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KIND/094: "Kinder diskutieren bereits in der Kita, wie Gott heißt" (idw)


Eberhard Karls Universität Tübingen - 05.05.2011

"Kinder diskutieren bereits in der Kita, wie Gott heißt"

Symposion "Interreligiöse Bildung in Kindertagesstätten" an der Universität Tübingen


Forschungsergebnisse der bundesweiten Studie "Interkulturelle und interreligiöse Bildung in Kindertagesstätten" der Universität Tübingen werden am 5. und 6. Mai 2011 auf einem Symposion in Tübingen vorgestellt.
2010 wurden repräsentativ Erzieherinnen und Erzieher im Blick auf die interkulturelle und interreligiöse Bildung in ihren Kindertagesstätten befragt. Eine weitere Befragung von Eltern im Umfeld von Kindertagesstätten im Blick auf die interkulturelle und interreligiöse Bildung ihrer Kinder wird derzeit ausgewertet. Um Migrantenfamilien zu erreichen, wurden dafür auch Fragebögen in türkischer Sprache verteilt.
Das Projekt wird geleitet von Prof. Dr. Albert Biesinger, Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen, Dr. Anke Edelbrock und Prof. Dr. Friedrich Schweitzer, Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen. Es wurde von der Stiftung Ravensburger Verlag gefördert.

"In Berlin heißt Gott Jesus, in Arabien heißt Gott Allah und in Thailand heißt Gott Buddha", so ein Kind im Rahmen eines Forschungsinterviews. Das heißt, Kinder diskutieren bereits in der Kita, wie Gott heißt. Für Erzieherinnen und Erzieher in den Kindertagesstätten stellt sich daher immer mehr die Herausforderung, Kinder in ihrer religiösen Orientierungssuche entsprechend zu fördern und kompetent zu begleiten. Bildung und Lernen beginnt nicht erst in der Grundschule. Dass die ersten Lebensjahre eine enorme Bildungsbedeutung haben, ist pädagogisch, psychologisch und auch aufgrund von Ergebnissen der Hirnforschung gesichert.

Angesichts der multikulturellen und multireligiösen Situation in der Gesellschaft sind auch interreligiöse Aspekte relevant (geworden). Interreligiöse Bildung ist aber weder im deutschen Bildungsbericht aus dem Jahr 2006 noch in neueren Bilanzen empirischer Studien aufgenommen, da es dazu keine Daten gibt. Hier setzt die Tübinger Studie an, der eine Pilotstudie voranging.

In der Praxis zeigt sich: Religion kann von Kultur oder Kulturen nicht isoliert werden. In den Kindertagesstätten begegnen sich schon früh Kinder nicht nur mit verschiedenem kulturellem Hintergrund, sondern auch mit unterschiedlicher religiöser Prägung. Sie erleben in ihrem Alltag bereits Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Ein Kind darf kein Schweinefleisch essen, oder ein Kind, das zuhause nicht religiös erzogen wird erlebt in der Einrichtung, wie Weihnachten gefeiert wird. Eine Verdrängung religiöser Fragen aus der Lebenswelt von Kindern führt früh zu Missverständnissen und Vorurteilen.

In sehr vielen Einrichtungen finden sich Kinder mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit bzw. weltanschaulicher Prägung, wobei besonders drei Gruppen quantitativ dominieren: christliche, muslimische und konfessionslose Kinder. Kinder ohne religiöses Bekenntnis sind in der Minderheit. Mehr als jedes zehnte Kind in einer Kindertagesstätte gehört dem Islam an. Jüdische Kinder sind erwartungsgemäß in weit kleinerer Zahl vertreten, was aber - auch angesichts der deutschen Geschichte - keineswegs dazu berechtigt, diese Kinder quantitativ zu vernachlässigen.

Im Blick auf religiöse Gründe bestimmter Lebensmittel geben 59% der Befragten an, dass sie die Gründe dafür allen Kindern erklären. Damit sind religiöse Fragen im Alltag der Einrichtungen hochpräsent. Die Mehrheit der Erzieherinnen zeigt sich für eine religiöse Begleitung der Kinder offen - im Sinne einer allgemeinen Unterstützung religiöser Bildung - allerdings ohne dass sie selbst in dieser Hinsicht aktiv würden. Es handelt sich offenbar eher um eine allgemeine Offenheit im Sinne einer persönlichen Einstellung als um eine religionspädagogische Handlungsmaxime zur Gestaltung der Arbeit in der Einrichtung.

Eine christliche Bildung oder Begleitung der Kinder wird in der Mehrzahl der Einrichtungen befürwortet bzw. praktiziert. In den nichtkonfessionellen Einrichtungen ist sie jedoch nur teilweise oder gar nicht gewährleistet. Eine am Islam ausgerichtete Begleitung der Kinder oder islamische Bildung wird von den Erzieherinnen nur in Ausnahmefällen befürwortet bzw. praktiziert. Das gilt ebenso für die nichtkonfessionellen wie für die konfessionellen Einrichtungen.

Lediglich 17% der Befragten bejahen, dass Kinder den islamischen Glauben kennenlernen sollen. Lediglich 3% berichten, in ihrer Einrichtung würden islamische Inhalte vermittelt. Geschichten aus dem Koran können Kinder in den Einrichtungen fast nie hören. Muslimische Gebete sind höchst selten. Und auch das besuchsweise Kennenlernen einer Moschee ist Ausnahmefall. Auch muslimische Feste finden in aller Regel keine weitere Beachtung, mit gewisser Ausnahme des Ramadan-Festes, das 20% feiern, allerdings zumeist ohne religiösen Bezug. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch für die wenigen Einrichtungen, die auch von jüdischen Kindern besucht werden.

Eine interreligiöse Bildung wird von den Erzieherinnen zwar etwas häufiger befürwortet bzw. praktiziert als eine am Islam ausgerichtete Begleitung der Kinder, aber auch in diesem Falle ist die entsprechende (religions-) pädagogische Praxis auf eine kleine Minderheit beschränkt. Auch dies gilt bei geringen Unterschieden zugunsten der konfessionellen Einrichtungen für alle befragten Kindertagesstätten.

Insgesamt lässt sich zweierlei festhalten: interkulturelle Bildung hat in den Einrichtungen eine deutlich festere Verankerung gefunden als die interreligiöse, auch wenn beide nicht die eigentlich erforderliche Verbreitung aufweisen. Der stärkste Nachholdbedarf bezieht sich jedoch auf die interreligiöse Bildung. Die Auffassung, dass interreligiöse Bildungsaufgaben gleichsam automatisch dort mit aufgenommen würden, wo interkulturelle Bildungsaufgaben als wichtig angesehen werden, erweist sich in der Praxis als wenig begründet.

Die Ergebnisse der Untersuchung belegen einen deutlichen Nachholbedarf im Elementarbereich. Die Aufgabe einer religiösen Begleitung für Kinder unterschiedlicher Prägung sowie einer interreligiösen Bildung müssen in Zukunft weit stärker wahrgenommen werden, als es bislang der Fall ist. Dass der Elementarbereich hier zunehmend hinter der (Grund-)Schule zurückbleibt, ist ein defizitärer Zustand, der sich auch keineswegs von den Entwicklungs- und Orientierungsbedürfnissen oder - möglichkeiten der Kinder her begründen oder rechtfertigen lässt.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution81


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eberhard Karls Universität Tübingen, Michael Seifert, 05.05.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2011