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SOZIALES/118: Eltern-Kind-Verhältnis - Zurücklächeln nicht selbstverständlich (MünchnerUni Magazin)


MünchnerUni Magazin 02/2009
Zeitschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München

"Zurücklächeln ist nicht selbstverständlich"


MUM: Herr Brisch, wie sieht eine sichere Verbindung zwischen Eltern und Kind aus?

Brisch: Wissenschaftlich lässt sich die Bindung mit einem speziellen Untersuchungsdesign ab dem 12. Lebensmonat des Kindes prüfen - dazu gehört unter anderem der international anerkannte "Fremde Situation"-Test: Kind und Mutter befinden sich dabei in einem unbekannten Spielzimmer. Eine Babysitterin kommt herein, die Mutter verlässt den Raum. Ein sicher gebundenes Kind wird weinen und versuchen, der Mutter zu folgen. Kommt die Mutter herein und tröstet ihr Kind, beruhigt es sich nach ein bis zwei Minuten und spielt weiter. So sieht eine "sichere Bindung" aus.

MUM: Was kann eine sichere Bindung stören?

Brisch: Bindungsmuster werden auf der Verhaltensebene von Generation zu Generation tradiert - aber eben auch Störungen. So verspürt nicht jede Mutter den natürlichen Reflex, ihr weinendes Kind zu trösten und auf den Arm zu nehmen. Eine traumatisierte Mutter kommt damit nicht zurecht, schimpft oder schlägt es sogar. SAFE soll helfen, solche negativen Muster zu durchbrechen. Dass Fehler in der Säuglingserziehung über mehrere Generationen vererbt werden können, zeigen auch die Sorgen der Eltern, die in den Kursen zur Sprache kommen. Auf die Frage, wovor sie Angst haben, geben überraschend viele Eltern an: Dass wir das Kind zu sehr verwöhnen. Eine typisch deutsche Sorge. Bindungsforscher glauben, dass dieser Unsinn noch auf ein Standardwerk für Mütter während der Zeit des Nationalsozialismus zurückgeht, das Eltern anleitete, wie man ein Baby möglichst früh und konsequent in seinen ganz grundlegenden Bedürfnissen nach Nähe, Schutz und Kontakt frustriert.

MUM: Warum brauchen Kinder eine "sichere Bindung"?

Brisch: Viele Entwicklungsvorteile basieren auf einer sicheren emotionalen Bindung. "Sicher gebundene" Kinder zeigen unter anderem mehr prosoziales und weniger aggressives Verhalten, sind empathiefähiger, kreativer und ausdauernder bei Leistungsanforderungen. Zudem zeigen sie bessere kognitive Fähigkeiten und können schwierige Situationen flexibler bewältigen. Aber eine sichere emotionale Bindung - vergleichbar mit dem Urvertrauen - ist nicht nur das Fundament einer gesunden emotionalen, sondern auch geistigen und körperlichen Entwicklung. Kinder, die unter Bindungsstörungen leiden, produzieren weniger Wachstumshormone und bleiben deshalb kleiner. Außerdem produzieren ihre Körper weniger neuronales Wachstumshormon, das für die Vernetzung der Gehirnzellen zuständig ist. Nervenzellen, die nicht vernetzt werden, sterben wieder ab. Bindung fördert damit auch Bildung.

MUM: Wie kann man die Bindung stärken?

Brisch: Die Eltern erfahren in den Kursen zum Beispiel, was ihr Säugling in welcher Phase seines jungen Lebens schon kann. Einem vier Wochen alten Baby ein Bilderbuch zu zeigen, ist sinnlos. Weil Kinder in diesem Alter mit den Augen instinktiv nach ovalen Formen mit Punkten und Strichen suchen - Gesichtern eben. Ab der sechsten Woche beginnen Babys "sozial" zu lächeln. Nicht alle Eltern lächeln reflexhaft zurück - zum Beispiel, weil sie es in ihrer Kindheit auch nicht anders erfahren haben. Ein Feinfühligkeitstraining hilft dabei, es zu lernen.

Eine wissenschaftliche Pilotstudie hat ergeben: Es funktioniert - sogar bei Eltern, die auf traumatische Ereignisse und eine Bindungsstörung in der eigenen Kindheit zurückblicken. Nach der Pilotstudie wird nun eine prospektive randomisierte Längsschnittstudie erhoben, um die Wirksamkeit von SAFE noch zuverlässiger zu testen.

MUM: Reichen die Eltern als enge Bezugspersonen aus?

Brisch: Nein. Kinder brauchen mehr enge Bezugspersonen als eine oder zwei. Wir raten Eltern dazu, das Bindungsnetz zu erweitern. Das können Oma und Opa sein, Freunde der Familie, die Patentante. Ein sicheres Bindungsnetz bildet die Kinder zu sozial kompetenten Menschen heran.


PD Dr. Karl Heinz Brisch


Entwickelt wurde das SAFE-Programm von PD Dr. Karl Heinz Brisch (s. Interview S. 9). Brisch, geboren 1955, ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Er wirkt außerdem als Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Gruppen. Als Oberarzt leitet Dr. Brisch die Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie an der Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU. Sein Forschungsschwerpunkt reicht von der frühkindlichen Entwicklung bis hin zur Entstehung von Bindungsprozessen und ihren Störungen. Brisch ist deutscher Vorsitzender der Deutschsprachigen Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit (GAiMH e.V.).


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Quelle:
MünchnerUni Magazin 02/2009, Seite 9
Herausgeber: Präsidium der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2009