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BERICHT/042: Überraschung inbegriffen - Selektion systemisch ... (SB)


Armut auf Rekordhoch - BIP auch
Ulrich Schneider fordert eine neue Aufklärung zur Mobilisierung der Benachteiligten

Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) vom 9. bis 12. März 2017 in Berlin: "Gesellschaftliche Spaltungen - Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit"


Während die Regierenden den Deutschen im Jahr der Bundestagswahl immer wieder einzureden versuchen, dass es ihnen noch nie so gut ging wie jetzt, holte der jüngste vom Paritätischen Gesamtverband in Kooperation mit anderen Verbändern herausgegebene Armutsbericht 2017 alle, die ihn zur Kenntnis nahmen, wieder auf den Boden der Tatsachen herunter. Die Armut in Deutschland befindet sich auf einem neuerlichen Rekordhoch. Armuts- und Wirtschaftsentwicklung gehen auf eine fast schon perverse Weise Hand in Hand. Während das Bruttoinlandsprodukt von 2010 bis 2015 von 2,5 Billionen auf 3 Billionen Euro stieg, erhöhte sich im gleichen Zeitraum die Armutsquote von 10,4 auf 15,7 Prozent. Dem Eröffnungsredner beim Kongress der NGfP über "Gesellschaftliche Spaltungen", Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, gingen die Zahlen leicht über die Lippen, war der Bericht doch erst wenige Tage vor dem Kongress veröffentlicht worden. Wer es noch nicht wusste, erfuhr von Ulrich Schneider, dass zehn Prozent der über 18jährigen in Deutschland überschuldet und perspektivlos sind und das Land mit 13 Millionen Menschen heute die höchste Armutsquote in seiner Geschichte hat. Wenn Politiker und Vertreter der Wirtschaft dagegen hielten, dabei handele es sich nicht um Armut, sondern um die durchaus wünschenswerte und notwendige Ungleichheit, die den Motor der Entwicklung ausmache, dann verwechselten sie - so Schneider - absichtlich Armut mit Elend, ignorierten Freudlosigkeit und Abgehängt-Sein, worunter besonders Kinder litten.

Schneider warf einen Blick zurück auf die Jahre von 1980 bis 2017, in denen der Staat sich mehr und mehr aus seiner sozialstaatlichen Verantwortung zurückzog, z.B. aus Wohnungsbau, Energie- und Wasserversorgung, und seine Hauptaufgabe immer mehr darin sah, die besten Bedingungen für die besten Renditen zu schaffen. "Wenn in unserer Demokratie tatsächlich alle Macht von Volke ausginge", so Schneider, "und das Ergebnis dessen ist, dass 10 Prozent der Bevölkerung rund drei Viertel des gesamten Vermögens und Jahr für Jahr rund 40 Prozent des gesamten Einkommens unter sich aufteilen, dann muss es sich entweder um ein Volk großartiger Humoristen oder großartiger Trottel handeln." Wie es so weit kommen konnte ohne massiven Widerstand der Millionen Benachteiligten, versuchte Ulrich Schneider an dem von Medien und einigen vermeintlich unabhängigen wissenschaftlich arbeitenden Stiftungen betriebenen neoliberalen Feldzug deutlich zu machen. "Die Neoliberalen beherrschen das diskreditierende Spiel mit der Sprache perfekt. Und immer ist es der angebliche Gegensatz von Sachlichkeit und Ratio auf der einen Seite und Irrationalität auf der anderen Seite, der das Grundmuster bildet." Wem die Nöte von Menschen am Herzen lägen, wer Empathie zeige, werde zum "Gutmenschen" erklärt und der Lächerlichkeit preisgegeben, nachdenkliche Menschen zu Bedenkenträgern umgemünzt. "Was vor allem störte und deshalb ausgeräumt werden musste, war der Gerechtigkeitsbegriff. Die Neoliberalen verwandelten die Gerechtigkeitsdebatte in eine Neid-Debatte." Für diese Beschimpfung bedurfte es nicht einmal mehr einer Begründung, wurde sie nur oft genug wiederholt. Und die meisten Medien agierten nach Schneiders Worten bei dieser Verdummung durch Sprache eifrig mit.

Der Begriff "Wettbewerb" gelte inzwischen völlig unreflektiert als positiv, dabei kreiere die Konkurrenz im Kapitalismus Millionen Arbeitslose sowie prekär Beschäftigte und erzeuge zig Insolvenzen. Auch Redewendungen, die viele Menschen bereits tief verinnerlicht hätten, gelte es zu hinterfragen: Es heißt "Eigentum ist unantastbar". Wieso fragt niemand, ob seine Entstehung diesen Satz rechtfertigt? Es heißt auch "Schulden muss man immer zurückzahlen". Wieso eigentlich? Ist das, was Eltern ihren Kindern trotz einer finanziellen Notlage schulden - Fürsorge, Bildung, ein Zuhause - nicht wichtiger als das, was sie der Bank schulden? "Was wir brauchen", betonte Schneider, "ist eine neue Aufklärung, die Besinnung auf den eigenen Verstand, ein Selbstbewusstsein, das sich durch angebliche Kapazitäten nicht ins Bockshorn jagen lässt."

Um diese Aufklärung bemühten sich Referenten und Teilnehmer während der folgenden Kongresstage.

14. März 2017


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