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FRAGEN/022: Bindungsforscherin Ute Ziegenhain - "Für die Signale des Kindes sensibilisieren" (Gehirn und Geist)


Gehirn und Geist 9/2013
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

»Für die Signale des Kindes sensibilisieren«

Interview mit Bildungsforscherin Ute Ziegenhain



Feingefühl im Umgang mit dem Nachwuchs kann man lernen, sagt die Bindungsforscherin Ute Ziegenhain vom Ulmer Universitätsklinikum. Gerade hochbelastete Eltern stehen solchen Hilfsangeboten jedoch oft reserviert gegenüber.


Frau Professor Ziegenhain, sind Ihnen schon einmal perfekte Eltern begegnet?

Nein, die gibt es nicht - und das wäre für Kinder auch gar nicht so gut! Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat einmal gesagt: »Entwicklung vollzieht sich auch am Widerstand«. Damit meinte er, dass es Ecken und Kanten braucht, damit sich ein Kind weiterentwickeln kann.

Gibt es Probleme zwischen Eltern und Babys, die häufig auftreten, sich aber ganz leicht lösen lassen?

Das trifft am ehesten auf einfache Missverständnisse zu, also wenn Eltern die Signale ihres Kindes nicht richtig deuten. Beispielsweise drehen Säuglinge ihren Kopf weg, blicken zur Seite oder ins Leere, wenn ihnen die Stimulation von außen zu viel wird. Manche Eltern nehmen das persönlich und sagen: Schau mich doch mal an! Oder: Wo guckst du denn hin? So entsteht ein Teufelskreis, weil sie das Kind mit dieser Ansprache weiter stimulieren, obwohl es schon überfordert ist. In solchen Situationen hilft es, die Eltern für die Signale des Kindes zu sensibilisieren, damit sie angemessen reagieren können: dem Kind eine Pause gönnen, es hochnehmen oder in Ruhe lassen.

Brauchen Eltern dafür spezielles Wissen?

Es geht vor allem darum, dass Eltern ihren Nachwuchs aufmerksam beobachten. Allgemeinwissen über die kindliche Entwicklung ist wichtig, aber das harmonische Zusammenspiel zwischen Eltern und Kind zu fördern, ist noch wichtiger. Manchen Kindern gefällt es, wenn man mit ihnen herumtobt, andere mögen das gar nicht. Zum jeweiligen Temperament kommen noch unterschiedliche Stimmungen und Müdigkeit hinzu, außerdem die aktuellen Bedürfnisse je nach Situation, etwa zu Hause oder bei fremden Menschen. Deshalb ist es wichtig, auf individuelle Signale zu achten, sie richtig zu deuten und feinfühlig auf sie zu reagieren.

Können Eltern dieses feinfühlige Verhalten erlernen?

Ja, denn ebenso wie Säuglingen das Bedürfnis nach Bindung in die Wiege gelegt ist, so sind auch Eltern biologisch dafür ausgestattet, sich gegenüber ihrem Kind angemessen zu verhalten. Dieses »intuitive Elternverhalten« wurde erstmals vom Münchner Ehepaar Papousek beschrieben. Dazu zählt zum Beispiel die typische Babysprache mit hoher Stimme, ausgeprägter Betonung und langen Pausen - oder auch der Abstand von ungefähr 20 Zentimetern, den Eltern herstellen, wenn sie mit ihrem Kind sprechen. Er entspricht genau der Entfernung, in der Neugeborene ihre Umwelt einigermaßen gut fixieren können. Auf diesem intuitiven Verhalten baut die elterliche Feinfühligkeit auf: prompte, zuverlässige und angemessene Reaktionen auf kindliche Signale. Dieses Verhalten fördert die Bindung zwischen Eltern und Kind und ist so ein wichtiger, wenn auch nicht der alleinige Faktor für die soziale Entwicklung.

Die nötigen Kompetenzen bringen wohl nicht alle Eltern mit, wie Fälle von Misshandlung und Vernachlässigung immer wieder zeigen.

Auf Grund eigener Belastungen können solche Kompetenzen, also intuitives und feinfühliges Elternverhalten, verschüttet sein. Mit der richtigen Unterstützung kann man zwar helfen, es wieder hervorzulocken und feinfühliges Verhalten zu erlernen. Die Förderung hat jedoch Grenzen, wenn die Eltern selbst massiv belastet sind und deshalb Probleme haben, die Perspektive des Säuglings zu übernehmen und sich empathisch zu verhalten. Darauf deuten typische Fehlschlüsse hin, zum Beispiel: »Das Kind schreit nur, um mich zu ärgern.« Oder wenn Eltern nicht bemerken, dass sie das Baby in viel zu schnellem Tempo füttern. Auch psychisch kranke Eltern brauchen oft mehr Unterstützung - je nach Störungsbild, Schweregrad und Krankheitsphase. Während akuter psychischer Krisen sind die elterlichen Kompetenzen natürlich begrenzt.

Sie und Ihre Kollegen vom Uniklinikum Ulm bieten seit dem Jahr 2000 die »Entwicklungspsychologische Beratung« an. Wie gehen Sie dabei vor?

Unser Programm soll die Bindung fördern und ruht auf zwei Säulen: dem Wissen aus der Bindungsforschung über elterliche Feinfühligkeit und Erkenntnissen über das Regulations- und Belastungsverhalten bei Säuglingen und Kleinkindern. Wir wissen heute, dass es zwischen dem lächelnden und dem brüllenden Kind eine Reihe von Abstufungen gibt, die sich an so genannten Feinzeichen festmachen lassen (Anm. d. Red.: siehe Randspalten). Sie geben Aufschluss darüber, ob das Kind gerade offen und aufmerksam ist oder ob es Unterstützung braucht, um sich wieder wohlzufühlen. Eltern können lernen, diese individuelle Sprache des Kindes zu verstehen - und meist klappt das auch ganz schnell. Wir arbeiten videogestützt und beginnen immer mit einer positiven Situation, in der man sieht, dass die Beziehung gerade stimmt. Beim nächsten Termin eine Woche später nehmen wir dann zusätzlich eine weniger gelungene Situation und beschreiben sie aus Sicht des Kindes: »Wenn Sie es jetzt ein Stückchen weiter weghalten und dabei seinen Kopf stützen, dann kann Ihr Baby Sie anschauen.« Das funktioniert in der Regel gut, und das bestärkt wiederum die Eltern darin, auf die Bedürfnisse des Kindes zu achten.

Gelingt das grundsätzlich bei allen Kindern - auch solchen mit schwierigem Temperament?

Die Welt ist leider nicht immer fair. Bei Kindern mit sonnigem Gemüt läuft alles wunderbar. Bei Babys mit schwierigerem Temperament - schwer zu trösten, schwer zu beruhigen - kommen feinfühlige Eltern zwar immer noch gut klar. Probleme treten aber oft dann auf, wenn die Eltern - auf Grund von Belastungen oder auch nach eigenen schwierigen Vorerfahrungen - weniger intuitiv und feinfühlig sind. Dann brauchen sie Unterstützung.

Gerade so genannte Risikoeltern stehen »Frühen Hilfen« skeptisch gegenüber, weil sie fürchten, dass ihnen im schlimmsten Fall das Kind weggenommen wird. Sollte man ihnen nicht Vertraulichkeit zusichern, damit sie die Frühen Hilfen annehmen? Und den Schutz des Kindeswohls anderen Stellen überlassen?

Schutzauftrag und Förderung kann man nicht trennen, denn es geht um ein und dasselbe Kind. Ich halte das sogar für gefährlich. Das Kindeswohl ist vor allem in den ersten vier Lebensjahren gefährdet; in diesem Zeitraum kommt es überproportional häufig zu Todesfällen. Das liegt daran, dass es reichen kann, ein Kind ein einziges Mal zu schütteln, um schwere Folgeschäden oder gar dessen Tod zu verursachen. Gerade in der frühen Kindheit gibt es nicht selten abrupte Übergänge von dezenten Hinweisen bis zur akuten Gefährdung. In kritischen Situationen muss deshalb rasch reagiert werden. Diesen Kinderschutz kann nicht eine Institution allein leisten, sondern nur eine koordinierte Zusammenarbeit aller Beteiligten. Mit dem Bundeskinderschutzgesetz und den neuen Finanzierungsmöglichkeiten gibt es nun Koordinatoren, die solche Vernetzungsstrukturen aufbauen. In Bayern gab es das schon zuvor in Form von »koordinierenden Kinderschutzstellen«. In Rheinland-Pfalz wurden sie bereits früh im Rahmen des Landeskinderschutzes finanziert. Diese Vernetzung ist anstrengend und politisch nicht so gut zu verkaufen wie konkrete Maßnahmen, etwa Früherkennungsuntersuchungen. Aber es ist der richtige Weg.

Manche Hebammen sehen das anders: Sie fürchten, Familie bauen kein Vertrauen mehr auf, wenn sie Angst haben müssen, dass die Hebamme sie beim Jugendamt meldet.

Ich finde den Begriff »melden« in diesem Zusammenhang unpassend. Er impliziert, dass man etwas beobachtet und hinterrücks weitergibt. Misshandlung und Vernachlässigung fallen aber nicht vom Himmel. Es gibt natürlich auch Impulshandlungen, die nicht vorhersehbar sind, aber in der Regel handelt es sich um einen schleichenden Prozess, der in einer Eskalation endet. Und genau darin liegt die Chance: Eine Familienhebamme kann schon früh erkennen, ob eine Familie mehr Unterstützung braucht. Und sie sollte damit offen umgehen und bei den Eltern dafür werben, weitergehende Hilfen und Unterstützung anzunehmen.

Wie genau gelingt ihr das?

Sie kann frühzeitig sagen: »Wenn wir das nicht hinkriegen und Sie weitere Unterstützung brauchen, dann würde ich gerne meine Kollegin aus der Jugendhilfe hinzuziehen. Ich werde das aber immer offenlegen.« Und wenn es so weit ist, kann sie sagen: »Ich kann das nicht verantworten, ich glaube, Sie brauchen mehr Unterstützung. Ich habe aber eine Idee, wer uns helfen könnte. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir jetzt zusammen Hilfe suchen.« Und wenn die Familie nicht einverstanden ist, kann sie sagen: »Ich tue das vielleicht gegen Ihren Willen, aber nicht ohne Ihr Wissen.« Diese Fälle sind emotional herausfordernd, aber nicht so häufig. Die Früherkennung von Kindeswohlgefährdung ist nur ein kleiner Teil der Frühen Hilfen: Die meiste Arbeit ist das Unterstützen und Fördern, das dem Kindeswohl unmittelbar zugutekommt.

Angenommen, Sie könnten Frühe Hilfen in Deutschland gestalten: Wie würde das Angebot aussehen?

Wir brauchen ein breites Angebot nach dem Baukastenprinzip, das der Vielfalt der Bedürfnisse entspricht: von Fragen zur Entwicklung bis hin zu Intensivberatung mit Videounterstützung für hochbelastete Familien. Welche Bausteine angeboten werden, sollte davon abhängen, was das Kind benötigt, nicht davon, was dem Anbieter zur Verfügung steht. Für Risikofamilien brauchen wir jemanden, der jene Profis koordiniert, die normalerweise nicht engmaschig zusammenarbeiten. Zudem wollen viele Mütter zunächst vielleicht gar keine Unterstützung. Sie sagen: Wir haben doch schon zwei Kinder großgekriegt. Wozu die Hilfe beim dritten? Da muss man oft selbst mit viel Feingefühl Überzeugungsarbeit leisten.

Das Gespräch führte Christiane Gelitz, Psychologin und Redaktionsleiterin von »Gehirn und Geist«.



Randspalten

Subtile Signale: Feinzeichen bei Säuglingen

Unter anderem folgende Hinweise lassen auf Ansprechbarkeit des Babys schließen:

• regelmäßige Atmung
• rosige Hautfarbe
• weiche Bewegungsabläufe, entspannte Körperhaltung
• Kopf zur Bezugsperson gewandt
• Blickkontakt suchen und halten
• lächeln mit leicht geöffnetem Mund
• sich anschmiegen, einkuscheln
• Geräusche und Laute machen, brabbeln

Diese Signale weisen auf Belastung und Selbstberuhigung bei Kindern hin:

• gähnen, seufzen, niesen, grimassieren
• sich selbst festhalten, Hände oder Füße zusammenlegen/falten
• mit der Hand sich selbst (am Mund, Kopf, Körper) berühren
• am Daumen oder Schnuller lutschen, Zunge herausstrecken
• blinzeln, kurz die Augen schließen, Augen reiben
• Blick abwenden, Kopf wegdrehen

Feinzeichen, die starke Belastung oder Überforderung anzeigen:

• gepresste, unregelmäßige Atmung
• marmorierte, gerötete oder blasse Haut
• würgen, spucken, drücken
• sich stark überstrecken
• mit den Armen rudern
• Arm oder Hand der Bezugsperson wegdrücken
• körperliches Erstarren oder Einfrieren
• aufgerissene Augen, starrer Blick
• schreien, weinen


Ute Ziegenhain geboren 1956 in Alsfeld, studierte bis 1983 Pädagogik und Sozialpädagogik in Gießen, Trier und Berlin. Nach ihrer Promotion in Entwicklungspsychologie sowie verschiedenen Lehr- und Forschungsstationen wechselte sie 2001 an die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulm. Dort leitet sie seit 2006 die Sektion »Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie« und wurde 2010 zur außerplanmäßigen Professorin berufen. Ziegenhain erforschte die frühkindliche Bindung und entwickelte mit ihrer Arbeitsgruppe Programme zur Förderung elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen, darunter die »Entwicklungspsychologische Beratung«. Von 2006 bis 2010 leitete sie unter anderem das Bundesmodellprojekt »Guter Start ins Kinderleben«.

Quelle
Ziegenhain, U. et al.: Auf den Anfang kommt es an (Handbuch und 2 DVD s). Materialien für Elternkurse, in Kooperation mit dem Familienministerium Rheinland-Pfalz. Vertrieb durch die Landeszentrale für Gesundheitsförderung unter:
www.lzg-rlp.de


Literaturtipp Ziegenhain, U. et al.: Lernprogramm Baby-Lesen.
Übungsfilme für Hebammen, Kinderärzte, Kinderkrankenschwestern und Sozialberufe.
Hippokrates, Stuttgart 2010
Buch und CD mit Kurzfilmen zu Fallbeispielen und Übungen



© 2013 Christiane Gelitz, Spektrum der Wissenschaft
Verlagsgesellschaft
mbH, Heidelberg

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Quelle:
Gehirn und Geist 9/2013, Seite 44 - 46
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2014