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LEHRMITTEL/167: didacta 2009 - Das Schulbuch ist kein Auslaufmodell (DMAG)


Deutsche Messe AG - didacta - die Bildungsmesse (10. bis 14. Februar 2009)

Das Schulbuch ist keineswegs ein Auslaufmodell

Interview mit Prof. Dr. Joachim Kahlert von der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)


Hannover. Schulbücher sind seit jeher selbstverständlicher Bestandteil des Schüler- und Schullebens. Doch werden sie es auch weiterhin bleiben? Immerhin konstatiert der Verband der Schulbuch- und Bildungsmedienverlage (VdS Bildungsmedien) seit Jahren sinkende Schulbuchausgaben in Deutschland und immer mehr Schüler und Lehrer greifen auf alternative Materialien - etwa aus dem Internet - zurück. "Hat das Schulbuch überhaupt noch eine Zukunft", wollte die Redaktion von Prof. Dr. Joachim Kahlert wissen, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) Grundschulpädagogik und -didaktik lehrt.

Herr Professor Kahlert, was macht eigentlich ein gutes Schulbuch aus?

Joachim Kahlert: Zunächst muss es das jeweilige Fachgebiet anschaulich und gut strukturiert präsentieren. Dann sollte es den Lehrkräften ermöglichen, sich schnell über die Lernziele der jeweiligen Lehreinheit zu orientieren. Schließlich hilft das Schulbuch bei der Umsetzung der Lehrpläne und beim Erreichen der Erziehungsziele. Denken Sie zum Beispiel an das Ziel "selbstständiges Lernen", das ja heute in allen Lehrplänen steht. Ein gutes Schulbuch muss entsprechende Aufgaben enthalten, um diese Fähigkeiten zu fördern. Es sollte sowohl Aufgaben anbieten, die sinnvoll in Einzelarbeit, als auch Aufgaben, die in Partner- oder Gruppenarbeit erledigt werden können. Das Aufgabenangebot muss differenziert sein, sowohl vom Anspruchsniveau her als auch von der Methodik, mit der die Aufgaben zu bearbeiten sind. Darüber hinaus muss das Schulbuch auch fächerverbindenden Ansprüchen gerecht werden. Und es sollte Innovationsträger für neue pädagogische Einsichten und Ideen sein. Natürlich soll es stimulierend und motivierend aufbereitet sein, damit die Schüler Lust haben, es anzuschauen. Daneben muss das Schulbuch Nachbearbeitungsmöglichkeiten für die Schüler bieten. Wenn ich als Schüler etwas nicht verstanden habe oder ich habe gefehlt, dann sollte ich mit dem Schulbuch diese Inhalte nacharbeiten können. Schließlich schafft das Schulbuch auch Transparenz für die Eltern, sie sehen: Was steht in diesem Schuljahr noch an, und was sollten die Kinder bislang gelernt haben.

Das sind hohe und umfangreiche Ansprüche. Allerdings haben Sie kürzlich im Zusammenhang mit Schulbüchern vom Aschenputtel-Medium gesprochen. Was meinen Sie damit?

Joachim Kahlert: Die Arbeit am Schulbuch ist - zumindest bei Wissenschaftlern - völlig an den Rand geraten. Die möglichen Innovationen und die Vielfalt von Aufgaben, die ich eben benannt habe, haben natürlich dann eine größere Chance, umgesetzt zu werden, wenn sich mehr Fachleute als weniger Fachleute daran beteiligen. Und das ist das Problem: Die Anreize, an einem Schulbuch mitzuarbeiten, gehen gegen null. Es werden sogar eher noch Barrieren aufgebaut, zumindest was die Wissenschaftler an den Hochschulen betrifft. Es gilt nicht als Publikationsorgan, für das Wissenschaftler schreiben sollten. Die Anzahl von Publikationen in hoch spezialisierten Zeitschriften gilt viel, die Mitwirkung an Schulbüchern nichts. Wer trotzdem an Schulbüchern mitarbeitet, muss sich dafür rechtfertigen. So engagieren sich beispielsweise meine Kollegen der Grundschulpädagogik kaum noch für Sachunterrichtsbücher in der Grundschule. Obwohl mit diesem Fach eine enorme Bandbreite abgedeckt werden muss und Lehrer auf gutes Material angewiesen sind wie auf die Luft zum Atmen.

Betrachtet man allerdings die von Ihnen genannten Kriterien für ein gutes Schulbuch, dann ist die Arbeit für ein solches Werk doch hoch professionell und eigentlich an den Universitäten bestens aufgehoben?

Joachim Kahlert: Das ist tatsächlich eine große Herausforderung. Jedes Fach ist ja hoch differenziert, nehmen Sie nur die Chemie, da gibt es zum Beispiel die Organische Chemie, die Chemie der Metalle und Nichtmetalle, die verschiedenen Modelle chemischer Bindungen und die nahezu unerschöpfliche Vielzahl von Anwendungen in Haushalt, Produktion, Konsum und Verkehr. Wer ein Schulbuch für das Fach Chemie erarbeitet, muss mit gutem fachlichem Gewissen die ganze fachliche Bandbreite für die verschiedenen Jahrgangsstufen darstellen können. Darüber hinaus müssen die Inhalte interessant aufbereitet werden mit Anschauungsmaterial und mit einem ansprechenden Text, der zielgruppengerecht formuliert werden muss. Das ist eine hoch komplexe Herausforderung. Das Schulbuch ist das Produkt einer sehr anspruchsvollen fachdidaktischen Entwicklungsleistung.

Schreiben Sie selbst an Schulbüchern mit?

Joachim Kahlert: Ja, ich schreibe selbst an Schulbüchern für die Grundschule. Und eine wichtige Erfahrung dabei ist die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus dem Hochschulbetrieb mit Lehrerinnen und Lehrern aus der Praxis und den Realisten aus den Verlagen. Es ist immer wieder lehrreich, zu sehen, wie manche Ideen, die an den Unis etwas fernab von der Realität des Klassenzimmers entwickelt werden, dann modifiziert werden müssen. Und wenn ich anschließend meinen Studenten, den angehenden Lehrern, sage, "Das war meine erste Idee", und ihnen dann zeige, was schließlich daraus geworden ist, nimmt es den jungen Leuten die Sorge, sie müssten immer gleich perfekt sein. Sie erfahren dann: Auch die Profis werden noch korrigiert.

Kann denn ein einziges Schulbuch überhaupt das ideale Lernmittel für alle Schüler mit ihren ganz unterschiedlichen Lernvoraussetzungen sein?

Joachim Kahlert: Sicher ist das Schulbuch eine Art Lernkonserve - es muss für alle Schüler eines Jahrgangs dieses Faches und Bundeslandes geeignet sein. Daher ist es auch immer ein Kompromissangebot. Und: Das Schulbuch macht ja nicht allein den Unterricht aus. Denken wir uns einmal das Schulbuch weg, was passiert dann? Ich vergleiche diese Situation gern mit dem Transportwesen. U-Bahn und Straßenbahn sind nicht ideal auf das jeweils individuelle Bedürfnis zugeschnitten, aber ohne diese doch für eine große Zahl von Menschen ganz gut geeigneten Transportmittel bricht der Transport zusammen. Und ohne das Medium Schulbuch, das für eine große Zahl von Schülern geeignet ist, sehe ich nicht, wie eine hinreichend gute fachliche und didaktische Qualität des eingesetzten Materials gewährleistet werden soll. Selbst wenn man Lehrern größte Qualifikation unterstellt, kann man von ihnen nicht erwarten, dass sie immer die passenden und pfiffigen Ideen für die Gestaltung und schließlich für die Produktion des Lehrmaterials haben. So etwas von Lehrkräften zu erwarten, wäre absurd.

Nun werden aber immer mehr kostenlose Unterrichtsmaterialien - etwa von großen Unternehmen - zur Verfügung gestellt, und das Internet sorgt mit Wikipedia, Google und Co. für umfangreiche und vor allen Dingen aktuelle Informationen. Ist das Schulbuch dann doch eher ein Auslaufmodell?

Joachim Kahlert: Natürlich gibt es viele Zusatzmaterialien und es gehört auch zur Profession des Lehrers, andere Materialien als nur das Schulbuch einsetzen zu können. Aber immer? Diese Materialien unterliegen keiner systematischen Qualitätsprüfung. Ich kenne Materialien für die Grundschule mit hanebüchenen Fehlern. Man sollte den Schaden nicht unterschätzen, der entstehen kann, selbst wenn nur in einer Einzelstunde falsche Fakten vermittelt werden. Darüber hinaus gibt es ein ganz pragmatisches Argument: Die Lehrer haben Handlungssicherheit. Wenn sie mit dem Schulbuch arbeiten, sind sie weniger angreifbar, als wenn sie sich ihr Material selbst zusammenstellen. Das Schulbuch ist also keineswegs ein Auslaufmodell und ich glaube auch nicht, dass Kinder nur noch über digitale Medien lernen sollten.

Ist das Schulbuch Garant für guten Unterricht?

Joachim Kahlert: Das Schulbuch garantiert nicht den guten Unterricht. Es hilft aber dem Lehrer, einen guten Unterricht zu machen. Ein schlechter Lehrer macht mit einem guten Schulbuch durchaus schlechten Unterricht, und ein guter Lehrer macht mit großer Wahrscheinlichkeit selbst mit einem schlechten Schulbuch guten Unterricht. Das heißt, der eigentliche Unterricht entsteht erst im Zusammenwirken der Qualität des Lehrers mit der Qualität des Schulbuchs.

Hintergrund

Mehr als 4 000 neue Schulbücher erscheinen jährlich in Deutschland. Sie werden von rund 80 Verlagen produziert. Ihr Umsatz lag 2007 bei rund 500 Mio. Euro, davon fielen ca. 350 Mio. Euro auf Schulbücher und Bildungssoftware für den "Vormittagsmarkt" der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen, 52,5 Mio. Euro auf Lernhilfen und Lernsoftware im "Nachmittagsmarkt" und 80 Mio. Euro auf Lernbücher und Medien in der Erwachsenenbildung und beruflichen Weiterbildung. Die mittelständisch geprägte Branche hat etwa 3 000 Mitarbeiter. An sie sind etwa 30 000 Autoren gebunden, die Bildungsmedien nach über 3 000 Unterrichtsvorgaben der Länder produzieren. Insgesamt sind gegenwärtig rund 45 000 Schulbuchtitel auf dem Markt. Seit 1991 sind die staatlichen Ausgaben von knapp 400 Mio. Euro auf 224 Mio. Euro im Jahr 2007 gesunken. Eltern gaben im Jahr 2007 durchschnittlich 20 Euro pro Schüler und Jahr für Schulbücher aus.


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Quelle:
Pressemitteilung Nr. 037/2009 vom 26. Januar 2009
Herausgeber:
Deutsche Messe AG, Hannover
Messegelände · D-30521 Hannover
Tel.: (0511) 89-0 · Fax (0511) 89-366 94
Internet: http://www.messe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2009