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BERICHT/048: Die Angst nach dem Terror (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 1/2007
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Die Angst nach dem Terror

Von Gerd Gigerenzer und Koautor Wolfgang Gaissmaier


Neben ihren unmittelbaren Folgen wirken Terroranschläge auch indirekt, da sie Unsicherheit und Ängste in den Köpfen vieler Menschen wecken - und damit Verhaltensweisen auslösen, die den Schaden oft noch vergrößern. Für Gerd Gigerenzer und Wolfgang Gaissmaier liegen die Ursachen dieser Ängste sowohl in der evolutionären Geschichte des Menschen als auch im Mangel an Informationen sowie in der falschen Einschätzung von Risiken: Mehr Aufklärung über diese psychologischen Hintergründe, so ihr Fazit, könnte zu einem kontrollierten Umgang mit Ängsten im Gefolge eines Terroranschlags verhelfen und dessen indirekte Schäden mindern.


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In dieser Welt ist nichts gewiss, außer dem Tod und den Steuern", schrieb Benjamin Franklin in einem Brief im November 1789, am Vorabend der Französischen Revolution. Was Franklin meint: Eigentlich alles im Leben ist ungewiss und mit Risiken behaftet. Und wir sind solcher Ungewissheit permanent ausgeliefert. Unser Geist geht jedoch nicht gern mit Ungewissheit um, sondern strebt stets nach Gewissheit.

Dieses Streben beeinflusst schon unsere Wahrnehmung. Das wird "augenfällig" beim Betrachten optischer Täuschungen, die darauf zielen, der Wahrnehmung einen Streich zu spielen: Ungeachtet des Wissens, dass eine optische Täuschung vorliegt, gaukelt der Geist dem Betrachter Eindeutigkeit vor. Auch wenn ausdrücklich gesagt wird, dass zwei Linien parallel zueinander liegen, kann der Geist uns vormachen, dass sie das nicht tun. Und selbst dann, wenn die Größe zweier Objekte ausgemessen und als gleich erwiesen ist, lässt sich - sofern die Objekte in bestimmter Art und Weise angeordnet sind - die Wahrnehmung nicht davon überzeugen.

Unser Gehirn verkauft unserem Bewusstsein die wahrscheinlichste Vermutung als definitives Ergebnis. Auch die Einsicht in ihr Zustandekommen kann eine Illusion nicht außer Kraft setzen. Und diese Illusion der Gewissheit bleibt keineswegs auf elementare Erfahrungen unserer Wahrnehmung beschränkt. Vielmehr bildet trügerische Gewissheit einen Teil unseres emotionalen und kulturellen Erbes. Von dieser Sehnsucht zeugen die Esoterik-Abteilungen der Buchhandlungen: Hier werden Sicherheiten angeboten, die in vielen Bereichen des Lebens nicht mehr zu finden sind. Solche Glaubenssysteme gab es zu allen Zeiten in der menschlichen Geschichte. Menschen suchten und suchen Trost in Religion, Astrologie und Weissagung - und das umso mehr, je schwerer die Zeiten.

Diese Sehnsucht nach Gewissheit bedienen auch Medizin, Wirtschaft und Politik. So sehen sich Ärzte häufig gezwungen, ihren Patienten Sicherheit zu vermitteln, wo gar keine ist: Sie teilen das Ergebnis eines medizinischen Tests als endgültige Wahrheit mit, obwohl es hierbei natürlich Fehler gibt. In vielen Fällen geschieht das nicht aus Unwissenheit, sondern vielmehr deshalb, um nicht unnötige Ängste beim Patienten zu schüren. Zugleich wollen die Ärzte vermeiden, dass sich ihre Patienten dann eben einen anderen Arzt suchen, der ihnen wieder Sicherheit gibt und sie beruhigt.

Versicherungsvertreter reden uns ein, dass eine Lebensversicherung moralisch geboten und notwendig ist, um Hinterbliebene im Ernstfall zu versorgen. Auch politische Parteien setzen auf diese Sehnsucht: Bei den Bundestagswahlen 1998 versprach die CDU in einem Slogan "Sicherheit statt Risiko" und bei anderen Parteien fanden sich ähnliche Wahlversprechungen.

Wollen sie Erfolg haben, müssen Politiker auf die Ängste der Bevölkerung reagieren. Häufig fühlen Menschen jedoch am meisten Angst vor Dingen, die sie kaum bedrohen. Ein Beispiel dafür bietet die Rinderkrankheit BSE, deren Bezeichnung sich vom englischen Begriff bovine spongiform encephalopathy ableitet und die im Deutschen häufig schlicht "Rinderwahnsinn" genannt wird. Bei dieser Erkrankung verändert sich das Hirngewebe von Rindern schwammartig.

Im Jahr 2000 griff BSE in vielen europäischen Ländern um sich, so in Großbritannien, Irland, Portugal, Frankreich und der Schweiz. Deutschland hingegen wurde von der damaligen Regierung für BSE-frei erklärt. "Deutsches Rindfleisch ist sicher" - diese Phrase wurde unentwegt wiederholt, sowohl vom Präsidenten des Bauernverbands als auch vom damaligen Landwirtschaftsminister. Die Deutschen ließen sich nur allzu gern beruhigen. Der Import von Fleisch aus Großbritannien wurde verboten und den Menschen suggeriert, sie wären auf der sicheren Seite, wenn sie bei ihrem Metzger Fleisch von in Deutschland gezüchteten Kühen verlangen würden.


Die Illusion der Gewissheit

Wie sehr diese Gewissheit trog, stellte sich bald heraus, denn umfangreichere Tests deckten BSE auch in deutschen Rinderherden auf. Doch umgehend wurde die nächste Illusion der Gewissheit aufgebaut: Gut, so der Tenor, es gibt auch in Deutschland BSE-Kühe, doch sie werden alle mit den Tests aufgespürt. Als die Medien dann von der ersten an BSE erkrankten Kuh berichteten, die von Tests übersehen worden war, war die Öffentlichkeit erneut schockiert. Wieder war eine illusorische Gewissheit dahin.

Die BSE-Krise schlug insgesamt hohe Wellen. Laut Umfragen des Allensbach-Instituts fühlten sich sehr viele Menschen durch die Rinderseuche BSE persönlich gefährdet. Auch brach der Rindfleischkonsum temporär stark ein. Zu guter Letzt führte die Krise sogar dazu, dass sich das Ministerkarussell drehte und hohe Ämter neu besetzt wurden.

Und all das, obschon BSE nach heutigen Erkenntnissen nicht einmal allzu gefährlich für den Menschen zu sein scheint. Europaweit sind an der den Menschen betreffenden Variante der Creutzfeldt-Jacob-Krankheit in den vergangenen 25 Jahren nur etwa 140 Menschen gestorben. Das sind, wie Ortwin Renn von der Universität Stuttgart festgestellt hat, ungefähr genauso viele Todesfälle, wie sie im selben Zeitraum durch das Trinken von parfümiertem Lampenöl verursacht wurden. Sie betrafen zumeist kleine Kinder, doch kaum jemand hat je über dieses Risiko berichtet. Auch das mindestens zehnfach höhere Risiko, an einer Salmonellenvergiftung zu sterben, erregt bei Weitem nicht dieselbe Aufmerksamkeit, die damals der Bedrohung durch BSE zuteil wurde. Ähnliche mediale Wellen der Angst lösten in den Folgejahren SARS oder die Vogelgrippe aus.

Das soll nicht heißen, dass diese Risiken keine Aufmerksamkeit verdienen oder nicht untersucht werden sollen. Auch geht es nicht darum, die Ängste der Menschen als abwegig und irrational darzustellen. Der Punkt ist vielmehr, die Ängste zu verstehen und zu erkennen, warum Menschen nun einmal vor bestimmten Risiken mehr Angst haben als vor anderen. Nur durch ein solches Verständnis kann man den Menschen dabei helfen, mit diesen Ängsten richtig umzugehen.

Denn die Angst kann ihrerseits zu einem Sicherheitsrisiko werden. Das illustrieren die unerwarteten Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten - Folgen, die weit über die direkten Schäden dieser Anschläge hinausreichten. Diese Folgen erklären sich durch die Angst in den Köpfen der Menschen, geschürt durch die Anschläge. Und diese Folgen hätten sich vielleicht vermeiden lassen, wären die Ängste der Menschen besser verstanden und stärker berücksichtigt worden.

Wohl jeder hat noch die schrecklichen Bilder vor Augen: die brennenden Zwillingstürme des World Trade Center, die durch Passagierflugzeuge zum Einsturz gebracht wurden. Diese Bilder haben sich regelrecht ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Etwa 3000 Menschen verloren durch diese Anschläge ihr Leben, darunter die 256 Passagiere der entführten Flugzeuge. Der Sachschaden ging in die Milliarden. Seitdem sei in der Welt nichts mehr, wie es war, hörte man in Folge dieser Anschläge immer wieder. Und in der Tat hat sich die Welt verändert: Das Gefühl der Verwundbarkeit führte zum sogenannten Krieg gegen den Terror.

Dabei konzentrierte sich die Bush-Regierung auf die direkten Schäden des 11. September. Eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt, um das Versagen der Geheimdienste aufzudecken und notwendige Sicherheitsvorkehrungen zu entwickeln, die solche Anschläge zukünftig verhindern sollen. Neue Gesetze wurden erlassen, Kontrollen verschärft; auch in Europa wird jedermann spätestens am Flughafen bewusst, dass sich etwas verändert hat.

Terroranschläge verursachen jedoch auch indirekte Schäden. Über sie haben die Terroristen keine Kontrolle. Sie entstehen durch die Gedanken und Verhaltensweisen der Menschen als Reaktion auf solche Anschläge. Im Fall des 11. September 2001 führten sie vor allem zu schweren Verlusten der Luftfahrt- und Tourismusindustrie: So gab es selbst drei Jahre später noch sieben Prozent weniger Inlandsflüge als davor, schätzungsweise sind bis zu 1,6 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen, die meisten davon in der Tourismusbranche. Solche indirekten Schäden sind nun natürlich keineswegs zwangsläufig. Ihre Ursachen sind psychologischer Natur und könnten prinzipiell verhindert werden. Doch dazu gilt es zu verstehen, dass sich Terroranschläge nicht nur gegen den Körper richten, sondern auch gegen den Geist.

Ereignisse wie die Anschläge auf das World Trade Center werden als dread risks bezeichnet. Damit sind Ereignisse gemeint, deren Eintreten sehr unwahrscheinlich und selten ist, die aber verheerende Schäden für viele Menschen bedeuten. Auf solche Risiken reagieren Menschen häufig mit Vermeidungsverhalten - und ganz anders als auf Risiken, bei denen viele Menschen über einen längeren Zeitraum verteilt sozusagen unspektakulär umkommen: So sterben jedes Jahr Zehntausende Menschen in Krankhäusern an den Folgen vermeidbarer medizinischer Fehler. Dennoch würden die Patienten wohl nicht die Krankenhäuser meiden, selbst wenn sie diese Zahlen kennen würden.

Das durch schreckliche Ereignisse ausgelöste Vermeidungsverhalten könnte zum einen tief liegende evolutionäre Ursachen haben. Denn zu Urzeiten lebten Menschen in kleinen Gruppen: Das machte Bedrohungen, die eine ganze Gruppe auf einmal betrafen, viel gefährlicher als die stetige Bedrohung Einzelner, selbst wenn durch die Bedrohung Einzelner insgesamt ebenso viele Menschen umkamen. Neben dieser evolutionären Erklärung lässt sich das Vermeidungsverhalten vermutlich teilweise auch schlicht durch einen Mangel an Information und eine häufige Fehleinschätzung von Risiken erklären.

Soll ein Mensch schätzen, wie viele Kilometer er mit dem Auto fahren müsste, um dasselbe Unfallrisiko zu haben wie bei einem Nonstop-Flug von Boston nach Los Angeles, gibt er meist an, dass er Zehn- oder gar Hunderttausende von Kilometern zurücklegen müsste. In Wirklichkeit ist ein solcher Nonstop-Flug jedoch nur so gefährlich wie eine Autofahrt von 20 Kilometern. Wer also mit dem Auto lebend am Flughafen ankommt, hat die größte Gefahr bereits überstanden. Häufig wird als Antwort auf diese Rechnung jedoch entgegnet, dass ein Fluggast dem Piloten hilflos ausgeliefert sei, wohingegen viele Menschen davon überzeugt sind, das Autofahren unterliege ganz ihrer Kontrolle. Aber erstaunlicherweise fühlen sie sich häufig auch als Beifahrer sicherer als in einem Flugzeug.

Wie könnte nun Vermeidungsverhalten in Folge des 11. September aussehen? Und, noch wichtiger: Welche Konsequenzen brächte ein solches Vermeidungsverhalten mit sich? Das sollen im Folgenden drei Vermutungen skizzieren, die sich jeweils mit Daten stützen lassen.

Zunächst einmal könnten Amerikaner nach dem 11. September das Reisen mit dem Flugzeug deutlich einschränken. In diesem Fall ist die Annahme plausibel, dass sie vermehrt auf das Auto umsteigen, um ihre Ziele zu erreichen. Also könnten Menschen nach dem 11. September bei dem Versuch, dem Risiko eines Terroranschlags oder einer damit verbundenen Flugzeugentführung zu entgehen, ihr Leben auf den Straßen Amerikas verloren haben.

In der Tat brach die Luftfahrtindustrie direkt nach dem Anschlag drastisch ein. So sank in den Monaten Oktober, November und Dezember 2001 die Zahl der Flugmeilen um 20, 17 und 12 Prozent - jeweils verglichen mit dem Vorjahr. Natürlich folgt daraus nicht zwangsläufig, dass all diese Flugmeilen stattdessen mit dem Auto zurückgelegt wurden. Überhaupt ist ein solches Umsteigen nur schwerlich direkt zu beobachten. Allerdings stützen Indizien die Überlegung, dass viele Menschen vom Flugzeug aufs (vermeintlich sicherere) Auto wechselten. Die im Straßenverkehr zurückgelegten Meilen nahmen in den Folgemonaten nach dem Anschlag um jeweils ungefähr drei Prozent zu, verglichen mit dem Vorjahr.


Mehr Meilen auf der Autobahn

Wenn es sich hierbei vor allem um Meilen handelte, die nun mit dem Auto statt mit dem Flugzeug zurückgelegt wurden, dann sollte diese Steigerung weniger in städtischen Bereichen zu finden sein, sondern vor allem auf Überlandautobahnen. In der Tat wuchs dort in den drei Folgemonaten der Verkehr um 5,2 Prozent, und auch in den Monaten Januar bis September 2002 wurde auf Überlandautobahnen noch ungefähr ein Plus von drei Prozent an Verkehr registriert, jeweils verglichen mit dem Vorjahr. Nach ziemlich genau einem Jahr normalisierte sich der Verkehr wieder.

Nun birgt eine Zunahme an Verkehr nicht nur ein erhöhtes Staurisiko; es stehen auch Leben auf dem Spiel. In den Jahren 1996 bis 2000 reichte die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle in den USA von 2500 im Monat Februar bis zu 3500 im Monat August. Innerhalb der Monate gab es in diesem Fünfjahreszeitraum nur sehr geringe Schwankungen von durchschnittlich 115 Unfällen. Der August 2001, der Vormonat der Anschläge, war sogar ein besonders normaler Monat mit nur neun Unfällen über dem Durchschnitt.

Diese über fünf Jahre beobachtete Regelmäßigkeit brach nach den Terroranschlägen dramatisch zusammen. Für einen Zeitraum von zwölf Monaten (von Oktober 2001 bis September 2002) gab es in jedem Monat mehr Unfälle, als vom Durchschnitt der fünf Vorjahre zu erwarten gewesen wäre. In vielen Monaten überschritt die Anzahl an registrierten Unfällen sogar die höchsten beobachteten Werte der fünf Vorjahre. Dieser Anstieg an tödlichen Verkehrsunfällen ist in exakt demselben Zeitraum wie die Zunahme an Verkehr zu beobachten.

Und ebenso wie die zurückgelegten Meilen pendelte sich auch die Zahl der tödlichen Unfälle nach ziemlich genau einem Jahr wieder auf dem Durchschnittswert der Vorjahre ein. Dieses konsistente Muster unterstützt die Hypothese, wonach die Terroranschläge über die Angst in den Köpfen, die sie verursachten, weitere Todesfälle gefordert haben.

Insgesamt waren von Oktober 2001 bis September 2002 ungefähr 1500 zusätzliche Unfälle mit tödlichen Folgen auf Amerikas Straßen zu beklagen. Jeder Unfall forderte dabei etwas mehr als ein Menschenleben, sodass insgesamt um die 1600 Menschen ihr Leben bei dem Versuch verloren, dem Risiko des Fliegens zu entgehen - also rund sechsmal so viele wie die 256 Passagiere, die am 11. September in den Flugzeugen umgekommen waren.


Spanier reagieren ganz anders

Es drängt sich unweigerlich die Frage auf, inwieweit diese Ergebnisse einen Einzelfall darstellen oder ob sich ähnliche Phänomene auch in anderen Kulturen beobachten lassen. Zweieinhalb Jahre nach den Terroranschlägen in New York, am 11. März 2004, explodierten Bomben in vier Nahverkehrszügen in Madrid während der Hauptverkehrszeit. 200 Menschen wurden getötet, 1460 verwundet. Wenn diese Anschläge in ähnlicher Weise Vermeidungsverhalten ausgelöst haben, sollte sich dies in einem Rückgang der Zugreisen widerspiegeln.

In der Tat sanken die Passagierzahlen im spanischen Zugverkehr nach den Anschlägen, wenngleich der Effekt nicht so ausgeprägt und vor allem sehr viel kürzer auftrat (nur zwei statt zwölf Monate). Doch führte dies nicht dazu, dass gleichzeitig der Verkehr auf den Autobahnen anwuchs - ganz im Gegenteil: Die Spanier schienen nach den Anschlägen generell weniger zu reisen, sodass auch der Verkehr auf den Straßen und damit geringfügig auch die Zahl der Verkehrstoten abnahm. Die Madrider Anschläge führten also nicht zu zusätzlichen Verkehrstoten, die sich durch die Angst in den Köpfen der Menschen erklären ließen.

Im Gegensatz zu den Amerikanern stiegen die Spanier nicht aus Angst vor vermeintlich größeren Gefahren ins Auto. Doch woher kommt es, dass in Spanien die Reaktionen auf den Terror so anders waren als in den Vereinigten Staaten? Einerseits gibt es in den USA vielleicht eine ausgeprägtere Kultur des Autofahrens, was dort das Umsteigen auf das Auto schon von Grund auf wahrscheinlicher machte. Andererseits ist in Spanien auch der öffentliche Nahverkehr besser ausgebaut und so boten sich dort mehr Alternativen. Zu guter Letzt empfinden Spanier nach Jahrzehnten des Terrors durch die ETA einen Terroranschlag vielleicht eher als kalkuliertes Risiko denn als dread risk.

Der Untersuchungsbericht zum 11. September forderte, alle Instrumente nationaler Macht einzusetzen, um den weltweiten Terrorismus zu besiegen: Diplomatie, Geheimdienstarbeit, bessere Durchsetzung von Gesetzen, Wirtschaftspolitik und Entwicklungshilfe. Die genauere Betrachtung der indirekten Schäden durch erhöhte Opferzahlen im Straßenverkehr zeigt jedoch, dass es noch ein zweites Ziel geben sollte: nämlich die Folgen des Terrorismus in den Köpfen der Menschen zu bekämpfen. Dazu müssten diese Folgen aber erst einmal bewusst gemacht werden.

Aufklärung und Information würden vielleicht nicht dazu führen, dass jeder sofort sein Verhalten verändert; sie könnten aber bewirken, dass viele Menschen ihre verständlichen Ängste im Gefolge solch schrecklicher Ereignisse besser verstehen. Dadurch könnten sie weiter lernen, diese Ängste zu kontrollieren und zu hinterfragen, was in einem Fall wie "9/11" Leben retten würde. Ansonsten droht sich die Geschichte nach jedem neuen Terroranschlag zu wiederholen.

Das Beispiel verdeutlicht, wie wichtig der informierte Umgang mit Risiken für eine moderne Gesellschaft ist - eine Einschätzung, die auch Bundeskanzlerin Angela Merkel teilt, wie ihre Worte im Magazin Cicero verdeutlichen: "Und unsere Gesellschaft muss stärker lernen, Risiken zu bewerten, ganz generell gesprochen. Das Leben mit der Chance und dem Risiko ist ein wichtiges gesellschaftliches Problem. Ich finde es in einer komplexer werdenden Welt auch wichtig, Kinder bereits frühzeitig an solche Abwägungen heranzuführen, die sie später immer wieder vornehmen müssen."


Der Psychologe Gerd Gigerenzer ist Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Koautor Wolfgang Gaissmaier, ebenfalls Psychologe, ist Postdoktorand am selben Institut.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft 1/2007, S. 15-18
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2007