geschlechternormen vorherrschen, sind Geschlechterordnungen in der Praxis multipel. Ausgehend von der Annahme flexibler Grenzverläufe zwischen vielfältigen Geschlechterformen eröffnen sich weitere Perspektiven für die Genderforschung und -politik.


Geschlechtergrenzen neu denken

Sind die Gender Studies, kaum in der Akademie einigermassen etabliert, schon am Ende? Nicht wenige feministische Forscherinnen scheinen dies derzeit zu befürchten. Als Gegenmassnahme schlagen Autorinnen im Buch Was kommt nach der Genderforschung? (2008) vor, sich vermehrt mit der Geschichte von Geschlechterbeziehungen und Geschlechterordnungen bzw. intensiver mit intersectionality, also mit Differenzen und Überschneidungen zwischen "Rasse"/Ethnizität, Klasse und Gender zu beschäftigen. Autorinnen des Buches Gender Goes Life (2008) sehen die Gender Studies durch eine neue Biologisierungswelle der Hirnforschung und Genetik bedroht. Anknüpfend an Haraways Konzept des Cyborg oder des Technokörpers entwickelt Rosi Braidotti dort z. B. das visionäre Konzept des Zoë-Technokörpers, eine vitale, posthumane und mit der Umwelt intensiv vernetzte Körper-Maschine. Es soll dazu beitragen, Ausschlüsse von Frauen, ethnisch Anderen und der natürlichen Umwelt zu überwinden. In verschiedener Art und Weise hinterfragen diese Ansätze Grenzen zwischen und innerhalb von Geschlechterkategorien. Ergänzend dazu möchte ich, ausgehend vom Konzept des Transgenderism, die Grenzen innerhalb von Geschlechterordnungen problematisieren und eine weitere Perspektive für die Gender Studies skizzieren.


Geschlechtergrenzen und Transgenderism

Bei Transgenderism geht es um gelebte Praktiken, Identitäten und Subjektivitäten von Individuen, die nicht die vorherrschenden normativen Erwartungen des Frau- oder Mannseins erfüllen, sondern welche die Grenzen der jeweiligen Normen hinsichtlich geschlechtlicher Arbeitsteilung, Kleidung und Sexualität überschreiten. Ich definiere dieses Konzept absichtlich breit. Es geht mir nicht nur um Transvestiten, Transsexuelle und Intersexuelle oder um Hetero- und Homosexualität gemäss westlichen Vorstellungen. In der ethnologischen Geschlechterforschung sind seit den 1990er Jahren zahlreiche Studien publiziert worden, die eine grosse Vielfalt an Transgenderformen zeigen. Meist sind Personen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen untersucht worden, die sich mehr oder weniger freiwillig und mehr oder weniger permanent für eine andere Genderform entschieden. Für meine Argumentation sind insbesondere Beispiele aus Südostasien und Nordamerika von früher und heute interessant.


Transgender in Südostasien

Der Ethnologe Michael G. Peletz (2009) zeigt, dass in Thailand und Burma, auf den Phillipinen und in Indonesien Formen von Transgender existierten und noch immer existieren. Auf der Insel Sulawesi in Indonesien z. B. gab es seit dem 15. Jahrhundert adlige rituelle Spezialisten und Hüter fürstlicher Insignien, bissu genannt, die weibliche Kleidung trugen. Sie hatten sexuelle Beziehungen mit Männern und heirateten diese auch. Gewisse Dayak- und Iban-Gruppen auf Borneo kannten ebenfalls rituelle Transgenderpersonen. Möglicherweise spielten Einflüsse des indischen Hinduismus eine Rolle. Weiter gab es in Malaysia vorislamische Priester, sida-sida, die ein androgynes Verhalten aufwiesen. Peletz nimmt an, dass Bisexualität und ritueller Transvestismus die männlich-weibliche Dualität transzendierten. Androgyne rituelle Spezialisten seien besonders geeignet gewesen, mit den Geistern und Gottheiten zu kommunizieren und sie zu personifizieren. Im Zusammenhang mit diesen Praktiken spricht Peletz von (Genderpluralismus. Damit meint er, dass mehr als zwei Genderkategorien nicht nur toleriert, sondern in legitimer Weise gelebt werden konnten.

Strengere Formen des Islams seit dem 17. Jahrhundert sowie der Kolonialismus und die Unabhängigkeit im 20. Jahrhundert veränderten das politisch-feudale und kulturelle Umfeld und somit die Aufgaben und das Prestige dieser rituellen Spezialisten. Zwar ist diese Form von Transgenderism nicht ganz verschwunden, vielmehr wird sie sogar revitalisiert. Doch sie hat an Legitimität eingebüsst und wurde transformiert. Während die bissu früher in den Herrschaftsritualen der Lokalfürsten eine zentrale Rolle spielten, sind sie heute in den Heiratsritualen einzelner Eliteangehöriger tätig.

Peletz zeigt auch, dass im zwanzigsten Jahrhundert Transvestiten und Homosexuelle in vielen Teilen Südostasiens freundlich behandelt und toleriert werden. Bei meinen Forschungen in Ostindonesien seit Ende der 1980er Jahre beobachte ich immer wieder, dass Menschen, die sich hinsichtlich ihrer Arbeit oder in Bezug auf ihr Verhalten zu ihrem Körper und ihrer Sexualität im dörflichen Kontext nicht den geschlechtlichen Normen gemäss benehmen, wohlwollend und humorvoll betrachtet werden. Ethnologische Studien, wie die von Evelyn Blackwood (1998) über Lebensformen von Frauen auf Sumatra, die Frauen lieben, bestätigen das. Tom Boellstorffs (2004) Forschung auf Java über Sexualität unter Männern, in der u. a. Überfälle auf Schwulenorganisationen thematisiert werden, lässt jedoch vermuten, dass durch die derzeitige Islamisierung die Homophobie zunehmen wird. Auch im heutigen Malaysia werden Transgenderpersonen zunehmend stigmatisiert. Dort geschieht das im Zuge einer paradoxen Modernisierungspolitik der ((asiatischen Werte", d. h. im Dienste des "Fortschritts" werden der Bevölkerung rigidere, angeblich traditionelle Normen bezüglich Geschlecht, Familie und Sexualität auferlegt.


Transgender bei Native Americans

Ähnlich wie in Südostasien gab es bei den Native Americans in Nordamerika rituelle Spezialistinnen, die legitimierte Formen von transgenderism praktizierten. Je nach Gesellschaft gibt es unterschiedliche Namen für diese Transgenderpersonen. In neuerer Zeit werden sie mit dem Sammelbegriff two-spirit people bezeichnet, früher wurden sie berdaches genannt. Will Roscoe (1998) weist nach, dass Transgenderformen ausgehend von einer männlichen Anatomie in fast 150 nordamerikanischen Gesellschaften dokumentiert sind und diejenigen ausgehend von einer weiblichen Anatomie in ungefähr der Hälfte dieser Gruppen. Erstere zeichnen sich vor allem durch ihre Präferenz für spezifische kunsthandwerkliche und häusliche Arbeiten, eine besondere Variante der weiblichen Art dieser Tätigkeiten, und durch ihre religiösen und heilenden Tätigkeiten aus. Auch in der Kleidung und im sexuellen Verhalten würden sie oft, doch nicht immer die männliche Norm überschreiten. Sie seien jedoch gesellschaftlich akzeptiert und häufig respektiert gewesen. Weil das prestigeträchtige weibliche Handwerk an Bedeutung verlor, und weil die duale Geschlechterideologie der amerikanischen Mainstreamgesellschaft immer wichtiger wurde, seien diese Formen von Transgender im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschwunden.

Heute beinhaltet der Begriff two-spirit people eine besondere Form von Homosexualität. Sabine Lang (1997) belegt, dass die ethnische Identität dabei primär ist. Obwohl die derzeitigen Gemeinschaften der Native Americans, ähnlich wie die weisse Gesellschaft, nicht frei von Homophobie sind, orientieren sich diese Transgenderpersonen dennoch stark an ihrer Herkunftsgemeinschaft. Insbesondere knüpfen sie an frühere Formen von "Genderdiversität", wie Lang das nennt, und an Spiritualität an. Zudem setzen sie sich damit auseinander, was sie als two-spirit people für das Wohl ihrer Gemeinschaft beitragen können. Sie unterscheiden sich von den früheren Transgenderpersonen, die sich in erster Linie durch Gender und Arbeit identifizierten. Und sie unterscheiden sich von weissen Lesben und Schwulen, die sich vor allem durch ihre sexuelle Orientierung identifizieren.


Offizielle und praktische Geschlechterordnungen

Auffallend ist, dass die genannten historischen Formen in Südostasien und in Nordamerika durch besondere Arbeitstätigkeiten und Spiritualität sowie durch gesellschaftliche Legitimität geprägt sind. Die heutigen Formen sind hingegen eher marginalisiert. Genderdiversität wird auch in liberalen Nationalstaaten im Gegensatz zur Homosexualität rechtlich (noch) nicht anerkannt. Das heisst aber nicht, dass eine universale Dualität der Geschlechterordnung postuliert werden muss, wie das Susanne Schröter (2002) macht.

Angelehnt an Bourdieus Konzept der offiziellen, öffentlich vertretenen und der praktischen, tatsächlich gelebten Verwandtschaft (1987), könnte man jeweils eine offizielle und eine praktische Geschlechterordnung unterscheiden. Die früheren Geschlechterordnungen in Südostasien, bei den Native Americans und andernorts - vielleicht auch in europäischen Gesellschaften - wären demgemäss offiziell als multipel oder divers zu bezeichnen. Die neueren, nationalstaatlich geprägten. wären offiziell zwar dual, aber in der sozialen Praxis sind sie durchaus multipel.

Empirische Befunde legen nahe, die Beziehungen zwischen den anatomischen Geschlechtsmerkmalen, Gender und Sexualität grundsätzlich als flexibel zu betrachten. Darauf hat auch Judith Butler u. a. in ihrem Buch Undoing Gender (2004) hingewiesen. Sie knüpft dort an die New Gender Politics an, d. h. an die sozialen Bewegungen zu Transgender, Transsexualität und Intersexualität.

Durch Normierungen, Institutionalisierungen und durch gewohnheitsmässige alltägliche Praktiken wird, wie ich es nennen möchte, eine veränderbare Stabilität zwischen den anatomischen Geschlechtsmerkmalen, Gender und Sexualität hergestellt. Die Normen und Institutionen sind Elemente geschlechtlicher Machtverhältnisse, insbesondere von staatlichen Körperpolitiken, die sich in heteronormativen Heirats-, Fortpflanzungs-, Adoptions- und Familienverhältnissen ausdrücken. Diese sind zudem durch Klasse und "Rasse"/Ethnizität sowie durch Kosmologien geprägt.


Frauen- und Genderdiskriminierung anders denken

Mir scheint es vielversprechend und empirisch adäquat die Diskriminierung von Frauen und Männern auf der Folie von gelebten multiplen Geschlechterordnungen zu erforschen. Die bestehenden Formen von Transgenderism sowie die gelebten und die normierten Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit erscheinen dadurch in einem anderen Licht: Die vorherrschenden Gendersubjektivitäten werden relativiert, und es wird aus einer neuen Perspektive erkennbar, dass Frauen und Männer heterogene und relationale Teile eines umfassenderen geschlechtlichen Machtspektrums verkörpern; die marginalisierten, ebenfalls heterogenen Transgendersubjektivitäten werden in Relation zu den vorherrschenden betrachtet und dadurch deexotisiert. Dabei müssten Transgenderformen ausgehend von einer weiblichen Anatomie ebenfalls vermehrt erforscht werden. Ausgehend von der Annahme transnational beeinflusster, prozesshafter - und durchlässiger Grenzverläufe zwischen - in der Praxis - multiplen Geschlechtern, können sich Räume für neue Forschungsfragen, für neue, vielfältige und gleichheitlichere Gendersubjektivitäten und für neue, legitimierte Genderpluralismen eröffnen.


Literatur

Angerer, Marle-Luise und Christiane König (Hg): Gender Goes Life. Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies, Bielefeld 2008.

Blackwood, Evelyn: Tombois in West Sumatra: Constructing Masculinity and Erotic Desire, Cultural Anthropology 13(4) (1998), S. 491-521.

Boellstorff, Tom: The Emergence of Political Homophobia in Indonesia: Masculinity and National Belonging, Ethnos 69 (2004), S. 465-486.

Bourdieu, Pierre: Sozialer Nutzen der Verwandtschaft, in: Bourdieu, Pierre (Hg.): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1987, S. 288-351.

Butler, Judith: Undoing Gender, New York and London 2004.

Casale, Rita, Rendtorff, Barbara (Hg,), Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung, Bielefeld 2008.

Lang, Sabine: Various Kinds of Two-Spirit People: Gender Variance and Homosexuality in Native American Communities, in: Jacobs, Sue-Ellen, Thomas, Wesley and Lang, Sabine (Hg.): Two-Spirit People. Native American Gender Identity, Sexuality, and Sprituality, Urbana/ Chicago 1997, S. 100-118.

Peletz, Michael G.: Gender Pluralism. Southeast Asia Since Early Modern Times, New York und London 2009.

Roscoe, Will: Changing Ones. Third and Fourth Genders in Native North America, New York 1998. Schroeter, Susanne: FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern, Frankfurt am Main 2002.


Autorin
Willemijn de Jong lehnt und forscht als Titularprofessorin für Ethnologie an der Universität Zürich.
w.de.jong@access.uzh.ch


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Quelle:
ROSA:39 - Zeitschrift für Geschlechterforschung
Ausgabe September 2009, S. 31-33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2010