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BERICHT/068: Engagement in Somaliland (idw)


Universität Konstanz - 14.11.2008

Engagement in Somaliland

Somalia kommt nicht aus den Schlagzeilen. Dr. Michael Odenwald, Diplom-Psychologe an der Universität Konstanz, engagiert sich in der abtrünnigen Region Somaliland. "Im Gespräch" hat ihn nach Details zu seiner Arbeit gefragt.


Frage: Herr Dr. Odenwald, warum engagieren Sie sich ausgerechnet in Somaliland?

Antwort: In Somaliland ist die Häufigkeit der ganz schweren psychischen Erkrankungen frappierend. Die Kranken - Ex-Kombattanten wie Zivilisten - sind häufig psychotisch und aufgrund des Krieges traumatisiert beziehungsweise depressiv. Hinzu kommt, dass die meisten von der Droge Khat abhängig sind; die Blätter des Khatstrauches enthalten das amphetaminähnliche Kathinon und gelten als traditionelle Rauschdroge am Horn von Afrika und auf der arabischen Halbinsel. Junges Alter, massive Traumaerfahrung und exzessiver Drogenmissbrauch - wenn diese drei Faktoren zusammenkommen, bewirken sie eine besondere Anfälligkeit für bestimmte psychiatrische Erkrankungen. Wir sammeln dazu Daten.

Frage: Seit wann?

Antwort: Seit 2002. Als wir damals 612 Haushalte befragt haben, war in jedem fünften ein psychisch Kranker, der zumindest phasenweise angekettet wurde. Man muss dazu wissen, dass psychische Erkrankungen in Somaliland ein Riesentabu sind - wie vor 150 Jahren, als es bei uns noch keine Psychiatrie gab und die Patienten wie Tiere gehalten wurden.

Frage: Sie sammeln nicht nur Daten, sondern helfen den Betroffenen auch.

Antwort: Ja. Seit zweieinhalb Jahren sind wir auch vor Ort, um zusammen mit lokalen Partnerorganisationen die Situation zu ändern: Wir haben einen Pilotversuch zur gemeindenahen psychiatrischen Versorgung initiiert. Damit wollen wir ein Modell für eine angepasste, effektive und kostensparende Behandlung aufstellen. Wir untersuchen dabei, wie wir nicht nur den Patienten selbst, sondern auch deren Familien helfen können. Die Kranken sind häufig Männer und die Caretaker sind mehrheitlich Frauen, Mütter, Ehefrauen oder Schwestern. Die Erkrankung eines Familienmitglieds hat oft sehr viel schwerwiegendere Folgen für die ganze Familie als hier in Deutschland.

Frage: Inwiefern?

Antwort: Es gibt in Somaliland kaum Ärzte mit einer Ausbildung in Psychiatrie, und die Verfügbarkeit von Medikamenten ist problematisch und schwankt. Eine psychiatrische Behandlung in Somaliland sieht aufgrund der Rahmenbedingungen anders aus als bei uns in Deutschland. In unserem Pilotversuch haben wir einen Psychiater, der regelmäßig nach Somaliland kommt und die richtigen Medikamente verschreibt und der auch während der laufenden Behandlung für Fragen zur Verfügung steht. Eine Gruppe von ausgebildeten lokalen Mitarbeitern arbeitet für uns Teilzeit. Sie machen regelmäßige Hausbesuche bei den Familien, versorgen sie mit den Medikamenten, erkennen Nebenwirkungen, klären die Familien über die Erkrankung und die Wirkung der Medikamente auf, und versuchen, den Konsum der Droge Khat zu reduzieren. Von 30 Familien, deren Geschichten wir verfolgen, sind fünf Männer wieder in Ordnung - sie ernähren wieder ihre Familien. 15 bis 20 sind so weit, dass bei ihnen die Gewalt nicht mehr dominiert. Wir hatten den Fall eines Mannes, der seine Mutter so verprügelt hat, dass sie gestorben ist. Ein anderer hat seine schwangere Schwester so geschlagen hat, dass sie zweimal ein Kind verloren hat.

Frage: Das heißt, die ganze Familie leidet unter der Erkrankung...

Antwort: Ja. Zwei Drittel der Mütter beziehungsweise Ehefrauen der Patienten sind so depressiv, dass sie es nicht mehr schaffen, etwas zu machen.

Frage: Gibt es keine andere Hilfe als die Ihre vor Ort?

Antwort: Es gibt in Somaliland bei 3,5 Millionen Menschen drei Kliniken oder Abteilungen in Kliniken für die Behandlung psychisch Kranker. Beispielsweise in der Hauptstadt Hageisa gibt es 120 "Betten", natürlich nicht in unserem Sinn. Es gibt dort keinen Arzt, die Angehörigen müssen bei ihren Kranken sein und sie versorgen, zum Beispiel auch mit Essen. Die Anzahl von Mitarbeitern in dieser Abteilung ist gering: Um die Kranken kümmern sich derzeit drei ausgebildete Kräfte, Krankenschwestern und -pfleger, und einige ehemalige Patienten. Die Kranken sind oftmals angekettet und hinter Stacheldraht. Von der Weltgesundheitsorganisation gibt es grundlegende Medikamente. Da aber kein Arzt dort arbeitet, besteht die Gefahr, dass diese verantwortungslos gegeben werden. Sie können massive Nebenwirkungen hervorrufen, wenn sie nicht richtig dosiert werden oder die Medikamente gegen die Nebenwirkungen nicht bekannt sind beziehungsweise nicht zur Verfügung stehen.

Frage: Warum gibt es keine besseren Kliniken?

Antwort: Ausgebildete Fachkräfte haben das Land verlassen und arbeiten nun in arabischen und westlichen Ländern. Es gibt Riesenprobleme beim Wiederaufbau von Kliniken - das Gesundheitsministerium hat nur einen sehr kleinen Etat. Hinzu kommt, dass die Gesundheitspolitik durch die Machtpolitik sehr behindert ist - ständig muss die politische Balance zwischen den ehemals verfeindeten Clans, die in Somaliland eine sehr wichtige Rolle spielen, hergestellt werden. Die Fachpolitik gerät dabei zu oft in den Hintergrund. Alle Versuche, die ich in den vergangenen sechs Jahren gesehen habe, von Seiten der offiziellen Entwicklungshilfe diese Misere in den Psychiatrien zu verbessern, sind fehlgeschlagen. Mal wurden 120 Betten und Matratzen gespendet - für ein Land, in dem die Mehrzahl der Menschen nicht auf Matratzen schläft. Ein anderes Mal wurden Computer und Büromöbel angeschafft, um ein Dokumentationssystem und eine Patientenkartei aufzubauen. Mal wurden riesige Mengen von Medikamenten gespendet, die leider keiner verschreiben konnte.

Frage: Welches Medikament war das?

Antwort: Es hat sich herausgestellt, dass es sich um Peracin, ein gutes, klassisches Antipsychotikum aus den 70er-Jahren, handelte. Dabei war es gar nicht möglich, diese Tabletten fachgerecht zu verschreiben. Die Computer und auch die Aktenschränke sind weg. Es gibt immer noch keine Patientenakten. Die meisten der Mitarbeiter in den Kliniken können weder lesen noch schreiben.

Frage: Offenbar werden die Verhältnisse in Somaliland völlig falsch eingeschätzt.

Antwort: Ja, das stimmt. Dabei geht es dort um ganz banale Dinge. Es werden in die Klinken angekettete Männer rein getragen, teils hoch agitiert. Ich habe einen manisch Kranken gesehen, der in einer Klinik mit einer Eisenstange unterwegs war. Für ihn gab es keine Medikamente, er wurde lediglich verwahrt. Er hätte jeden erschlagen können. Die Familien tragen die Last der Erkrankungen und das tun sie auch bis zu dem Punkt, wo sie die Patienten nicht mehr "managen" können, zum Beispiel wenn sie in ihrer Manie oder Paranoia massiv bedrohlich werden. Dann werden die Patienten in Gefängnisse oder Kliniken gebracht. Das ganz Banale ist, die Familien brauchen Hilfe bei ihrer Aufgabe. Damit kann den Patienten am besten geholfen werden.

Frage: Suchen manche Familien mit psychisch Kranken ihr Heil bei traditionellen Heilern?

Antwort: Es gibt wahnsinnig viele private Hilfsangebote. Darunter sind auch traditionelle Heiler, manche sind weise Männer und Frauen, die gute Arbeit leisten, aber es gibt eben auch viele Scharlatane. Das ist in den letzten Jahren ein wirkliches Geschäft geworden. Die Familien zahlen ihnen viel Geld. Auch laut Weltgesundheitsorganisation ist die "Behandlung" psychisch Kranker in der Region ein Riesenbusiness geworden. Diese traditionellen Heilungszentren sind zum Teil in normalen Wohneinheiten oder in Zelten vor der Stadt; manche arbeiten ambulant, andere betreiben stationäre Zentren. Mal finden sich dort drei psychisch Kranke, mal sind da Duzende angekettet. Es gibt Zentren, in denen die Kranken den ganzen Tag über Lautsprecher Koranverse hören. In anderen werden Geisteraustreibungen mit Schlägen gemacht, manche der Heiler geben Kräutersude, andere geben westliche Medikamente. Ein Riesenspektrum, jeder kann machen, was er will. Für uns ist klar: Diese psychisch schwer Kranken brauchen die richtigen Medikamente, verschrieben von Fachleuten, und die Familien brauchen Hilfe und Orientierung, um diese Erkrankungen und deren Behandlung zu verstehen.

Frage: Zu Ihrer Arbeit gehört die Erforschung der Wirkungsweise der Droge Khat.

Antwort: Ja. Der Westen von Somaliland ist stärker betroffen als der Osten -Somaliland wird via Äthiopien auf dem Landweg mit Khat beliefert. Wir sehen immer mehr die Notwendigkeit, eine angepasste Drogentherapie zu entwickeln. Trauma und Drogen - das ist eine Kombination, die viele Familien ausbaden müssen. Wir wollen nicht "nur" durch die medikamentöse Behandlung Kranker helfen. Deshalb empfehlen wir den Betroffenen, dass sie sich zusammenschließen, um gegen die Stigmatisierung in der Gesellschaft zu kämpfen und ein Bewusstsein für diese Probleme in der Öffentlichkeit zu schaffen.

Frage: Ist die Arbeit mit den Familien schwierig?

Antwort: Bisweilen schon. Es kann sein, dass die ganze Familie von Khat abhängig ist. Unsere Mitarbeiter werden dann manchmal rausgeworfen oder bedroht. Aber die Arbeit mit Familien erfordert zuweilen einen langen Atem - bis die Leute überzeugt sind, dass wir es ernst meinen oder dass sie wirklich ein Problem haben, zu dessen Lösung sie mit ihrer eigenen Anstrengung beitragen müssen.

Frage: Wie finanzieren Sie Ihre Arbeit?

Antwort: Das ist ein leidiges Thema. Seit zwei Jahren schreibe ich Anträge an verschiedene Organisationen. Sobald der Name Somalia auftaucht, winken sie ab. Derzeit finanzieren wir unsere Hilfe - Trainings, den Lohn für die lokalen Mitarbeiter und Medikamente etwa - hauptsächlich aus Spenden. Wir wissen, dass das, was wir für die Patienten tun können und auch, um die Belastung der Angehörigen zu reduzieren, nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Wir hoffen, dass wir mit der wissenschaftlichen Evaluation unseres Modellprojektes andere Organisationen ermutigen, diesen Weg der Hilfe zu beschreiten, statt das Problem dem nicht existierenden Krankenhaussystem zu überlassen. Die fehlende Krankenhausversorgung ist übrigens nicht nur ein Problem von Somaliland, sondern von vielen Entwicklungsländern.

Frage: Machen Sie auch Drogenprävention?

Antwort: Ja, auch wenn es nicht unsere Hauptarbeit ist. Für Kinder und Jugendliche möchten wir eine Broschüre machen. "Khat ist schlimm" -mit dieser Haltung erreichen wir sie nicht. Viel besser ist es, eine offene Diskussion zu führen. Wir wollen sie wie Erwachsene behandeln, ihnen Fakten geben. Unsere Botschaft: Entscheidet selbst, aber die Fakten belegen: Am besten mit Khat erst gar nicht anfangen.

Frage: Irgendwie scheint Somalia nicht zur Ruhe zu kommen. Haben Sie sich schon überlegt, Ihre Arbeit einzustellen?

Antwort: Nein. Wissenschaftlich gesehen ist die Situation in Somaliland, was den Konsum von Khat anbelangt, weltweit einmalig: Ein Amphetamin ist die Hauptdroge, die von den meisten als alleinige Droge konsumiert wird. Das Zusammenspiel von Trauma und Amphetamin bei jungen Leuten ist eine besonders verheerende Kombination, die man sonst nur in Laborexperimenten mit Tieren untersuchen kann. Hat man dieses Problem, das gewaltig unterschätzt wird, verstanden, hat man einiges über die Ursachen der schweren psychischen Erkrankung überall auf der Welt verstanden. Hinzu kommt der menschliche Aspekt: Manche Angehörige sind so verzweifelt, dass sie beschließen, ihre schwer psychisch Kranken verhungern zu lassen. Das kann einfach nicht sein.


Zur Person:
Michael Odenwald wurde 1970 in Tauberbischofsheim geboren. Bereits während seiner Schul- und Studienzeit absolvierte er mehrere Praktika in Entwicklungshilfeprojekten und bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Er studierte Psychologie in Würzburg und Lissabon und initiierte 1998 im Rahmen seiner Diplomarbeit ein Forschungsprojekt über die psychische Belastung von ehemaligen portugiesischen Soldaten, die in den 60er-und 70er-Jahren in Kriegen in Afrika eingesetzt waren. Er arbeitete mehrere Jahre im klinischen Bereich, bevor 2002 an die Universität Konstanz wechselte. Dort arbeitete er zunächst mit traumatisierten Flüchtlingen, später mit Patienten, die an einer Schizophrenie leiden. Nach seiner Promotion zum Drogenproblem in Somalia arbeitet Michael Odenwald derzeit als Dozent und Projektleiter im Bereich Suchtforschung an der Universität Konstanz und am Zentrum für Psychiatrie Reichenau. Er war in den vergangenen Jahren unter anderem in beratender Funktion für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) tätig. Seine besonderen Forschungsinteressen gelten den komplexen Entstehungsbedingungen von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution1282


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Konstanz, Claudia Leitenstorfer, 14.11.2008
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2008