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BERICHT/039: Überraschung inbegriffen - fremde Werte ... (SB)


Für meine Tochter will ich kein Looser sein
Wenn die Ausbildung zum Sozialassistenten ein Schritt weg von der Kultur der Vorfahren ist

Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) vom 9. bis 12. März 2017 in Berlin: "Gesellschaftliche Spaltungen - Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit"


Tarek - wir nennen ihn hier so - ist Palästinenser. Seine Familie stammt aus Libanon. Er ist in Deutschland geboren, 30 Jahre alt und Vater einer kleinen Tochter. Vor wenigen Wochen hat er an einer privaten Fachschule in Berlin die Ausbildung zum Sozialassistenten abgeschlossen und strahlt vor Stolz. Bis vor zwei Jahren hatte er nur einen Hauptschulabschluss, diverse Jobs, bei denen er entweder scheiterte oder rausgemobbt wurde. Dann heiratete er und wurde Vater. Und damit wurde (fast) alles anders. "Die Schule habe ich gehasst, die Lehrer auch, und sie hassten mich. Meine Freunde und ich waren stolz, wenn wir sie hinderten, Unterricht zu machen; wir waren jung und dumm. Ich kann vieles nicht und denke, man sieht es mir an, und man sieht mich so an." Er nennt das sein "Hauptschulgesicht". Seine Tochter sah ihn nie so an; für sie war er der liebevolle, starke Vater. Für sie vor allem wollte er ein Vater mit einem richtigen Berufsabschluss werden und kein "Looser" sein. Mit der Abschlussnote 2,1 hat er das jetzt geschafft und mit ihm ein ganzer Jahrgang, bestehend aus jungen Menschen zwischen 15 und 30 Jahren.

Mehr als 50 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund, die meisten sind in Deutschland geboren. Viele von diesen haben Mütter, die nach Jahrzehnten in Deutschland kaum ein Wort deutsch sprechen. Ihre Töchter dolmetschen für sie, wenn sie zum Amt oder zum Arzt müssen. So abhängig wollen die Schülerinnen und Schüler an dieser Schule niemals sein. Sie alle haben jetzt einen sozialen Beruf erlernt, der in ihren Kulturen wenig anerkannt ist. Schon damit gehören sie zur Vorhut ihrer Generation, indem sie erkannt haben, dass in diesem Land eine Ausbildung das A und O ist. Jedes an der Fachschule beginnende neue Semester vereint mehr Nationalitäten, mehr Glaubensrichtungen. KurdInnnen, BosnierInnen, Jugendliche aus Afghanistan, arabischen Ländern, aus Russland, Polen und anderen europäischen Staaten sind darunter. Einfach ist das nicht, berichtet Dr. Regina Girod, die an der Schule sozialpsychologische Themenfelder unterrichtet, beim Kongress "Gesellschaftliche Spaltungen - Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit" der Neuen Gesellschaft für Psychologie in Berlin im März. Wer an dieser Fachschule aufgenommen werden will, muss mindestens einen Hauptschulabschluss haben. Die Ausbildung qualifiziert die Teilnehmer für eine assistierende Tätigkeit in der Pflege, Betreuung oder Erziehung. Gleichzeitig wird dabei der mittlere Schulabschluss nachgeholt. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind gut angesichts des Personalmangels in Pflegeeinrichtungen. Die Verdienstmöglichkeiten sind es nicht, es sei denn, man sieht in ihr eine Basis für eine weitere berufsbegleitende Ausbildung. Einige ihrer Schüler wollen das. Dass sie diese Ausbildung vor zwei oder mehr Jahren begonnen haben, zeigt, wie viele Schritte sie und ihre Eltern bereits im Sinne des deutschen Wertesystems gegangen sind. Das hat Geld gekostet, es hat Ausdauer erfordert, hat Einfluss auf die Familien.


Unterricht mit Aha-Erlebnissen

Die Erfahrung an dieser Fachschule und während des zur Ausbildung gehörenden Praktikums in einer Pflegeeinrichtung hat das Leben für viele Schülerinnen und Schüler verändert und das nicht nur durch das erworbene Fachwissen. "In meinem Unterricht behandle ich u.a. Themen wie die Entstehung und Funktion gesellschaftlicher Normen und Werte oder die Frage, wie der Mensch sein eigenes Wertsystem entwickelt." Allein zu verstehen, dass jeder junge Mensch diesen Prozess durchmacht, überall auf der Welt, dass er in mancher Hinsicht wie seine Eltern, in anderer Hinsicht ganz anders sein will, sich an anderen Erwachsenen oder Freunden orientiert und so ein Wertsystem allmählich entsteht, sei für manche Schülerinnen und Schüler eine Offenbarung gewesen. Eine Verständigung darüber, welche Werte und Normen für den einzelnen bestimmend sind und warum es gerade die geworden sind, hat ihnen geholfen, sich und andere besser zu begreifen.

"Die Werte und Normen in unserer Umgebung gehören zu einer Kultur. Wer aus einer anderen weit entfernt liegenden Kultur stammt, ist mit einem in mancher Hinsicht anderen Wertesystem und häufig mit erheblich anderen Normen groß geworden. Wenn er diese Sozialisation nun noch einmal mit den Normen und Werten einer anderen Kultur in seiner eigenen Person zu einer neuen Einheit zusammenführen soll, ist das eine große Herausforderung." Das erlebt Regina Girod bei ihren Schülern. Sie leben zwischen zwei, manche sogar zwischen drei Kulturen.


Ausgrenzung verhindert die Akzeptanz von Normen und Werten

Da die Fähigkeit zur Selbstreflexion grundlegend für die Arbeit in sozialen Berufen ist, lässt der Lehrplan Raum zur Diskussion individueller Sozialisationserfahrungen. Gerade für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sei dies eine wichtige Erfahrung, ganz anders als die Vermittlung deutscher Werte in Integrationskursen oder auf Apps für Flüchtlinge und Migranten. "Viele Leute stellen sich vor: Wir bringen diesen Menschen bei, welche Normen bei uns gelten, welche Werte für uns wichtig sind, so wie man Schülern Rechnen beibringt. Wer aufpasst, lernt schnell das Einmaleins, wer im Unterricht mit seinem Handy spielt oder Rechnen für überflüssig hält, lernt es nicht, übernimmt also auch keine Normen und Werte. Aber so funktioniert das nicht. Normen und Werte sind das Rückgrat von Gemeinschaften, sie machen Kooperation und Kommunikation möglich. Das notiert man sich nicht und lernt es dann auswendig. Man übernimmt vielmehr in einem Prozess die Normen und Werte von Gruppen, zu denen man gehört und mit denen man kooperieren muss." Das Gerede von der Weigerung, sich "unseren" Normen anzupassen, ist aus Girods Sicht Unfug. "Wenn man (noch) nicht dazu gehört oder ausgegrenzt und abgewertet wird, kann man das Wertesystem nicht übernehmen. Wozu sollte man? Die Reihenfolge ist eine andere. Nicht der Fremde übernimmt mal rasch unsere Werte, und dann akzeptieren wir ihn (vielleicht), sondern wir nehmen ihn auf, nehmen ihn an in seiner Verschiedenartigkeit, und nach und nach übernimmt er als Teil der Gemeinschaft mehr und mehr unserer Werte und Normen. Die Deutschen fragen sich zu wenig, was sie selbst für eine gelingende Akkulturation machen müssen, fordern aber von der anderen Seite eine nicht leistbare Anpassung."

Ihre Schülerinnen und Schüler haben sich im Unterricht und in persönlichen Gesprächen geöffnet, erzählt Regina Girod. Sie haben über ihre frühere Arbeit in der Gastronomie oder auf dem Bau gesprochen, wo die Mindeststandards des deutschen Arbeitsrechts nicht eingehalten wurden. Sie waren nicht krankenversichert, bekamen keinen Urlaub, nicht mal der Mindestlohn wurde gezahlt. Die Firmeninhaber wussten genau, wie sehr sie eine Arbeit brauchen und beuteten sie gnadenlos aus. "Meine Schüler erlebten Formen von Entwertung und Ausgrenzung sowohl in staatlichen Einrichtungen als auch im Arbeitsleben. Mir ist durch sie bewusst geworden, wie stark die Erfahrungen mit Abwertung, Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland immer wieder erleben, ihren Wertbildungsprozess beeinflussen."


Eine hochentwickelte Gesellschaft wie unsere könnte es Migranten leicht machen - sie tut es nicht

Viele Deutsche hätten Berichte wie diese ja nie gehört, weil sie mit "solchen Jugendlichen" niemals redeten. Ihr ist bewusst, dass Erfahrungen wie die geschilderten in einer Gesellschaft, in der der Mensch nach der Verwertbarkeit seiner Fähigkeiten beurteilt wird und wo alle, die nicht besonders verwertungsfähig scheinen, schon mal abgewertet werden, systembedingt ist. "Das ist die Menschenfeindlichkeit des Kapitalismus. Aber richtig ist auch, dass solche Erfahrungen alle machen, die in andere Kulturen einwandern - außer sie haben viel Geld. Die Frage ist, macht es ihnen die Gesellschaft schwerer oder leichter. Eine hochentwickelte wie unsere könnte es ihnen leichter machen, aber sie tut es nicht."

14. März 2017


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