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BERICHT/036: Migrationswissenschaftliche Fragen - Mahnungen ... (SB)


NGfP-Kongress untersucht tatsächliche Fluchtursachen und klagt an
Kritik auch an einer zahmen und weitgehend utopielosen Linken in Deutschland

Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) "Migration und Rassismus. Politik der Menschenfeindlichkeit" vom 3. bis 6. März 2016 in Berlin


"Die KongressteilnehmerInnen sehen keine Anstrengungen der politisch Verantwortlichen, die Fluchtursachen tatsächlich zu beseitigen. Denn dies hieße für Nato und EU im Nahen Osten und Afrika wirtschaftliche und politische Einflussnahme, kriegerische Interventionen und Waffenlieferungen zu beenden." So steht es in einer Erklärung, die beim Kongress "Migration und Rassismus. Politik der Menschenfeindlichkeit" am 5. März in Berlin einmütig verabschiedet wurde.

In einer weiteren Stellungnahme wird dem Gesetzgeber vorgeworfen, durch das Asylpaket II die Gefahr einer erneuten Traumatisierung von Geflüchteten und einer erheblichen Verschlimmerung des Krankheitsbildes billigend in Kauf zu nehmen. Wörtlich heißt es: "Das Asylpaket II belegt, dass es nicht um eine unvoreingenommene Prüfung von Asylanträgen, sondern nur um rasche Abschiebung geht. Es ist ein alarmierender Beweis für die menschenfeindliche Politik gegenüber Geflüchteten und MigrantInnen, die wir entschieden verurteilen."

Eine ganze Reihe von Referenten und Teilnehmern hätten das wohl noch zugespitzter, präziser, kämpferischer ausgedrückt, aber vielleicht hätten beide Papiere dann nicht die Zustimmung von mehr als 200 Teilnehmern erhalten. Insofern lieferte der Kongress ein Beispiel dafür, wie man zu Beschlüssen kommt und handlungsfähig wird, ohne sich gegenseitig Abweichungen von der vermeintlich einzig richtigen Sicht der Dinge an den Kopf zu werfen.

Das Kongressprogramm, über das Schattenblick ausschnittweise bereits berichtet hat, widmete sich vielen Aspekten von Migration und Rassismus. So wies der Sozialanthropologe Cluse Krings nach, dass die zunehmend ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen in Teilen der Bevölkerung nicht etwa einer Epidemie ähnlich ausbrach, sondern von Politik und Medien systematisch erzeugt wurde durch Sprüche wie "Wer betrügt der fliegt", "Wir sind nicht das Sozialamt der Welt", "Die Deutschen haben ein Recht auf Widerstand gegen Überfremdung" oder die These, die Silvesternacht in Köln sei ein Weckruf, nach dem der Rechtsstaat sich anders aufstellen müsse. Auch die Medienwissenschaftlerin Prof. Dr. Annett Schulze lieferte in ihrem Beitrag viele Belege für die systematische Konstruktion einer Bedrohung durch einseitige Auswahl von Informationen und Angst schürende Wortwahl in vielen Beiträgen auch der sogenannten Leitmedien. Sie verwies zudem auf die Homogenisierung der Flüchtlinge, der Anderen, denen ein nationales WIR gegenübergestellt werde; das ganze flankiert durch furchterzeugende Bilder entweder von geballten Massen oder bedrohlich wirkenden Gruppen finster blickender junger Männer.

Viel Raum widmete der Kongress den tatsächlichen Fluchtursachen, die von der Politik und den meisten Medien nicht oder falsch benannt würden. Der Historiker Dr. Kurt Gritsch tat das anhand von Beispielen einseitiger und falscher Darstellung der Entwicklung in Libyen und Syrien, die beide zu den fünf Staaten gehören, für die das Pentagon einen Regimewechsel plane. Die Medien erweckten seinerzeit den Eindruck, eine friedliche Opposition protestiere gegen den Diktator Gaddafi. Von Tausenden Toten war die Rede. Kurze Zeit danach griff die NATO ein, angeblich um friedliche Zivilisten zu unterstützen und in Libyen Menschenrechte und Meinungsfreiheit für alle Bürger durchzusetzen. In Wahrheit protestierte nicht die friedliche Zivilgesellschaft, sondern der Bengasi-Clan, der enge Kontakte in die USA unterhielt und das Land seit langem spalten wollte und damit geschwächt hätte. In Wahrheit starben vor dem Eingreifen des Westens einige hundert Menschen, durch das Eingreifen aber 30.000. In Wahrheit störten Gaddafis Politik gegen den Internationalen Währungsfonds, seine Bemühungen um die Schaffung eines Afrikanischen Währungsfonds, seine Verhandlungen mit Gazprom über Exklusivförderrechte zu Weltmarktpreisen. Außer um Öl ging es auch um den Zugriff auf die riesigen unterirdischen Wasserreserven und die Wiedererrichtung der Militärstützpunkte, von denen Gaddafi Engländer und Amerikaner vertrieben hatte.

Die NATO berief sich bei ihrer Intervention auf die positiven Erfahrungen im Kosovo. Und die Masse der deutschen Medien hinterfragte nicht, welche das gewesen sein sollen. Stattdessen drängten sie die NATO regelrecht zum Eingreifen. Am Ende stürzte Libyen von Platz 53 des HDI (Human Development Index ) ab auf das "failed state"-Niveau.

Auch wenn sich der Verlauf der Dinge in Syrien anders gestaltete - auch Syriens Präsident Assad wurde dämonisiert, als Psychopath hingestellt, es wurden Massendemonstrationen erfunden und Fortschritte nach Gesprächen mit der Opposition geleugnet. Ein Schelm, der Böses dabei denkt, dass bald darauf eine unheilige Allianz aus den Golfstaaten, der Türkei und dem IS den Regime-Wechsel mit eingeschleusten Kämpfern, europäischen Waffen und massiver Propaganda durch die Moslembruderschaft betrieb. Diese Propaganda wurde von deutschen Medien zu großen Teilen übernommen. Am Ende wurde suggeriert: Wer wegschaut macht sich schuldig.

Schuldig - so belegten mehrere Referenten - haben sich diejenigen gemacht, die zum Krieg antrieben und entweder selbst oder durch ihre Verbündeten intervenierten. Schuldig machte sich die Bundesregierung auch, als sie noch im Herbst 2015 an den Geldern für Hilfsorganisationen wie das UNHCR sparen wollte. Die Früchte ernten wir jetzt in Gestalt der Flüchtlinge. Sie werden zu einer bedrohlichen Welle erklärt. Dabei hat Deutschland von den weltweit geschätzten 60 Millionen Flüchtlingen 2014 nur 0,4 und 2015 ganze 1,83 Prozent aufgenommen. Gemessen an der Bevölkerungszahl liegen wir selbst in Europa erst an sechster Stelle. Diese und weitere Fakten lieferte Prof. Elisabeth Rohr. "Würden hier prozentual so viele Flüchtlinge wie im kleinen Libanon aufgenommen werden, wären das 20 Millionen!", sagte sie.

Worüber geraten also Politiker, Journalisten und viele Bürger in Panik? Haben sie alle schon vergessen, dass Deutschland durch seine Kriege im vorigen Jahrhundert 30 Millionen Flüchtlinge erzeugt hat? Haben sie vergessen, dass es selbst dem durch den Krieg zerstörten Deutschland gelang, 40 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufzunehmen und trotzdem oder auch deshalb heute die stärkste Wirtschaftsmacht in Europa ist? Wird ausgeblendet, dass die deutsche und europäische Handelspolitik in Afrika seit Jahrzehnten die "Wirtschaftsflüchtlinge" produziert, die man jetzt als Sozialschmarotzer verunglimpft und um jeden Preis von Deutschlands Grenzen fernhalten will?

"Wollten WIR das wirklich? Oder wollten nicht wir es, sondern unsere Politiker", fragte eindringlich Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder, Vorsitzender der NGfP. "Wollten wir, dass Syrien ,ausblutet', allein zum dem Zweck, Russland seines letzten Verbündeten zu berauben und damit des letzten Hafens, der ihm im Mittelmeer offen steht? Wollten wir, dass die USA dadurch die Schlinge enger ziehen können, die sie um Russland legen, das einzige Land, das den Alleinherrschaftsansprüchen der USA derzeit noch entgegentreten kann? Wollten wir, dass mit billigen Arbeitskräften die Machtstellung Deutschlands weiter ausgebaut wird?" Er forderte auf, stärker darüber nachzudenken, inwieweit die Staatsraison bereits zur Richtschnur des eigenen Denkens geworden ist.

Die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Linken, Ulla Jelpke, warf der Bundesregierung vor, alles andere zu tun als Fluchtursachen zu bekämpfen, indem sie Staaten willkürlich zu sicheren Herkunftsorten erklärt, Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa zu stoppen oder in die Türkei umzuleiten versucht. Sie kritisierte zudem die verschärfte Asylgesetzgebung und die darin verankerten verstärkten Abschiebemöglichkeiten. Da würde auch kein Trostpflaster in Form einer Härtefallregelung helfen; "Jedes Kind, das flieht, ist ein Härtefall!", so Jelpke unter starkem Beifall der Teilnehmer. Symptomatisch nannte sie die Tatsache, dass Flüchtlingspolitik im Innenausschuss des Bundestages angesiedelt ist, der sich vor allem mit Problemen der Sicherheit befasst. Mit anderen Worten: schon strukturell würden Flüchtlinge in diesem Land zum Sicherheitsrisiko erklärt.

Wie konnte es so weit kommen, fragte Klaus-Jürgen Bruder die Teilnehmer des Kongresses, und fuhr fort: "Das ist nicht nur den Herrschenden zuzuschreiben und ihrer Macht über die Medien und Stammtische. Es ist auch Ausdruck der Schwäche der Linken, der kritischen Kräfte im Land. Es ist Ausdruck ihrer Staatsfixiertheit und Angepasstheit. Die Linken sind ja nicht schwach, sie sind zahm, überwiegend utopielos und bürgerlich!" Nur einer von 100, vermutet er, würde über die Kritik an politischen Einzelentscheidungen Hinausgehendes und etwas gegen den Kapitalismus sagen wollen. Es sei an der Zeit, die eigene Verantwortung zu reflektieren.

8. März 2016


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