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MEDIEN/026: Fernsehen will gelernt sein (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 9/2008
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Fernsehen will gelernt sein

Von Alexander Grau


Von jeher beäugen Kinder- und Jugendschützer das Fernsehen kritisch. Sollten Eltern ihrem Nachwuchs den TV-Konsum besser ganz verbieten, wie Hardliner fordern? Nein! Denn einen kritischen Umgang mit dem Medium können Kinder nur lernen, indem sie es ausprobieren.


Beim Streitthema Fernsehen klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander: Einerseits distanziert man sich gern von der Flimmerkiste, die schließlich zur absoluten Verblödung der jüngeren Generationen führt - und wahrscheinlich am laufenden Band Psychopathen, Pädophile und Amokläufer produziert. Andererseits jedoch steht hier zu Lande in fast allen Haushalten ein TV-Gerät, in mehr als einem Drittel sogar zwei. Bald die Hälfte aller Kinder in Deutschland haben einen eigenen Apparat im Zimmer. Und schon von den Zwei- bis Dreijährigen sitzen fast 30 Prozent täglich vor der Mattscheibe.

An der hitzigen und mitunter auch unsachlich geführten Debatte sind Wissenschaftler nicht ganz unschuldig: TV-Konsum mache dick, dumm, aggressiv und gewalttätig, behaupten Fernsehgegner und führen Studien ins Feld, die diese Thesen belegen sollen. Einige Eltern verbieten ihrem Nachwuchs das Fernsehen rigoros, wohl mit gemischten Gefühlen: Schließlich sind die Helden der TV-Serien überall präsent und spätestens auf dem Schulhof ein wichtiges Gesprächsthema. Das schürt Befürchtungen, der Konsumverzicht könne die Sprösslinge sozial ausgrenzen.

Sinnvoller ist es in jedem Fall, Kinder an einen selbstständigen und kritischen Umgang mit dem Medium Fernsehen heranzuführen. Dabei lohnt es sich, die Forschungsergebnisse zu dessen Wirkung einmal genauer unter die Lupe zu nehmen: Welche Inhalte sind in welchem Alter bedenklich, welche nicht? Können Kinder von bestimmten edukativen Sendungen auch profitieren? Was und wie lange dürfen sie fernsehen?

Die klassische Medienwirkungsforschung steht in der Tradition von Neil Postmans (1931-2003) Bestseller »Wir amüsieren uns zu Tode« aus dem Jahr 1985. Darin machte der Medienkritiker das Fernsehen für den Verlust von moralischen Regeln und Schamgefühl verantwortlich. Das Problem der sozialpsychologischen Herangehensweise: Die Behauptungen lassen sich empirisch kaum untermauern. Nach wie vor existiert keine einzige Studie, die etwa einen Zusammenhang zwischen konsumierten Medieninhalten und der Formung des Charakters nachweisen könnte. Stattdessen erinnert die Diskussion an die Pauschalkritik, wie sie Kulturpessimisten seit Jahrhunderten vorbringen: Die moderne Gesellschaft wird eben immer oberflächlicher, infantiler und dümmer. Mag sein. Die Kritik an ihr wird allerdings auch nicht intelligenter.

Längst haben sich Medienforscher aber auch konkreten wahrnehmungs- und kognitionspsychologischen Fragen zugewandt. Dabei wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass der Hirnforschung als der von vielen proklamierten Leitwissenschaft eine wichtige Rolle zukommt. Die Sichtung der einschlägigen Studien der letzten Jahre zeigt jedoch, dass sich die meisten Untersuchungen nach wie vor klassischer psychologischer Methoden bedienen. Experimente dazu, wie sich die »Rezeption« von TV-Inhalten bei Kindern auf neuronaler Ebene auswirkt, sind kaum zu finden. Schon deshalb sollte Argumenten von der Sorte »Die Hirnforschung zeigt, ...« mit Skepsis begegnet werden. Die Neurowissenschaften erklären, was die Medienwirkung auf Kinder betrifft, bisher eher wenig.

Wie also können wir die kognitiven, emotionalen oder sozialen Folgen des Fernsehens auf Kinder und Jugendliche einschätzen? Dazu gilt es zuerst einmal, zu verstehen, wie sich die kindliche Medienkompetenz entwickelt. Schließlich will selbst das Verstehen eines einzelnen Bilds zunächst einmal »gelernt« sein, ganz abgesehen von kompletten Filmen.

Die allerersten Erfahrungen mit dem Fernsehen macht ein Mensch bereits im Mutterleib. Schon der Fötus reagiert mit besonderer Bewegung auf mediale Einflüsse wie Musik. Bis in den achten Schwangerschaftsmonat hinein spiegelt er dabei wohl hauptsächlich die Gefühle der Mutter. In den letzten beiden Monaten der Schwangerschaft scheint das Kind allerdings auch unabhängig von ihr aktiv zu werden. Dabei »lernt« es sogar pränatal wiederkehrende musikalische Motive, wie der irische Verhaltensforscher Peter G. Hepper von der Queen's University in Belfast schon Anfang der 1990er Jahre beobachtete. So beruhigten sich Säuglinge, sobald die Titelmelodie der Lieblingsserie ihrer Mutter erklang, die diese während der Schwangerschaft gesehen hatte.

Richtig interessant wird das Fernsehen aber erst ab dem fünften Monat nach der Geburt. In diesem Alter sind Kinder fasziniert von Bewegung und Farben. Sobald sie krabbeln können, scheinen sie von dem laufenden Flimmerkasten geradezu magisch angezogen. Vermutlich ist der Apparat für Säuglinge zu diesem Zeitpunkt aber vor allem ein Quell interessanter visueller und akustischer Reize. Welche mentale Leistung das Verstehen von Fernsehen fordert, wird deutlich, wenn man neun Monate alte Babys dabei beobachtet, wie sie nach einem Gegenstand auf der Mattscheibe greifen: Sie haben noch keine Vorstellung davon, dass ein Bild nur etwas »repräsentiert«.


Wie lange schauen Kinder fern?
Alter
in Jahren
Sehdauer in Minuten pro Tag
in Deutschland (2007)
3-5
6-9
10-13
    ab 14
73
83
101
223

Hoher Kuschelfaktor

Am häufigsten schauen Klein- und Vorschulkinder zusammen mit ihren Eltern fern - zum gemeinsamen Vergnügen. Etwas seltener dient Fernsehen als »Notbeschäftigung« (etwa bei Regenwetter).
(nach einer Umfrage unter 459 Müttern, Götz et al., 2007)



Kein Verständnis für Symbole

Im Lauf des zweiten Lebensjahrs lernen Kinder, Fernsehfiguren auseinanderzuhalten, fangen an, sie zu imitieren und mit Bezugspersonen darüber zu sprechen. Sie akzeptieren, dass Ernie und Bert nicht im Fernsehapparat wohnen und erfassen allmählich, dass die Bedeutung von Bildern unabhängig von der Realität ist, die sie umgibt. Bevor sich diese »Symbolkompetenz« nicht ausgebildet hat, ist das bewusste Nutzen von Medien so gut wie unmöglich.

Eine fernsehspezifische Fähigkeit, die Vorschulkinder nach und nach erwerben, ist die Unterscheidung von Programmformaten. Laut einer 2006 publizierten Untersuchung der Medienpsychologin Gerhild Nieding von der Universität Würzburg beginnen schon Fünfjährige, Reklame im Kinderprogramm von anderen Sendungen zu unterscheiden - was schwieriger ist, als es zunächst scheint, denn die Werbeprofis agieren dabei oft sehr geschickt mit bekannten Filmfiguren. Dennoch tippten die Kleinen in den Versuchen öfter richtig als falsch, dass es sich bei einem gezeigten Filmchen um einen Werbespot handelte.

Aber Vorsicht: Selbst wenn ein besonders gewitzter Fünfjähriger sogar schon recht gut wissen mag, wie Reklame aussieht - das Verständnis für deren manipulative Absicht, also Produkte möglichst attraktiv darzustellen, um sie zu verkaufen, entwickeln die meisten Kinder erst später. Der Entwicklungspsychologe Michael Charlton von der Universität Freiburg beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Medienkompetenz von Kindern. Ihm zufolge verstehen nur sechs von zehn Fünfjährigen die Absicht von Werbung. »Um Formate oder Genres richtig identifizieren zu können«, erklärt Charlton, »bedarf es sowohl eines medienbezogenen als auch eines gesellschaftlichen Wissens. Beides ist im Vorschulalter erst sehr rudimentär entwickelt.«


Wie TV-Helden in Wirklichkeit leben

Auch das Vermögen, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden, entwickelt sich erst nach dem Schuleinstieg. Es wächst mit den Fähigkeiten Symbole und Metaphern zu verstehen, so ergab eine soeben abgeschlossene Studie der Universitäten Würzburg und Chemnitz. Demnach glauben noch Achtjährige, dass etwa der Zoodirektor in einer Serie auch im wahren Leben im Zoo arbeitet und der Polizeikommissar noch Verbrecher jagt, wenn der Fernseher ausgeschaltet wird. Allerdings kämpfen mit derlei Verwirrungen anscheinend auch noch Erwachsene, sonst wäre der Schauspieler Jürgen Wussow alias Professor Brinkmann wohl nicht jahrelang mit Bitten um medizinischen Rat überhäuft worden.

Geschichten werden in Fernsehen und Kino oft nicht chronologisch erzählt, sondern mit Hilfe abrupter Szenen- und Perspektivwechsel, Parallelmontagen, Rückblenden und anderer Techniken. Wer diese filmsprachlichen Mittel nicht versteht, kann die Handlung kaum nachvollziehen.

Einfache »Close-ups«, also das Wechseln von einer Totalen zur Großeinstellung, können schon die meisten Vierjährigen richtig interpretieren: Sie geben korrekt an, dass das Objekt nur näher gerückt und nicht etwa gewachsen ist. Anspruchsvollere filmische Techniken wie Parallelmontagen vermögen jedoch meist erst Zehnjährige sicher nachzuvollziehen.

Vorschulkinder haben hingegen offensichtlich Schwierigkeiten, komplexere Erzähltechniken, die den chronologischen Ablauf der Ereignisse durchbrechen, zu entschlüsseln und aus ihnen eine sinnvolle Geschichte zu bilden. So ist kaum ein Vierjähriger in der Lage, einer Handlung mit Rückblenden zu folgen, wie der Medienforscher Robert Abelman von der Cleveland State University bereits in den 1980er Jahren erkannte. Von den Achtjährigen können das schon fast 90 Prozent.

Auch unspektakuläre »Tricks«, die Erwachsenen gar nicht als solche auffallen, verstehen Kinder oft erst gegen Ende des Grundschulalters. Ein Beispiel sind unscharfe Bilder als Symbol dafür, dass das Gezeigte nur einen Traum des Protagonisten darstellt. Laut einer 2001 publizierten Untersuchung des Kommunikationsforschers Johannes Beentjes von der Universität Njimwegen begreift lediglich jeder zweite Fünf- bis Sechsjährige, dass verschwommene Bilder für einen Traum stehen: Es handelt sich um eine filmsprachliche Konvention, die man eben erst lernen muss. Daher sollten Eltern sich nicht darauf verlassen, dass ihre Sprösslinge bedrückende Inhalte in derart verfremdeten Szenen distanzierter wahrnehmen. Kinder verstehen schlicht nicht, dass es sich hier nur um fiktionale Bilder handeln soll. Rationalisierende Erklärungen der Erwachsenen (»Schau mal, das war doch nur ein Traum ...«) erreichen die kleinen Zuschauer kaum mehr, wenn die gesehenen Bilder bereits starke Emotionen ausgelöst haben.


Angst vor dem lieben Monster

Zudem nehmen Kinder im Grundschulalter einzelne Filmabschnitte meist sehr selektiv wahr, sie »picken« sich einzelne Episoden heraus und betrachten sie nicht im Rahmen der ganzen Geschichte: Einzelne ängstigende oder bedrohliche Szenen würden nicht durch entlastende Filmabschnitte aufgefangen, erklärt Helga Theunert, Direktorin des Münchner Institutes für Medienpädagogik in Forschung und Praxis.

Auch welche Inhalte Angst auslösen, ist stark vom Alter der Zuschauer abhängig. So lassen sich jüngere Kinder eher vom bloßen Aussehen einer Figur ängstigen als durch deren Handeln. Joanne Cantor von der University of Wisconsin in Madison konnte dies in einer Reihe von Studien zeigen: Das Monster im Zeichentrickfilm mag noch so lieb und gutherzig sein. Wenn es hässlich oder bedrohlich aussieht, werden sich Vorschulkinder vor ihm fürchten. Erst für ältere Kinder lässt die Bedeutung des Äußeren allmählich nach.

Ähnlich verhalte es sich mit der Fiktionalität, so die renommierte Medienpsychologin. Je älter Kinder werden, desto weniger bedrohlich erscheinen Szenen oder Geschichten, die in der Wirklichkeit nicht vorkommen können. Zugleich wächst aber das Ängstigungspotenzial von Filminhalten, die der Lebenswelt der Kinder entstammen - aus diesem Grund ist bei Reality-TV-Sendungen Vorsicht geboten.

Auch Szenarien, deren Verständnis ein gewisses Abstraktionsvermögen verlangt, wirken auf ältere Kinder oft bedrückender als auf jüngere. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Film »The Day After«, der die Auswirkungen eines Atomkriegs auf den Menschen schildert. Eine Umfrage von Joanne Cantor zeigte, dass der Film, als er 1983 im amerikanischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, Kinder ab zwölf Jahren stärker beunruhigte als jüngere Zuschauer.

Welche TV-Inhalte eine Bedrohung für die kindliche Psyche darstellen, ist also eine Frage des Entwicklungsstands des Kinds. Eltern sollten daher versuchen, sich in dessen Perspektive zu versetzen, wenn sie das Angstpotenzial von Filmen einschätzen. Sonst kommt es schnell zu Fehlurteilen - als Klassiker dafür gilt unter Medienpsychologen »Bambi«: Aus Erwachsenensicht ein wunderbarer Familienfilm mit niedlichen Bildern eines süßen Rehkitzes, aus der Kindperspektive nahezu ein Horrorstreifen, wird doch im Verlauf des Films Bambis Mutter von Jägern erschossen. Der Verlust der Eltern ist in der kindlichen Vorstellungswelt die denkbar größte Katastrophe. Zudem schafft weder die Zeichentricktechnik noch die Tatsache, dass Bambi »nur« ein Tier ist, für Kinder genügend Distanz: Sie sehen ein schutzloses Kind und seine getötete Mutter - eine nachhaltig verstörende Erfahrung.

Generell gilt es darauf zu achten, dass Kinder keine Inhalte konsumieren, die Urängste wecken - wie eben den Verlust der Eltern. Auch dürfen Angstsituationen nicht dramatisiert werden oder ohne Happy End bleiben. Gleich alte Identifikationsfiguren sollten nicht in stark bedrohliche oder ausweglose Situationen geraten. Schutzpersonen, wie Eltern, sollten Herr der Lage sein und nicht selbst verängstigt oder machtlos wirken.

Untersucht man Angstreaktionen fernsehender Kinder genauer, stellt sich häufig heraus, dass die Auslöser sehr persönlich sind: So fürchtet sich Leon vielleicht vor Vögeln, weil ihn kürzlich eine Taube angeflogen hat, Lisa dagegen fängt aus unerfindlichen Gründen an zu weinen, wenn die Stimme von Fernsehfiguren verzerrt klingt oder ein Echo hat.

Eltern sollten also auch immer das individuelle Angstempfinden ihres Kindes im Blick haben. Das bestätigt auch der Freiburger Psychologe Charlton: »Im Alter von vier Jahren kommen Tier- und Monsterängste gehäuft vor. Dabei sind viele Kinder von entsprechenden Darstellungen erschreckt, andere dagegen genießen eine gewisse Angstlust.«

Dass Kinder diese Angstlust beim Fernsehen suchen, hat einen guten Grund: So lernen sie, mit ihrer Furcht umzugehen. Deshalb ist es auch nicht sinnvoll, ihnen gruselige Sendungen gänzlich vorzuenthalten. Wichtig ist allerdings, dass Kinder auf einen guten Ausgang vertrauen können. Rasch lernen sie Gesetze des jeweiligen Genres (»Bei den Power Rangers gewinnen immer die Guten«). Filme, die diese Gesetze unterlaufen, verunsichern Kinder und sind für sie ungeeignet. Auch sollten Sendungen oder Filme dramaturgisch so gestaltet sein, dass die jungen Zuschauer die Chance haben, aktiven »Selbstschutz« zu betreiben - sich etwa rechtzeitig die Augen zuzuhalten, wenn es brenzlig wird.


Macht Mediengewalt aggressiv?

Wenn das Fernsehen ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik gerät, so betrifft es fast immer Gewaltdarstellungen: brutale Schlägereien, martialischer Waffengebrauch, ästhetisierender Waffenfetischismus, schwere Körperverletzung und Waffeneinwirkung in Zeitlupe und Großaufnahme. Laut dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) müssen die Sender durch Einschränkung der Sendezeiten dafür sorgen, dass ihre Angebote Kinder und Jugendliche nicht in ihrer Entwicklung zu einer »eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit« beeinträchtigten. Daher hat der Verein »Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen« FSF (siehe Kasten) »übermäßig ängstigende« Inhalte, Gewaltverherrlichung und die Vermittlung falscher Werte, im Fachjargon »sozialethische Desorientierung« genannt, in den Mittelpunkt seiner Prüfungsordnung gerückt.


Freiwillige Selbstkontrolle

Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) ist ein gemeinnütziger Verein der privaten Fernsehanbieter in Deutschland, der durch Programmbegutachtung die Belange des Jugendschutzes im Privatfernsehen durchsetzen soll. Zu diesem Zweck prüft die FSF von den Sendern vorgelegte jugendschutzrelevante Programme. Im Jahr 2006 waren dies 912 Sendungen - vorwiegend Serienfolgen, Fernseh- und Spielfilme, aber auch Werbetrailer oder Videoclips. Die FSF hat eine eigene Hotline, bei der sich Zuschauer über den Jugendmedienschutz informieren, aber auch eventuell jugendgefährdende Fernsehinhalte melden können:
Telefon: 03023 08 36 22, www.fsf.de


Wie aber wirkt mediale Gewalt auf Jugendliche überhaupt? Einige Forscher vermuten, drastische Gewalt führe zur Abstumpfung, andere, in den Köpfen der jungen Zuschauer könne sich ein von Furcht bestimmtes Weltbild festsetzen, oder die gezeigten Taten stifteten zur Nachahmung an. Die Frage nach der Wirkung von medialer Gewalt ist wissenschaftlich nicht leicht zu beantworten. Denn entscheidend ist, wie die Gewaltszenen in die Gesamtgeschichte eingebunden sind. Dies aber wird in Laborversuchen in der Regel nicht berücksichtigt: »Ohne den Kontext, in dem Gewaltdarstellungen stehen, kann man zu deren Verarbeitbarkeit keine Aussage machen«, bemängelt Medienpädagogin Theunert - jener könne sowohl verstärken, als auch relativieren. Sicher ist: Das dramaturgische Umfeld kann nur dann abschwächend wirken, wenn es auch verstanden wird: »Deshalb entlasten komödiantische Einbindungen nicht zwangsläufig - Kinder verstehen Satire einfach noch nicht.«

Jugendliche dagegen machen sich häufig einen Spaß daraus, extrem blutige Szenen anzusehen und zu testen, was sie »verkraften« können - dies erklärt die Beliebtheit so genannter Splattermovies (siehe links) bei Teenagern. Grenzgänge gehören zur normalen Entwicklung und sind nicht gleich ein Indiz für erhöhte Gewaltbereitschaft. Die immer wieder verbreitete Ansicht, gewalthaltige Medieninhalte verursachten aggressives Verhalten, ist in dieser Einseitigkeit nicht zu halten. Zwar besteht nach dem aktuellen Stand der Forschung durchaus ein Zusammenhang zwischen medialem Gewaltkonsum und individueller Aggression. Allerdings wird dieser nach Ansicht der meisten Wissenschaftler vor allem durch Faktoren des familiären Umfelds vermittelt: Gewalt im Elternhaus, Vernachlässigung, Perspektivlosigkeit.

Bei »gefährdungsgeneigten« Jugendlichen - wie diese im Jugendschutzjargon genannt werden - können mediale Vorbilder aber tatsächlich ein aggressives Weltbild bestätigen, ja es verstärken und zur Nachahmung auffordern. Dazu taugt dann allerdings auch schon ein »normaler« Actionfilm, wenn er ein schlicht gestricktes Wertesystem vermittelt. »Solche Filme spielen häufig mit Ideologien wie: 'Der Zweck heiligt die Mittel' oder: 'Im Dienst des Guten ist Gewalt gut'«, warnt Theunert. Dabei zeigt sich jedoch immer wieder, dass der problematische Medienkonsum gefährdungsgeneigter Jugendlichen nie Ursache, sondern Folge einer Fehlentwicklung ist. Und die hat ihren Grund nicht in der medialen, sondern in der realen Welt.


Kein Tabubruch ohne Normen

Für Grundschulkinder ist ein klares Gut-Böse-Schema wichtig. Das beugt Ängsten vor und verhindert, dass bei dem Kind der Eindruck entsteht, alle Menschen könnten Böses im Schilde führen. Kinder in diesem Alter bevorzugen von sich aus moralisch einwandfreie Leitfiguren. Doch wie sieht es bei Jugendlichen aus? Übernehmen sie von Filmhelden tatsächlich rassistische, sexistische oder Gewalt verherrlichende Einstellungen? Oder sind Medien schlimmstenfalls dazu in der Lage, ein schon vorhandenes Potenzial zu verstärken? Auch hier stellt sich die Frage: Was ist Ursache, was Wirkung?

Nach Einschätzung von Psychologen ist das Wertesystem eines Menschen mit 12 bis 14 Jahren relativ gefestigt. Genau deshalb haben Jugendliche Spaß am gelegentlichen Tabubruch - den sie mit Hilfe der Medien begehen. Ein Beispiel sind Sendungen wie »Jackass« (zu deutsch sinngemäß »Schwachkopf«), in denen die Protagonisten mit Flüchen und sexistischen, diskriminierenden Scherzen nur so um sich werfen.

Im Großen und Ganzen wird der mediale Einfluss überschätzt - im Guten wie im Schlechten. Moralisch gefestigte Teenager sind durchaus in der Lage, distanziert mit medialen Tabubrüchen umzugehen. Umgekehrt macht Gutmenschenpädagogik im Film aus einem Hooligan keinen lammfrommen Kirchentagsbesucher.

Größer noch als die Angst, einen kleinen Amokläufer heranzuziehen, ist bei vielen Eltern jedoch die Sorge, durch Fernsehen würden ihre Kinder verdummen. Auch hier hilft eine nüchterne Betrachtung: Natürlich schreibt man keine besseren Mathearbeiten, wenn man den ganzen Nachmittag vor der Glotze hängt. Ähnliches gilt aber auch für das Rumtoben auf dem Bolzplatz - selbst wenn Bewegung gewissermaßen auch die grauen Zellen auf Trab bringt: Gute Noten bekommt nur, wer für das betreffende Fach lernt.

Daher sollten Eltern mit ihren Kindern ein festes TV-Zeitbudget vereinbaren. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen empfiehlt: Kinder zwischen drei und fünf sollten nicht länger als eine halbe Stunde pro Tag fernsehen, Sechs- bis Neunjährige nicht mehr als 45 Minuten, noch ältere nicht länger als 60. Tatsächlich kommen verschiedene Studien zu dem Schluss, dass Kinder, die langfristig mehr als eineinhalb Stunden pro Tag vor der Kiste sitzen, Defizite entwickeln: Diese »Vielseher« hinken in ihren schulischen Fähigkeiten häufiger hinterher. Der Züricher Lernpsychologe Daniel Süß betont: »Fernsehen wirkt sich dann negativ auf das kindliche Lernen aus, wenn nach der Schule sofort erstmal ferngesehen und kein zeitliches Limit eingehalten wird. Oft ist dann das Fernsehen auch eine Flucht vor Lernschwierigkeiten.«


Nutzloses Baby-TV

Können Kinder von ausgewählten Lernsendungen nicht auch profitieren? Beobachtungen an Kleinstkindern verliefen enttäuschend: Zweijährige scheinen durch Fernsehen mental nicht gefördert zu werden. Lernprogramme wie »Baby-Einstein« bleiben bei ihnen wirkungslos, bei unter 16 Monate alten Kindern bremsten sie gar den Spracherwerb, wie ein Team um Frederick Zimmerman von der University of Washington in Seattle 2007 herausfand.

Offenbar sind die Kleinsten zur geistigen Entfaltung zu stark auf die Zuwendung echter Menschen angewiesen. Zwei Forscher von der University of Tokyo zeigten 2006 in einem neurowissenschaftlichen Experiment, dass die Gehirne sechs- bis siebenmonatiger Babys auf einen »Vormacher« im Fernsehen ganz anders als auf wirkliche Menschen reagieren. Manipulierte eine physisch anwesende Frau ein Spielzeug, spiegelten die motorischen Hirnareale der Kleinen deren Bewegungen nämlich wider. Hantierte dieselbe Frau nur auf dem Bildschirm, blieb der Effekt aus.

Kleinkinder eignen sich die Welt durch begreifen, schmecken und ausprobieren an, erklärt Maya Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI): »Der Fernsehkonsum nimmt ihnen viel Zeit weg, die sie anders förderlicher verbringen könnten.« Vorschulkinder dagegen lernen bereits nachweislich von altersgerechten pädagogischen Sendungen: Vierjährige etwa, die regelmäßig Sesamstraße sahen, konnten besser Farben identifizieren, bis 20 zählen, Buchstaben erkennen und Geschichten erzählen. Neuere Studien belegen unter anderem eine erhöhte Lesebereitschaft durch geeignete Sendungen. »Fernsehen muss das Lesen nicht verdrängen«, meint auch Süß. »Gerade Mädchen lesen oft gern, auch wenn sie relativ viel fernsehen. Die Kinder suchen sich dann ihre Interessen und Lieblingsfiguren in verschiedenen Medien.«

Auf jeden Fall sollten Eltern die Qualität der Sendungen im Auge behalten. Über diese können sie sich zum Beispiel im Internet informieren (siehe Kasten). Mindestens ebenso wichtig ist es, dass Vater oder Mutter die Flimmerkiste nicht als Babysitter missbrauchen, sondern mit ihren Kindern die Sendungen zusammen anschauen. »Gemeinsam fernsehen und sich danach über das Gesehene im Gespräch auszutauschen, ist ein wichtiger Beitrag zu einem bewussten und konstruktiven Umgang mit Medien«, so Daniel Süß.


10 Tipps für Eltern

1. Planen Sie das Anschauen von Sendungen gemeinsam mit den Kindern.
2. Interessieren Sie sich für die Medienvorlieben Ihrer Kinder, respektieren Sie deren eigenen
   Geschmack.
3. Fernsehgeräte sind keine Babysitter: Schauen Sie gemeinsam mit den Kindern und sprechen Sie
   hinterher mit ihnen darüber, was schön und was schlecht war.
4. Verzichten Sie auf einen Apparat im Kinderzimmer!
5. Fernseherlaubnis oder -verbot eignen sich nicht als Belohnungs- oder Strafmittel.
6. Achten Sie auf die Altersfreigaben von Sendungen.
7. Ist Ihr Kind durch einen Film verunsichert, geben Sie ihm die Möglichkeit, diese Erfahrungen
   einzuordnen, etwa durch Rollenspiele mit Puppen.
8. Zwischen dem Fernsehen und dem Zubettgehen sollte mindestens eine halbe Stunde liegen.
9. Kinder zwischen 3 und 5 Jahren sollten pro Tag nicht länger als eine halbe Stunde, zwischen
   6 und 9 nicht mehr als eine Dreiviertelstunde, ab 10 Jahren maximal eine Stunde
   vor dem Fernseher verbringen.
10. Seien Sie auch hinsichtlich Ihres Fernsehverhaltens ein Vorbild.

(nach »Geflimmer im Zimmer«, Broschüre des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2008)


Letztlich ist es das Verhalten der Eltern, das den größten Einfluss auf die Fernsehgewohnheiten der Kinder hat. Wer den ganzen Tag »Desperate Housewifes« schaut, weil das so angesagt ist und auch unter jungen Akademikern als eine Art Kulturveranstaltung durchgeht, darf sich nicht wundern, wenn das eigene Kind lieber »Power Rangers« sieht, als zum Bilderbuch zu greifen. Denn auch mit Blick auf das Fernsehen gilt: Die Eltern sind nun einmal die wichtigsten Vorbilder.


Alexander Grau ist promovierter Philosoph und hat zahlreiche Aufsätze zu medienwissenschaftlichen Themen verfasst.


Mehr Infos im Internet: Das dürfen Kinder sehen!

Auf zahlreichen Onlineseiten finden sich medienpädagogische Hinweise, Tipps für Eltern zur Programmauswahl und zur allgemeinen Mediennutzung über das Fernsehen hinaus. Interessant ist die Seite www.flimmo.de des Vereins »Programmberatung für Eltern e.V.« und www.br-online.de/jugend/izi/ des Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI).

Hinweise zu einzelnen Sendungen geben die Seiten der einschlägigen Kindersender wie www.kika.de oder www.tivi.de. Zu Fragen des Jugendmedienschutzes allgemein informiert das Kinderhilfswerk auf www.dkhw.de und auf einer Seite für Kinder: www.kindersache.de.


Literaturtipps

Batinic, B., Appel, M. (Hg.): Medienpsychologie. Springer, Heidelberg 2008.
Götz, M.: Fernsehen von -0,5 bis 5. in: televizion 20 (1), S. 12 - 17, 2007.
Kunczik, M., Zipfel, A.: Gewalt und Medien. Ein Studienhandbuch. Böhlau (UTB 2725), - Köln 2006.
Lerchenmüller-Hilse, H., Hilse, J.: Kinder und Fernsehen. Was, wann, wie oft, warum überhaupt? Humboldt, München 1998.
Rogge, J.U.: Kinder können fernsehen: Vom Umgang mit der Flimmerkiste. Rowohlt, Reinbek 1999.
Rogge, J.U.: Ängste machen Kinder stark. Rowohlt, Reinbek 2001.


Weitere Literatur finden Sie unter:
www.gehirn-und-geist.de/artikel/962818.

Weitere Artikel zum Thema in GEHIRN&GEIST 9/2008:
- Safer surfen - Wie schützen wir unsere Kinder vor den Gefahren im Internet?
- Daddel dich schlau? - Lernsoftware für die Jüngsten

Diesen Artikel als Audio-Datei finden Sie unter:
www.gehirn-und-geist.de/audio


© 2008 Alexander Grau, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 9/2008, Seite 16-23
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2008