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FRAGEN/006: Jochen Nossek - "Noten erzeugen mehr Frust als Lust" (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 - Nr. 105

"Noten erzeugen mehr Frust als Lust"
Interview mit Jochen Nossek

Von Benjamin Klaußner



Brennpunktschulen werden selten gelobt. Eine Ausnahme ist die Gemeinschaftsschule in der Taus im schwäbischen Backnang. Sie erhielt im Jahr 2013 einen von der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof-Stiftung vergebenen deutschen Schulpreis. Schulleiter Jochen Nossek erklärt im Interview, was gute Betreuung ausmacht, warum Smileys sinnvoller sind als Noten und wie sich seine Lehrkräfte motivieren.


DJI Impulse: Herr Nossek, Ihre Schule hat sich beim Deutschen Schulpreis 2013 unter mehr als 100 Bewerbern durchgesetzt und wurde dafür mit 25.000 Euro belohnt. Die bewerteten Kriterien waren die Leistungen der Schülerinnen und Schüler, das Schulklima, die Unterrichtsqualität, der Umgang mit Vielfalt und die Schulentwicklung. Was gelingt Ihnen besser als anderen Schulen?

Jochen Nossek: Es gibt mehrere Kriterien, die dazu geführt haben, dass wir diesen Preis bekommen haben. Zum einen ist es das Schul- und Klassenklima: Bei uns herrscht ein sehr höflicher, freundlicher und offener Umgang zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern. Weitere Kriterien sind die Unterrichtsentwicklung und die individuelle Betreuung der Kinder und Jugendlichen, die bei uns sehr erfolgreich ist.


DJI Impulse: Ihre Schule bestand bis zum Sommer 2013 aus einer Grund- und einer Werkrealschule mit insgesamt circa 600 Schülerinnen und Schülern. Seitdem ist sie eine Gemeinschaftsschule. Etwa 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen der Werkrealschule und 40 Prozent der Grundschule kommen aus Familien mit Migrationshintergrund. Wie gelingt es Ihnen, sie zu integrieren?

Nossek: Wir haben Schülerinnen und Schüler unterschiedlichster Herkunft, Hautfarbe, Nation und Begabung. Einige von ihnen leben in Wohngruppen, andere kommen aus katastrophalen Elternhäusern, manche wurden komplett aus ihren Familienstrukturen herausgerissen, zum Beispiel Flüchtlingskinder. Und wir haben Kinder hier, die bisher eigentlich noch gar keine Schule besucht haben, momentan zum Beispiel sechs Kinder aus Rumänien. Aber das ist bei uns ganz normal, darüber wundert sich niemand mehr - und das ist auch eine Grundlage für den Umgang mit dieser Vielfalt: Wir stigmatisieren niemanden. Wir versuchen, alle mit kleinen Lernzielen und einer engen Betreuung zu integrieren. Dazu dient auch ein Projekt namens "Starthilfe", das wir in Kooperation mit der Caritas durchführen. Es vermittelt Kindern ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, die sich um die Kinder kümmern und ihnen dabei helfen, Fuß zu fassen. Die Ehrenamtlichen vermitteln zum Beispiel eine Fußballmannschaft oder gehen mit den Kindern ins Kino, und sie besuchen auch die Familien der Kinder. Die Schule ist ja nicht alles.


DJI Impulse: Auf der Homepage schreiben Sie, dass Ihre Schule Kindern aus schwächeren sozialen Verhältnissen und aus Familien mit Migrationshintergrund gleichwertige Bildungschancen bieten will. Haben Ihre Kolleginnen und Kollegen überhaupt die Zeit, diese Kinder besonders zu fördern?

Nossek: Wir haben eigentlich viel zu wenig Zeit, da wir als inklusive Gemeinschaftsschule alle Kinder aufnehmen, egal ob sie körperliche, geistige oder Lerndefizite haben. Wir versuchen aber trotzdem, jedem einzelnen Kind gerecht zu werden, was natürlich extrem zeitaufwändig ist. Wenn ein Kind neu zu uns kommt, führen wir verschiedene Diagnoseverfahren durch, um herauszufinden, welche Fähigkeiten und Kompetenzen es hat. Unser Ziel muss es dann sein, für jedes Kind realistische eigene Lernziele zu definieren. Um diese umzusetzen, haben die Kinder sogenannte Lernbegleiter: Das sind Lehrerinnen und Lehrer, die jedes einzelne Kind vom ersten bis zum letzten Schuljahr individuell betreuen und unterstützen. Zudem legen wir für jedes Kind eine Schülerakte an, die bis zum Ende ihrer Schulzeit kontinuierlich ergänzt wird. Dabei geht es weniger um Noten, auf die wir ohnehin keinen großen Wert legen, sondern vielmehr um das Verhalten und die Motivation der Kinder und um ihre Entwicklung. Diese spiegeln wir permanent an die Eltern zurück, um auch sie mit ins Boot zu holen.


DJI Impulse: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen rund 50 Lehrkräften, neun Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen und den Eltern der Kinder und Jugendlichen?

Nossek: In den Klassenstufen eins bis fünf haben wir eingeführt, dass Schülerinnen und Schüler eine Art Logbuch führen. Darin legt jedes Kind in enger Kooperation mit einer Lehrkraft die Aufgaben fest, die es in der folgenden Woche bewältigen möchte. Jeden Freitag nehmen die Kinder das Logbuch mit nach Hause, definieren ihre Ziele für die kommende Woche, und die Eltern unterschreiben das. Die Kinder bekommen ein Feedback auf ihre Fortschritte in Form von Smileys, das verstehen auch diejenigen unter ihnen und Eltern, die nicht so gut Deutsch sprechen - und falls doch etwas unklar sein sollte, haben wir Dolmetscher, die ihnen weiterhelfen. Darüber hinaus führen wir mindestens drei Entwicklungsgespräche pro Kind und Schuljahr durch, an denen die Schülerinnen und Schüler selbst, ihre Eltern und mehrere Lehrkräfte beteiligt sind. Dabei wird besprochen, welche Ziele sie in den nächsten Monaten erreichen sollen. Das können fachliche Kompetenzen sein, aber auch überfachliche wie Kommunikations- oder Kooperationsfähigkeit. Wir standen diesem System anfangs auch sehr skeptisch gegenüber. Aber das Interesse der Eltern ist außerordentlich groß: Wir haben momentan 54 Kinder in der fünften Klasse. Bei 53 von ihnen war an jedem der Entwicklungsgespräche ein Elternteil dabei. Das ist eine unglaublich hohe Quote im Vergleich zu den Elternabenden, die früher bei uns stattgefunden haben. Und die Gespräche sind natürlich viel wertvoller als ein Zeugnis oder ein Elternabend.


DJI Impulse: Sie bewerten die Schülerinnen und Schüler nicht anhand des Leistungsniveaus ihrer Klasse, sondern nach ihren individuell festgestellten Kompetenzen. Macht es das nicht schwieriger, Entscheidungen über Noten oder über eine Versetzung zu treffen?

Nossek: Ja, das macht es viel schwieriger, wobei bei uns niemand eine Klasse wiederholen muss. Es ist ja bekannt, dass das Wiederholen einer Klasse in den wenigsten Fällen sinnvoll ist. Momentan ist es so, dass wir Kinder erst ab der achten Klasse benoten - denn Noten erzeugen mehr Frust als Lust. Natürlich haben die Kinder und auch ihre Eltern das Recht zu wissen, wo sie im Vergleich zu den anderen stehen. Aus diesem Grund läuft auch bei uns im Hintergrund immer eine Note der Schülerinnen und Schüler mit. Diese ist aber wenig aussagekräftig. Beim Schulabschluss müssen wir Noten verwenden, wobei mein Wunsch wäre, dass mittelfristig auch dann anstatt der Zahlen Aussagen über die Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen getroffen werden. Es ist nicht legitim, einem Kind den Zugang zu einer weiterführenden Schule oder zu einer Lehrstelle wegen seiner Noten zu verweigern. Stattdessen sollte ein Profil erstellt werden, das auf die Stärken jedes Schülers hinweist. Das wird inzwischen auch vonseiten der Wirtschaft so gesehen: Betriebe achten immer weniger auf die Schulnoten, stattdessen ermitteln sie die Fähigkeiten der Bewerberinnen und Bewerber durch mehrstufige Einstellungstests in einem "Assessment Center". Dabei werden nicht nur fachliche Kompetenzen abgefragt, sondern zum Beispiel auch soziale.


DJI Impulse: Wie muss man den Unterricht gestalten, damit gerade Kinder und Jugendliche, die nicht gut Deutsch sprechen, nicht abschalten oder sich verweigern?

Nossek: Sie brauchen vor allem eine extrem gute Beziehung zu ihren Lehrerinnen und Lehrern und zur Schule insgesamt, einen verlässlichen, ehrlichen Rahmen. Viele von ihnen wollen nicht mehr lernen, weil sie im normalen Schulsystem immer nur Misserfolge hatten. Diese Kinder betreuen wir gemeinsam mit außerschulischen Partnern, etwa dem Sonderpädagogischen Dienst. Dennoch können wir uns immer noch nicht individuell genug um diese Kinder kümmern. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich noch einen Kinder- und Jugendpsychologen und einen Sonderschullehrer einstellen.


DJI Impulse: Andere Schulen würden wahrscheinlich sagen, dass Ihnen die Ressourcen und die Zeit dazu fehlen, alle Kinder und Jugendlichen für ihre Schule und den Unterricht zu begeistern. Wie motivieren Sie Ihr Kollegium für die außergewöhnlich aufwändige Betreuung ihrer Schülerinnen und Schüler?

Nossek: Es ist in der Tat sehr aufwändig, unsere Lehrerinnen und Lehrer müssen sehr viel mehr arbeiten als früher. Die Elterngespräche und das Verfassen der Berichte zu jedem einzelnen Schulkind fallen nicht ins Deputat, müssen also zusätzlich zur normalen Arbeit geleistet werden. Die Motivation dafür erzeugen meine Kolleginnen und Kollegen selbst, sie bekommen allerdings auch ein positives Feedback von Eltern sowie Schülerinnen und Schülern. Sie sehen auch den enormen Lernfortschritt der Kinder und wissen, dass sie später in den höheren Klassen durch die eigenverantwortliche Arbeitsweise und die Eigenmotivation der Schülerinnen und Schüler entlastet werden. Natürlich sind nicht alle Lehrkräfte den hohen Anforderungen und der Belastung gewachsen. Manche haben sich wegbeworben und arbeiten nicht mehr bei uns.


ZUR PERSON

Jochen Nossek ist seit 2012 Rektor der Gemeinschaftsschule in der Taus in Backnang. Nach dem Zivildienst und einem längeren Auslandsaufenthalt studierte er Lehramt für die Fächer Wirtschaft, Informatik, Technik und Deutsch und arbeitete an einer Brennpunktschule in Stuttgart. Später war er am Seminar für Didaktik und Lehrerbildung sowie beim Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Referat 34/Bereich Schule-Wirtschaft) tätig.


DJI Impulse 1/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 -
Nr. 105, S. 31-33
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2014