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FORSCHUNG/123: Gemeinden haben kaum Einfluss auf politische Einstellungen ihrer Bürger (idw)


Universität Mannheim - 06.11.2012

Mannheimer Sozialforscher:
Gemeinden haben kaum Einfluss auf politische Einstellungen ihrer Bürger

Nicht das Umfeld, sondern individuelle Faktoren prägen politische Orientierungen / Sozialwissenschaftler des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) befragten 12.000 Personen in 28 hessischen Gemeinden



Lokalpolitik, so eine weit verbreitete Annahme, macht Politik anschaulich und unmittelbar für die Menschen erlebbar. Nicht nur in den Sozialwissenschaften wird kommunaler Politik daher große Bedeutung beigemessen und die Gemeinde oftmals als "Schule der Demokratie" charakterisiert. Diese Schule aber hat offenbar weit weniger Einfluss, als bisher angenommen. Das ist die zentrale Erkenntnis des Forschungsprojekts "Europa im Kontext", für das Sozialwissenschaftler des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim über 12.000 Personen in 28 zufällig ausgewählten Gemeinden Hessens befragt haben.

Gesellschaftliche Entwicklungen schwächen den Einfluss der Gemeinden

"Unsere Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass der lokale Kontext keine große Rolle für die politischen Orientierungen der Bürger spielt", fasst Studienleiter Professor Dr. Jan W. van Deth zusammen. Vielmehr würden die Orientierungen von individuellen Faktoren wie Bildung, Interesse und Alter geprägt. Dass der lokale Kontext, also beispielsweise das Vereinsleben, die ökonomische Leistungskraft der Kommune oder der Ausländeranteil auch in kleinen Gemeinden nur eine geringe Rolle spielen, ist für die Mannheimer Forscher eine wichtige Erkenntnis: "Dieser Befund wirft viele neue Forschungsfragen auf. Offensichtlich ist die Individualisierung unserer Gesellschaft auch hinsichtlich der politischen Orientierungen schon stärker fortgeschritten, als wir bisher dachten", so Professor van Deth, der die Studie gemeinsam mit Dr. Markus Tausendpfund am MZES durchführte. In der zunehmenden Modernisierung und Individualisierung unserer Gesellschaft sehen beide Politikwissenschaftler die Erklärung für den überraschenden Befund. Neue Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, die gestiegene Mobilität der Menschen und auch die wechselnde Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen an verschiedenen Orten schwächen Effekte des lokalen Umfelds ab.

Um den Einfluss des lokalen Kontexts zu untersuchen, befragten die Wissenschaftler des MZES die Bürger zu verschiedenen Orientierungen. Neben Aspekten der Lokalpolitik, politischem Interesse und Wissen, Werten und Tugenden erforschten sie auch das soziale Vertrauen, die Zufriedenheit sowie die Haltungen der Menschen zur Europäischen Union und das Maß ihrer politischen Partizipation. Die Auswahl von ausschließlich hessischen Gemeinden sollte dabei gleiche überregionale Bedingungen in allen Gemeinden sicherstellen. Zu diesen Bedingungen zählt etwa, dass Hessen keine Auslandsgrenzen hat. So konnten in den Gemeinden auch unverzerrte Orientierungen zur Europäischen Union gemessen und verglichen werden, da beispielsweise keine wesentliche Beeinflussung durch Grenzpendler oder Tanktourismus vorliegt. Die untersuchten Kommunen selbst unterschieden sich sehr stark voneinander, etwa bezüglich Größe, Ausländeranteil, Arbeitslosigkeit oder Kaufkraft. "Das sind ideale Bedingungen, um Effekte des lokalen Umfelds auf individuelle Orientierungen nachzuweisen", fassen Professor van Deth und Dr. Tausendpfund zusammen. "Dennoch fallen die Unterschiede zwischen den Gemeinden gering aus. Die Kommunalebene hat in den vergangenen Jahrzehnten offenbar ihre zentrale Bedeutung für viele Menschen verloren", so ihre Schlussfolgerung.

"Schule der Demokratie" hat nicht ausgedient

Hat die Gemeinde als "Schule der Demokratie" also ausgedient? Das wollen Professor van Deth und Dr. Tausendpfund keineswegs so bestätigen: "Die Konsequenzen erlebter und mitgestalteter Lokalpolitik sind sicherlich positiv und wichtig. Wir sollten aber nicht zu große Erwartungen in die prägende Kraft der Gemeinden setzen. Unsere Demokratie lebt mittlerweile von vielen anderen Einflüssen."

Bei fortschreitender Globalisierung und Europäisierung werde sich der Einfluss des lokalen Umfelds auf politische Orientierungen wahrscheinlich weiter verringern, vermutet Professor van Deth. Ob im Gegenzug das nationale oder europäische Umfeld an Einfluss auf politische Orientierungen gewinnt, bleibt zu erforschen. Ebenfalls für denkbar halten die Sozialwissenschaftler einen allgemeinen Bedeutungsverlust gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Kontexte, während persönliche Beziehungen und internetbasierte soziale Kontakte an Bedeutung gewinnen.


Die Ergebnisse des Projekts "Politik im Kontext" sind als Buch erschienen:
Jan W. van Deth und Markus Tausendpfund (Hrsg.): Politik im Kontext: Ist alle Politik lokale Politik? Individuelle und kontextuelle Determinanten politischer Orientierungen. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-531-19248-2.

Teilergebnisse der Studie können auch auf der Projekt-Website abgerufen werden:
www.europa-im-kontext.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution61

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Mannheim, Katja Bär, 06.11.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. November 2012